URI: 
       # taz.de -- Ist der Mensch ein Ding oder viele?
       
       > Das Stück von Showcase Beat Le Mot im Hebbel am Ufer ist ein
       > Gedankenexperiment vom Schöpfungsmythos bis zum Klimawandel
       
       Von Barbara Behrendt
       
       Bevor das erste Ding vom Himmel fallen kann, muss jemand in den Himmel
       aufsteigen, um es von oben abzufeuern. Und so beginnt der Abend mit einer
       leeren Bühne und dem Klang unsichtbarer Schritte, die Stufen nach oben
       schreiten. Wenn sie verklingen, fällt ein Stein. Ding Nummer eins. Eine
       Feder segelt herab. Ding Nummer zwei. Dann senkt sich ein Skelett langsam
       gen Bühne, bis die menschlichen Knochen mit einem Knall auf den Boden
       krachen. Das sind die Dinge 3 bis 58, wie eine digitale Anzeige verrät.
       
       Soll hier also eine Schöpfungsgeschichte erzählt werden – über einen Gott,
       der den Menschen unsanft auf die Erde befördert? Das ist zumindest eine der
       zahllosen Assoziationen, die dieses hübsche Fall-Experiment über 90 Minuten
       aufmacht. Und schon geht’s weiter. 77 Pingpong-Bälle hüpfen über den Boden,
       wir sind bei Ding 136. Dann fallen Buchstaben herab, eine Matratze,
       Gymnastikbälle – und ein Mikrofon, das am Kabel von rechts nach links
       schaukelt.
       
       Obwohl sechs Performer:innen mit dem Krimskrams auf der Bühne spielen,
       muss man eigentlich von Objekttheater sprechen: Die Dinge stehen im
       Zentrum, es ist nicht der Mensch. Gesprochen wird so gut wie nicht. Nur zu
       Beginn regt eine kleine Assoziationsreihe zum Nachdenken über Dinge und
       Worte an. Im Englischen heißen sie tool, toy, vegetables, lighter – im
       Deutschen ist alles „Zeug“: Werkzeug, Spielzeug, Feuerzeug. Zwischendurch
       versucht uns ein Performer mit einem gleißenden, pendelnden
       Riesenscheinwerfer zu hypnotisieren, damit wir der Welt berichten, wie toll
       diese Show und überhaupt das Leben ist. Davon abgesehen ist es ein stummes,
       kindlich schönes Agieren mit Objekten und Körpern und den Kräften, von
       denen sie in Bewegung gesetzt werden. Da ist etwa eine gigantische
       Murmelbahn, deren metallene Bahnen vom Menschen im Bühnenhimmel präzise
       koordiniert werden müssen, sodass die Kugel darin nicht auf den Boden
       donnert. Oder der Seilzug, an dessen Seiten jeweils ein Schauspieler hängt,
       der schwerere am Boden, der leichtere in der Luft, bis die Verhältnisse mit
       Gewichten ausgeglichen werden.
       
       Das Kollektiv Showcase Beat Le Mot hat sich vor über 25 Jahren an der
       Kaderschmiede des Freien Theaters, dem Institut für Angewandte
       Theaterwissenschaften in Gießen, gegründet. Seitdem hinterfragen die
       Performer:innen mit Witz die Traditionen des Theaters, manchmal auf
       abenteuerlichen Parcours durch eiskalte Nächte oder auf stundenlangen
       Schiffstouren. „1000 Things Falling“ inszeniert die Gruppe jetzt wieder
       konventionell im Theatersaal.
       
       So lax und unterspannt sich der Abend durch seine 1.000 fallenden Objekte
       bewegt, so komplex sind die physikalischen und philosophischen Themen, die
       er verhandelt – wenn man denn lange genug darüber nachdenkt. Wie beweglich
       ist Materie, wie starr ist der Mensch, ist eine Frage. Oder: Kann ein
       Wasserstrahl wirklich als nur ein Ding gerechnet werden? Wie zählt man
       Luft, wie Atem? Ab welcher Anzahl werden viele herabprasselnde Glassplitter
       ein einziges Klirren? Ist der Mensch eines oder viele Teile? Und verstellen
       uns die vielen technischen Objekte, mit denen wir uns täglich beschäftigen
       nicht die Sicht auf die Welt? Brauchen wir das alles, oder kann das weg?
       Und falls es wegkann – wohin?
       
       Vieles gerät an diesem etwas beliebig wirkenden Abend aus dem Takt und man
       wünschte sich, es würden vielleicht nur 500 Dinge aus dem Himmel fallen,
       bis das letzte bedeutungsschwangere Objekt, ein Mensch aus Metallstäben,
       endlich auf dem Boden aufschlägt. Doch wer sich auf diese Form des
       postmodernen Konzepttheaters einlassen kann, erlebt ein spielerisches,
       ironisches, in alle Richtungen uferndes Gedankenexperiment vom
       Schöpfungsmythos bis zum Klimawandel.
       
       Wieder am 9. und 10. Januar um 19 Uhr im Hebbel am Ufer 1
       
       9 Jan 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Behrendt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA