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       # taz.de -- Gelassenheit und Mut in der Krise: Nicht mal nass geworden
       
       > Gelassenheit lässt sich üben: Es hat doch was, dass es den Rechtsextremen
       > weder in den USA noch in Brasilien gelungen ist, die Demokratie zu
       > kippen.
       
   IMG Bild: Geheime Unterlagen in der Garage?
       
       Als ich ein kleiner Junge war, wollte ich meinen großen Cousin heiraten.
       Das war nicht ganz legal, aber sehr erstrebenswert. Er war nett, stark und
       schien vor gar nichts Angst zu haben. Ein Gewitter mit Blitz, Donner und
       Starkregen, das im Campingurlaub unser Zelt volllaufen ließ und mich Schutz
       suchend in den Wohnwagen der Eltern trieb, hatte er gar nicht mitbekommen.
       Verwundert fragte er am nächsten Morgen beim Wecken, warum denn alles so
       nass geworden sei. Mit 18, so mein Plan, wollte ich mit ihm nach Dänemark
       fahren. Dort, hatte ich gehört, wurden auch Männer getraut.
       
       In dieser Woche, zwischen all den Kriegshorrornachrichten, den
       Schlammschlachten um Kohlegruben und den inflationären Böllerdebatten mit
       zunehmend aggressiven kleinen CDU-Paschas habe ich mal wieder kurz
       bedauert, dass aus den Hochzeitsplänen damals doch nichts wurde.
       
       Weil mein schlanker Vetter lieber mit seiner Freundin zum Studieren nach
       Ägypten ging, bekam ich einen Korb und später einen Brief aus Kairo. Darin
       berichtete er, es habe ein Erdbeben gegeben. Das sei „sehr interessant“
       gewesen, weil „die Leute alle aufgeregt herumgerannt“ seien. Er also,
       natürlich, nicht. Was gäbe ich dafür, so gelassen durchs Leben gehen zu
       können. Allein es wird nicht leichter. Aber es muss doch möglich sein,
       immerhin sind mein stoischer Cousin und ich verwandt. Also versuchte ich’s
       weiter.
       
       Mit ganz viel gutem Willen und Geduld betrachtet, war zum Beispiel die
       tagelange Wahl des Speakers im US-Kongress sehr interessant. Es ist auch
       nichts Gravierendes passiert. Man kann sich sogar darüber freuen, dass nach
       15 Anläufen am Ende doch [1][Kevin McCarthy] gewonnen hat, dieser
       Extremopportunist von Donald Trumps Gnaden. Immerhin brach damit in der
       einzigen verbliebenen Supermacht mit Demokratie mitten im indirekten Krieg
       mit Russland kein komplettes Chaos aus und beim Machtkampf wurde diesmal
       freundlicherweise weitgehend auf offene Gewaltanwendung im Parlament
       verzichtet – anders als vor zwei Jahren in Washington und vor ein paar
       Tagen in [2][Brasília]. Und auch dort haben die Rechten nicht gewonnen, der
       gewählte Präsident ist jeweils weiterhin im Amt.
       
       Wer die beiden Krimis in den USA und Brasilien seelenruhig verschlafen hat,
       wie mein Cousin einst das Gewitter, ist am nächsten Morgen immer noch in
       zwei halbwegs funktionierenden Demokratien aufgewacht und nicht mal nass
       geworden. Aber, ruft da der Bedenkenträger in mir, es war knapp! Und wird
       noch knapper. Denn jetzt hat [3][Joe Biden] auch noch einen selbst
       verschuldeten Aktenskandal an der Backe. Wer Trump eine aufgebauschte Grube
       gräbt, sollte besser nur alte Briefe in der eigenen Garage lagern, aber
       keine geheimen Dokumente.
       
       In zwei großen Demokratien des Westens fehlt also nicht viel, dann könnten
       die extrem Rechten das Ruder übernehmen. Tja. Könnten. Wer immer nur im
       negativen Konjunktiv denkt, erreicht wahrscheinlich wenig. Nichts hilft den
       Rechtsradikalen mehr als das ewige Hadern und Schwarzsehen der Linken.
       Pessimismus lähmt.
       
       Deshalb habe ich auch Respekt vor den wütenden AktivistInnen, die sich der
       Räumung des Dorfs Lützerath auch im Starkregen tapfer entgegenstellen. Die
       tun zumindest was. Ob sie den Weltuntergang allerdings verhindern, wenn sie
       sich so sehr in die Vorstellung hineinsteigern, unser aller Schicksal werde
       in einer Grube am Niederrhein entschieden, dass auch Böller und Steine auf
       Polizisten legitim erscheinen, wage ich trotzdem zu bezweifeln. Noch mehr
       als Menschen, die zur Verteidigung eines abstrakten 1,5-Grad-Ziels in
       tiefen Tunneln ausharren, bewundere ich dann doch die Arbeiter einer
       ehemaligen Autozulieferfabrik in der Toskana, die ihren Betrieb stur, aber
       gewaltfrei besetzt halten, um ganz konkret die Umstellung auf eine
       klimafreundliche Produktion zu erzwingen, wie eine Kollegin in dieser Woche
       berichtet hat.
       
       Es gibt also auch in Meloni-Italien immer noch Menschen, die so wenig Angst
       vor der eigenen Courage haben wie mein Cousin vor Gewittern und Erdbeben.
       Wenn das nicht Mut macht.
       
       14 Jan 2023
       
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