URI: 
       # taz.de -- Prozess nach Angriff auf Transfrau: Als sie aussagt, kaut er Kaugummi
       
       > Vor dem Hamburger Amtsgericht muss sich seit Dienstag ein 22-Jähriger
       > verantworten. Er soll im Sommer 2021 eine Transfrau bewusstlos geschlagen
       > haben.
       
   IMG Bild: Immer wieder kommt es zu Angriffen auf Transmenschen: Plakat beim CSD in Oldenburg
       
       Hamburg taz | Mehrmals eilt Samia Stöcker am Dienstag aus dem Gerichtssaal.
       Schon zu Beginn der Verhandlung vor dem Hamburger Amtsgericht wirkt die
       35-Jährige geschockt, als die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger des
       Angeklagten sie dazu befragen, was in der Nacht zum 17. Juli 2021 geschehen
       sein soll. Später in der Verhandlung verlässt Stöcker den Saal, weil die
       Belastung für die trans* Frau offenbar zu groß ist.
       
       Vor dem Hamburger Jugendschöffengericht muss sich der heute 22-jährige
       Fabio S. verantworten. Laut Anklage soll es zwischen S. und weiteren jungen
       Männern auf der einen Seite sowie Stöcker in jener Nacht auf der Reeperbahn
       erst zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen sein. Im weiteren
       Verlauf soll der ehemalige Kickboxer die trans* Frau mit einem Faustschlag
       ins Gesicht zu Fall gebracht haben.
       
       Stöcker hatte nach dem Fall auf den Hinterkopf das Bewusstsein verloren und
       erlitt einen Schädelbruch. Wegen dieses Vorfalls und eines weiteren ist
       Fabio S. wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen angeklagt.
       Angeklagt ist er auch noch, weil er sich an einem Messerangriff im
       Hamburger Stadtteil Billstedt beteiligt haben soll.
       
       Eine Zeugin berichtete am Dienstag, sie habe in jener Nacht auf dem Heimweg
       eine lautstarke Diskussion zwischen der trans* Frau und einer Gruppe junger
       Männer beobachtet. Ursache des Streits seien offenbar die Blicke der vier
       bis fünf jungen Männer gewesen, die auf einer Bank saßen, sagte die
       22-jährige Studentin. Die Zeugin war in jener Nacht mit Freunden auf der
       Reeperbahn unterwegs.
       
       ## Verbal hochgeschaukelt
       
       „Warum guckt ihr so?“, habe die trans* Frau gefragt. Sie habe mit dem
       Finger vor den Gesichtern der Männer gestikuliert. Die Situation habe sich
       verbal hochgeschaukelt. Die Männer hätten gesagt: „Wir wollen keinen
       Streit.“ Dann hätten beide Seiten mit leichtem Schubsen begonnen. Plötzlich
       sei ein weiterer Mann gekommen und habe der trans* Frau mit der flachen
       Hand oder einer Faust ins Gesicht geschlagen. Sie sei umgefallen, kurz
       darauf sei die Polizei da gewesen.
       
       Die Folgen des Schlags schildert Stöcker dem Gericht: Sie ist trans* Frau
       und arbeitete vor der Tat freiberuflich als Dragqueen. Zuletzt [1][trat sie
       im „ZDF-Fernsehgarten“ auf]. Seit der Tat könne sie nicht mehr in ihrem
       Beruf arbeiten. „Ich bin schwer traumatisiert und komme innerlich nicht mit
       der Situation klar.“ Die Stimme bricht Samia Stöcker mehrfach beim Erzählen
       weg: „Mein Kopf funktioniert nicht mehr“, sagt sie. Sie laufe gegen
       Schränke, habe Schwindel und Sehstörungen.
       
       An jenem Abend traf sie sich auf der Reeperbahn mit einer Bekannten zum
       Trinken. Nach Angaben des Verteidigers geht aus der Krankenakte hervor,
       dass sie zwei Stunden nach der Tat noch 1,6 Promille im Blut hatte. An den
       Vorfall selbst erinnert Stöcker sich nicht. Sie mache Pausen zwischen dem
       Trinken und sei erst wieder auf der Intensivstation im Krankenhaus
       aufgewacht. Dort habe sie von einer Polizistin von dem Geschehen erfahren.
       „Ich konnte das erst nicht glauben, ich kann mit Leuten auf der Straße“,
       sagt Stöcker.
       
       Im Krankenhausbett habe sie einen Tag später einen Bericht [2][auf
       Facebook] über den Vorfall veröffentlicht. Sie wolle ihr Gesicht für die
       trans* Community herhalten und ein Zeichen setzen. Es sei ihr ein Anliegen,
       [3][trans*-feindliche Übergriffe in die Öffentlichkeit zu tragen.] „Jede
       Bedrohung, jeder Angriff sollte zur Anzeige gebracht werden.“ Deshalb tritt
       sie bei der Verhandlung auch als Nebenklägerin auf.
       
       In jüngster Zeit kommt es vermehrt zu solchen [4][Angriffen auf trans*
       Menschen]. Trans* Mann Malte C. starb im August nach einer Attacke auf dem
       Cristopher Street Day in Münster. Der 25-Jährige stellte sich einem
       20-Jährigen entgegen, der Frauen bedroht hatte. C. schlug nach einem
       Faustschlag des Mannes mit dem Hinterkopf auf und starb später im
       Krankenhaus.
       
       In Bremen wurde [5][Anfang September vergangenen Jahres eine 57-jährige
       trans* Frau beleidigt und so geschlagen,] dass sie mit schweren
       Gesichtsverletzungen ins Krankenhaus musste.
       
       Zu den Vorwürfen wollte sich der Angeklagte am Dienstag im Gericht nicht
       äußern. Sein Anwalt versuchte dagegen mehrfach, die Glaubwürdigkeit der
       Aussagen Stöckers in Zweifel zu ziehen. So räumte sie auf Nachfrage des
       Verteidigers schließlich ein, dass sie entgegen anderslautender Aussagen
       nach der Tat wieder als Dragqueen aufgetreten sei.
       
       Der Beschuldigte Fabio S. kaute während der Befragung Stöckers Kaugummi und
       hörte ihren Aussagen betont gelassen zu – ohne eine Miene zu verziehen.
       Weil der Beschuldigte zur Tatzeit Heranwachsender war, findet der Prozess
       vor einem Jugendschöffengericht statt. Das Gericht hat zwei weitere
       Verhandlungstermine am 17. und 31. Januar angesetzt.
       
       11 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=hDLPLb-jqNo
   DIR [2] https://www.facebook.com/samiatshh/
   DIR [3] /Transfeindlichkeit/!5876069
   DIR [4] /Reaktion-auf-transfeindliche-Gewalt/!5889436
   DIR [5] /Demo-gegen-Queerfeindlichkeit/!5876481
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malek Tellissi
       
       ## TAGS
       
   DIR Trans-Community
   DIR Trans
   DIR Diskriminierung
   DIR Gericht
   DIR Strafprozess
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Gewalt
   DIR Transfeindlichkeit
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Trans-Community
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nach transfeindlicher Attacke in Hamburg: Sozialtraining für den Täter
       
       Ein Hamburger Gericht verurteilt einen 22-Jährigen wegen des Angriffs auf
       die Drag-Queen Samia Stöcker. Der Täter muss reflektieren und zahlen.
       
   DIR Verzögerung von Selbstbestimmungsgesetz: Zeit für Diskriminierung
       
       Das Selbstbestimmungsgesetz sollte trans Personen vor Entwürdigungen
       schützen. Doch es wird verzögert – und ist anfällig für Transfeindlichkeit.
       
   DIR Gewalt gegen LGBTIQ*-Community: Transfeindlichkeit bleibt hoch
       
       Seit 2020 gibt es ein berlinweites Monitoring zu queerfeindlicher Gewalt.
       Im zweiten Bericht lag der Fokus auf Transfeindlichkeit.
       
   DIR Aktivist über Transfeindlichkeit: „Wir lassen uns nicht verdrängen“
       
       Ein Bremer Bündnis ruft vor dem Trans* Day of Remembrance zur Demo auf.
       Aktivist*in Finn Müller begründet, warum Sichtbarkeit wichtig ist.