URI: 
       # taz.de -- Rückkehr nach Hamburg: Der fremde Blick auf die Stadt
       
       > Nach einer langen, weiten Reise nehme ich meine Stadt anders wahr,
       > intensiver. Ich hoffe und fürchte gleichzeitig, dass das wieder aufhört.
       
   IMG Bild: Allen zu geben, scheint unmöglich – aber wem gibt man?
       
       Von einer langen Reise komme ich, aus einer anderen Zeitzone, wo Nacht ist
       an unserem Tag. Und ich bin noch nicht da. Ich mache die kostbare
       Erfahrung, durch mein Zuhause wie eine Fremde zu laufen. Es ist unwirklich,
       auf einmal alles Gesprochene verstehen zu können.
       
       Zuvor, im fernen Land, habe ich Gespräche wie Wellen an mir vorbeirauschen
       lassen. Hier in der U-Bahn dringt jeder Gesprächsfetzen in meinen Verstand.
       In Läden krame ich noch nach Übersetzungen, um nach Sekunden erleichtert
       und auch enttäuscht zu begreifen: Ich muss nicht mehr stolpern in meiner
       Sprache.
       
       Ich sitze in der U2 und betrachte die Menschen: ihre stabilen
       regenabweisenden Anoraks, ihre großen Rucksäcke, die Stiefel, gerüstet für
       ein Unwetter, eine harte Klimawelt, dabei ist hier alles so sicher. Wie
       wenig Farben die meisten tragen, denke ich.
       
       Dort, wo ich herkomme, verschwendet sich die Natur in saftigem Grün und die
       Menschen sind großzügig, auch wenn sie nicht im Überfluss haben. Vielleicht
       kann man nicht anders inmitten einer Landschaft, die alles gibt. Auch unser
       Umfeld macht uns zu dem, was wir sind. Was bin ich, wenn ich hier lebe?
       
       Die U-Bahn hält am Hauptbahnhof, ein Mann steigt ein, in einem sauberen
       Anorak, er nimmt eine gerade Haltung an: „Ich bin Thomas“, sagt er. „Ich
       entschuldige mich für die Störung. [1][Ich bin obdachlos], ich habe am
       U-Bahnhof Schlump gewohnt, aber dann wurde ich dort beklaut. Ich möchte Sie
       um eine kleine Spende für Essen [2][oder um Pfand bitten]. Ich wünsche
       Ihnen einen schönen Tag.“
       
       Sein Ausdruck ist ausgesprochen höflich, fast so, als würde er sich um eine
       Stelle bewerben. Der Mann bleibt abwartend stehen. Ich ziehe meine Börse
       aus der Tasche, um zu schauen, ob ich Kleingeld habe. „Danke, dass sie für
       mich nachschauen“, sagt er und kommt mit einem Becher auf mich zu. Er
       lächelt: „Danke. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
       
       Die nächste U-Bahn-Station kommt. Er steigt aus. Kurz darauf kommt ein Mann
       herein. Die Daunen an seiner Jacke quellen heraus. Seine schnellen
       Bewegungen wirken, als würde er unter Drogen stehen. Auch er stellt sich
       vor: „Ich möchte sie um eine Spende bitten oder um Pfand.“ Er sagt fast den
       gleichen Text wie der Mann zuvor. Ich spüre den abwesenden Blick der
       Menschen um mich, [3][die sich an das Sprechen der Bettelnden gewöhnt zu
       haben scheinen]. Auch ich gebe diesmal nichts. Der Mann steigt mit
       hängenden Schultern aus.
       
       Wann hat das angefangen, dass sich Menschen, die betteln, so bewerben,
       denke ich, dass sie eine fast gelernte Höflichkeit zeigen, als wüssten sie,
       dass die anderen so geben; wenn sie nett sind, bedürftig, aber nicht zu
       kaputt.
       
       Ich steige am Schlump aus. Neben mir kommt ein Mann aus einem anderen
       Wagen. Er schaut in seine Hand mit Kleingeld: „War mal wieder klar“,
       schimpft er. Dann steigt er einen Waggon vor mir in die nächste Bahn. Ich
       beobachte ihn durch die Scheibe, wie er in der Gangmitte stehen bleibt.
       Wird auch er eine Ansprache halten?
       
       ## Freunde aus der Kleinstadt geben allen, die fragen, etwas
       
       Freunde aus einer Kleinstadt sagten, sie würden allen Bettlenden, die ihnen
       begegnen, etwas geben. Das wäre ihre Spende jeden Monat. Ich denke, dass in
       Hamburg so viele Menschen um Geld fragen, dass dies den meisten gar nicht
       möglich wäre. Aber wem gibt man? Die Maske vom Mann hinter der Scheibe
       bewegt sich. Dann holt er einen Becher hervor. Drei Menschen werfen ihm
       etwas hinein.
       
       Bettlende verdienen am Tag oft richtig viel, hat mir mal jemand
       vorgerechnet. Denen geht es nicht schlecht. Aber dann müsstest du das auch
       machen wollen, habe ich geantwortet.
       
       [4][Warum gibt es hier überhaupt so viele Menschen, die betteln?] Oder
       fällt es mir nur jetzt auf? Habe ich zuvor diese höflichen Ansprachen wie
       einen Strom, den die Stadt eben enthält, an mir vorbeirauschen lassen? Ich
       steige aus und frage mich, wann ich diesen fremden Blick verliere. Wann ich
       wieder selbstverständlich in all dem bin. Fast wünsche ich es mir. Und ich
       fürchte es auch.
       
       22 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Obdachlose-in-Winter/!5899297
   DIR [2] /20-Jahre-Einwegpfand/!5905822
   DIR [3] /Verhaltensoekonom-Armin-Falk/!5874537
   DIR [4] https://www.hinzundkunzt.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Zwischen Menschen
   DIR Bettler
   DIR U-Bahn
   DIR Obdachlosigkeit in Hamburg
   DIR Obdachlosigkeit in Hamburg
   DIR Kolumne Zwischen Menschen
   DIR Kolumne Zwischen Menschen
   DIR Polizei Hamburg
   DIR Sozialbehörde Hamburg
   DIR Fremd und befremdlich
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Polizei vertreibt Bettler aus Innenstadt: Wer betteln will, muss stehen
       
       Betteln im Sitzen ist in der Hamburger City verboten. Die Polizei hat das
       Vertreiben sitzender Bettler verstärkt, weil Händler sich beschwerten.
       
   DIR Übergriffige Ratschläge: Mein Leben, meine Experimente
       
       Ich freute mich auf's Kochen, ging einkaufen und kam zurück mit einem Korb
       voller gut gemeinter Ratschläge. Da kippte die Stimmung.
       
   DIR Über die beruhigende Wirkung von Respekt: Der Schwadroneur im Speisewagen
       
       Manche Menschen suchen unaufhörlich nach Austausch. Das kann nerven. Es
       kann aber auch der Beginn einer Verwandlung sein.
       
   DIR Repressive Drogenpolitik in Hamburg: Mehr Elend, nicht mehr Gefahr
       
       Die Presse erklärt Suchterkrankte am Hauptbahnhof mal wieder zum
       Sicherheitsproblem. Das lässt sich nicht belegen – anders als deren Elend.
       
   DIR Obdachlose in Winter: Das Sterben auf den Straßen beginnt
       
       Hamburg zwingt Obdachlose, trotz Minusgraden tagsüber die Gebäude des
       Winternotprogramms zu verlassen. Ein erstes Kälteopfer gibt es wohl seit
       Montag.
       
   DIR Junge bettelnde Männer in der S-Bahn: Am Ende
       
       Mir ist die Begegnung mit jungen Bettlern in der S-Bahn oft unangenehm. Es
       ist nicht nur der Umstand, dass sie betteln, es ist, wie sie es tun.