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       # taz.de -- Arbeitskampf wird lokal: Lieferando klagt gegen Betriebsrat
       
       > Bremer Lieferando-Fahrer*innen haben ihren eigenen Betriebsrat gewählt.
       > Das soll Interessenvertretung sichtbarer machen und auf die lokale
       > Situation ausrichten.
       
   IMG Bild: Wollen sich lokal organisieren: Lieferando-Fahrer*innen, hier im Weihnachtseinsatz
       
       Bremen taz | Eine als Lieferando-Fahrer*in verkleidete Vogelscheuche weist
       den Weg ins Kommunikationszentrum Paradox. Draußen ist es unter null,
       drinnen gibt es Glühwein, Cola, Süßes und erwartungsvolle Aufbruchstimmung.
       In der Ecke steht eine aus Tischen gebaute Wahlkabine. Vereinzelt kommen
       Fahrer*innen, manche machen nur schnell ihr Kreuz und verschwinden wieder.
       Manche bleiben, man kennt sich – es gibt in Bremen nur 70 Fahrer*innen
       des Essenslieferdienstes Lieferando.
       
       Der Weg zu dieser ersten lokalen Betriebsratswahl war lang und das
       Wichtigste ist geschafft: Sie findet statt. Der Betriebsrat Nord, in dem
       sechs Städte zusammengelegt waren, hat ausgedient. Aus Sicht der
       Beschäftigten ist es nötig, den Arbeitskampf im Lokalen zu führen, um
       sichtbarer und näher an der Situation der Fahrer*innen zu sein.
       
       Seit 2017 [1][kämpfen die Kurier*innen der Lieferbranche für bessere
       Arbeitsbedingungen,] fordern einen Mindestlohn von 15 Euro, bezahlte
       Diensträder und -handys, eine korrekte Lohnabrechnung. Die Liste ist lang.
       
       „[2][Lieferando nutzt das aus,] dass die meisten, [3][vor allem
       migrantische Fahrer*innen nicht wissen, welche Rechte sie haben]; dass
       sie Pausen einfordern dürfen und diese bezahlt werden müssen; dass sie sich
       Hilfe von den Gewerkschaften und dem Betriebsrat holen können,“ sagt Poshan
       Khanal, der seit knapp zwei Jahren in Bremen ausliefert.
       
       ## Arbeitszeiten nicht korrekt erfasst
       
       Er geht jetzt vor Gericht, weil seit Januar dieses Jahres die Abrechnungen
       seiner Arbeitszeiten nicht korrekt sind. Wenn Khanal eine Suppe im Rucksack
       ausläuft, meldet er eine Pause an und fährt eine Stunde nach Hause, macht
       sein Equipment sauber, um wiederum eine Stunde zurück ins Liefergebiet zu
       fahren. Diese Zeit fehle dann auf der Abrechnung.
       
       Anders als in Hamburg gibt es in Bremen keinen „Hub“, keinen Pausenraum,
       keine Zentrale, in der sich die Fahrer*innen über den Weg laufen und in
       Kontakt kommen können. Der niederländische Aktienkonzern Just Eat Takeaway,
       dem Lieferando gehört, stellte sich nach Auskunft der Wahlvorstände in der
       Vorbereitung der Wahlen quer, verzögerte Antworten auf Anfragen, stellte
       keinen Arbeitsraum zur Verfügung und verhinderte die digitale Kommunikation
       unter den Fahrer*innen.
       
       Ein Sprecher von Takeaway nimmt dazu Stellung: „Wir haben den Wahlvorstand
       im Bremer Liefergebiet pragmatisch und kulant unterstützt, selbst bei der
       Beschaffung von Räumlichkeiten ohne Einhaltung der üblichen Prozedere mit
       dem dafür zuständigen Facility-Team oder der Erstattung von Unkosten
       außerhalb der in Unternehmen üblichen Beschaffungs- und Erstattungsregeln.“
       
       Wie mobilisiert und organisiert man eine Belegschaft, die in ihren
       Schichten kaum etwas miteinander zu tun hat? In der mehr als die Hälfte
       kein Deutsch, manche kaum Englisch sprechen? Zweisprachige Schulungen und
       das Übersetzen von Gesetzestexten sind zwar aufwendig, aber machbar.
       
       ## Mobilisierung schwierig
       
       Auch die Gewerkschaften müssen neue Strategien finden, wie sie die Aktiven
       der digitalen Unternehmen unterstützen können. „Das ist die gelebte
       Demokratie im Kleinen“, findet Julia Celikkilic von der [4][Gewerkschaft
       Nahrung-Genuss-Gaststätten] (NGG), die dem Wahlvorstand seit einiger Zeit
       Büroräume und Infrastruktur zur Verfügung stellt, „die Leute hier sind so
       leidenschaftlich und fit“.
       
       Am Ende des Abends wird ein Viertel der 70 Bremer Kurier*innen gewählt
       haben. Viele sind im Urlaub in diesen Tagen, doch gültig ist die Wahl auch
       so. Lieferando hat angekündigt, die Wahl anzufechten, da „zu klären bleibt,
       wie eine Mitbestimmung außerhalb des Betriebs und seiner Strukturen
       umsetzbar sein kann“.
       
       Argumentiert wird, dass Bremen keine eigenständige Betriebseinheit sei, da
       es keine feste Niederlassung vor Ort gäbe. Das ist laut dem Anwalt des
       Betriebsrates, Ralf Salmen, ein generelles Problem der dezentralen
       digitalen Unternehmen. Das Betriebsverfassungsgesetz müsse in Hinblick
       darauf angepasst werden.
       
       Wahlvorstand Tobias Horoschko, der seit Jahren im Gesamtbetriebsrat aktiv
       ist, weiß aus Erfahrung, dass eine Anfechtung nicht das Ende sein muss. Er
       will weiterkämpfen, zur Not Neuwahlen ausschreiben. „Die machen nur Druck,
       die wollen uns einschüchtern“, sagt er. „Aber wir sind bereit.“ Am 28.
       Dezember wird der neue Betriebsrat seine konstituierende Sitzung haben.
       Solange die Wahl beim Arbeitsgericht angefochten wird, das könne rund ein
       Jahr dauern, ist das Gremium im Amt.
       
       22 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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