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       # taz.de -- Chaos Computer Club: Nicht jammern, hacken!
       
       > Der weltweit größte Hacker*innen-Kongress fand an vielen Orten
       > gleichzeitig statt. Es ging um Kunst, Privatsphäre – und ein Datenleck
       > des US-Militärs.
       
   IMG Bild: Raketen bauen ist keine „Rocket Science“
       
       Nirgendwo und überall auf einmal taz | Die singenden Roboter auf dem
       Schrottplatz sind verzweifelt. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen als
       Coffeebots sind traurig. Sie fragen sich: Wer steckt hinter der „Firma“,
       die alle(s) kontrolliert? Es handelt sich um ein Marionettentheaterstück
       mit Puppen aus umgebauten Espressokochern, mit dem Titel [1][„Never Mind
       the Gigwork“]. Die Show war Teil des Abendprogramms bei der
       Jahresendversammlung des Chaos Computer Clubs, die in den letzten fünf
       Tagen des Jahres 2022 stattgefunden hat. Der Verein, kurz CCC, ist einer
       der größten Player in Sachen IT-Sicherheit, eine Plattform, wo
       Hacker*innen sich austauschen und gemeinsam an Projekten arbeiten und
       dabei Politik und Wirtschaft immer wieder kontrollieren.
       
       Die Espressobot-Marionetten stehen dabei ziemlich genau für den Charakter
       dieser Institution. Der Künstler hat die Puppen aus Dingen gebaut, die
       einfach da sind, er hat sie auseinandergenommen, sie mit Fahrradketten,
       Schrauben, anderen Metallen neu verlötet und den Einzelteilen somit einen
       neuen Charakter gegeben, sie mit Geschichte gefüllt. Er hat die
       Espressomaschinen gehackt und aus ihnen ein kritisches Stück über die
       Bedeutung von Technik für Arbeit und Leben gemacht. Das ist Hacking. Es ist
       gleichzeitig verspielt und todernst, kindisch und erwachsen, saublöd und
       intelligent.
       
       Seit 1984 gibt es den CCC-Kongress, mal fand er in Hamburg statt, mal in
       Berlin, mal in Leipzig. Er wurde zur weltweit größten Zusammenkunft für
       Hacker*innen. Er füllte die Zeit zwischen den Jahren und im Regelfall
       riesige Hallen.
       
       Doch seit Corona ist das anders. Schon [2][2021 fand der Kongress als
       „Remote Experience“ statt], die Vorträge, Musik, Unterhaltungen liefen
       digital. Die große Zusammenkunft in einer Messehalle: abgesagt. 2022 ist
       beim Kongress erneut alles dezentral, obwohl es eigentlich anders werden
       sollte. Doch Mitte Oktober erklärte der CCC: Es sei lange darüber
       diskutiert worden, bevor man sich entschied, den Kongress als
       Präsenztreffen abzusagen. „Wenn eine mögliche Veranstaltung nicht unserem
       Anspruch an die Ungezwungenheit, Sicherheit und Freiheit eines Congress
       gerecht wird, bröckelt auch die Motivation der Community, sich dafür
       ehrenamtlich zu engagieren“. Also rief der CCC lokale Gruppen dazu auf,
       dezentral und unabhängig Events zu organisieren. Das taten sie. [3][Von
       Aalen bis Athen, von Berlin bis Bern, von Unna bis New York]. Jede Gruppe
       stellte ihr eigenes Programm zusammen und präsentierte es auf den eigenen
       Websites, es war unübersichtlich.
       
       ## Was das US-Militär unter Datenschutz versteht
       
       In Potsdam hieß die Reihe „[4][Reconnect to Chaos]“, es ist die erste
       öffentliche Veranstaltung, die in den Räumlichkeiten der dortigen Gruppe
       stattfindet. „Gebt uns noch einen Moment, dass sich das alles ein bisschen
       einruckeln kann“, sagt Matthias Javob (cyroxx) bei der Eröffnung. Er steht
       vor einer Wand aus Flaschen, die abwechselnd in bunten Farben leuchten.
       „Dann wird das eine schöne Sache.“ Dann schickt er die Besucher*innen
       los. Die vor Ort Anwesenden ins Hack-Center, um dort zu basteln und zu
       löten, die Zugeschalteten in den Stream.
       
       Einige Gruppen präsentierten eine Auswahl ihrer Events im gemeinsamen
       Stream. Sie widmeten sie sich dem, wofür der Kongress und der CCC steht:
       gemeinsames Tüfteln, Diskussionen, Vorträge und mindestens ein großer
       Knall, der auch jene Menschen erschrecken sollte, die sich sonst wenig mit
       Technik auseinandersetzen.
       
       In Berlin standen am Dienstagmittag Menschen namens snoopy, kantorkel und
       Starbug vor der Kamera und präsentieren ihre „Einkäufe des Jahres“:
       [5][Geräte, mit denen die US-Armee in Afghanistan die biometrischen Daten
       von zig afghanischen und irakischen Menschen erfasst hat]. Die bekamen die
       Sicherheitsforscher vom CCC ganz einfach bei Ebay, erzählen sie – inklusive
       der Daten, die sie darauf finden konnten: Namen, Fotos, Iris-Scans,
       Fingerabdrücke, die geografischen Orten, an denen diese privatesten
       Informationen des menschlichen Körpers erhoben wurden. [6][Laut
       CCC-Aussagen] fanden sie auf den Geräten, die bezeichnend „Hiide“ und
       „Seek“ (von „Versteckspiel“) heißen, die Daten von über 2.600 Menschen.
       
       Daten, die – wenn sie denn überhaupt erhoben werden – höchste Sicherheit
       verdienen und nicht, für ein paar Hundert Euro im Internet frei zum Verkauf
       angeboten zu werden. Denn mit ihnen lässt sich auch nachvollziehen, welche
       Menschen für das Militär gearbeitet haben, und damit auf der schwarzen
       Liste der Taliban stehen dürften. Seit 2012 waren Tausende der Geräte im
       Einsatz. Geschützt wurden die Daten offenbar mit einem Standard-Passwort –
       welches praktischerweise in der mitgelieferten Bedienungsanleitung stand.
       
       ## Was die EU so an Komplett-Überwachung plant
       
       Woanders ging es derweil um Auswirkungen von Technik auf Gesellschaften, um
       Kunst und um Ethik. Immer wieder tauchte das Thema Fediverse auf, ein
       dezentrales Social-Media-Netzwerk, das seit der Ära Elon Musk als
       Twitter-Alternative gehandelt wird. Es ging um [7][Technik in einer durch
       den Klimawandel dauerhaft geschädigten Welt], um gehackte Handys. Und um
       die Zukunft der Datensicherheit und -freiheit.
       
       Bereits 2023 könnte [8][die sogenannte Chatkontrolle] von der EU
       beschlossen werden. Die sieht vor, dass jede Kommunikation im Internet
       überprüft werden kann, um gegen die Verbreitung von Bildern vorzugehen, die
       sexualisierte Gewalt an Minderjährigen zeigen. Damit wäre jede
       Kommunikation, die nicht im Darknet stattfindet, angreifbar für staatliche
       Ausspähung.
       
       Kritiker*innen sehen die Chatkontrolle als enormes Risiko. Sollte die
       Chatkontrolle kommen, könnte sie zum größten Überwachungsinstrument werden,
       dem die Menschen in der EU je ausgesetzt waren. „Man versucht mit einer
       technischen Lösung eines gesellschaftlichen Problems Herr zu werden“, sagt
       Jurist Tom Jennissen, der für den Verein Digitale Gesellschaft arbeitet.
       
       Solche Überwachung wird häufig mit dem Argument „Ich habe ja nichts zu
       verbergen“ verteidigt. Dass dieses in vielen Fällen nicht gilt, zeigt ein
       Experte für IT-Sicherheit und Smartphone-Forensik namen Viktor. [9][Viktor
       klärte Aktivist*innen darüber auf, wie sie ihre Kommunikation und ihre
       Daten schützen können], und dadurch auch Aktivist*innen in anderen
       Ländern, mit denen man digital vernetzt ist. „Digitalisierung hat die
       Risiken von Aktivismus verändert“, erklärte er. „Heute gibt es das Risiko,
       dass man dadurch, wie man mit den Daten von anderen Aktivist*innen
       umgeht, dafür sorgt, dass diese anderen Menschen in anderen Kontinenten von
       der Polizei ins Gesicht geschlagen oder inhaftiert werden.“
       
       ## Wie man mit Zäunen und Hecken umgeht
       
       Das Ziehen von Grenzen der Privatsphäre einerseits, aber auch das
       Durchdringen von Barrieren sind Themen vieler Vorträge beim Kongress. Die
       einen versuchen, ihre Daten bestmöglich zu schützen, die anderen wollen
       Grenzen austesten und Regeln aufweichen.
       
       Gerne auch analog. Nahe dem Münchner Hauptbahnhof sprechen zwei Vortragende
       darüber, [10][was man auf Spaziergängen mit Hecken und Zäunen machen kann],
       wenn sie einem den Weg oder die Aussicht versperren. Dann zieht einer von
       beiden einen Bolzenschneider aus dem Ärmel. Als Künstler*innen hätten
       sie wenig Zeit, wenn ihnen auf ihren Spaziergängen etwas im Weg stehe,
       daher seien ihre Umgangsformen etwas brachialer.
       
       Anstatt noch länger zu jammern und unglücklich mit den eigenen Leben zu
       sein, muss man das System hacken – egal ob Software oder Hardware. Zu
       diesem Schluss kommen auch die singenden Espressobots und bauen am Ende
       eine Rakete, um zum Planeten der „Firma“ zu fliegen.
       
       31 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=6ZWkSqM6VsA&t=610s
   DIR [2] /Kongress-des-Chaos-Computer-Clubs/!5822189
   DIR [3] https://www.ccc.de/de/updates/2022/no-congress-2022
   DIR [4] https://www.ccc-p.org/rtc22/
   DIR [5] https://pretalx.c3voc.de/media/hip-berlin-2022/submissions/V7UFTL/resources/hip_hI56KB0.pdf
   DIR [6] https://www.ccc.de/de/updates/2022/afghanistan-biometrie
   DIR [7] https://pretalx.c3voc.de/hip-berlin-2022/talk/WHRJMW/
   DIR [8] /Plaene-der-EU-Kommission/!5852598
   DIR [9] https://pretalx.c3voc.de/hip-berlin-2022/talk/GDZNLP/
   DIR [10] https://media.ccc.de/v/jev22-651-lass_mich_durch
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Drosdowski
       
       ## TAGS
       
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