URI: 
       # taz.de -- Jung sein in der Ukraine: „Hamlet ist eine Art Filter“
       
       > Kämpfen oder nicht kämpfen? Der Film „Das Hamlet-Syndrom“ erzählt über
       > die Prägung und Konflikte junger Leute in der Ukraine.
       
   IMG Bild: Sie proben den „Hamlet“ und verarbeiten ihre Traumata in „Das Hamlet-Syndrom“
       
       taz: Frau Niewiera, Herr Rosołowski, Ihr Dokumentarfilm „Das
       Hamlet-Syndrom“ schildert die Auswirkungen des Kriegs auf die junge
       Generation in der Ukraine. Sie widmen sich den Ereignissen der
       Maidan-Revolution und den Kampfhandlungen seit 2014 und zeigen, wie die
       Geschehnisse von jungen Leuten in Form eines Theaterstücks verarbeitet
       werden. Wie kam es zu Ihrem gemeinsamen Projekt? 
       
       Elwira Niewiera: [1][Seit der Maidan-Revolution] hatten wir die Ereignisse
       in der Ukraine intensiv beobachtet. Wir waren damals schon von der jungen
       Generation, der ersten, die in einer freien und unabhängigen Ukraine
       geboren wurde, fasziniert. Erst stiegen sie auf die Barrikaden, und als
       dann der Krieg in der Ostukraine ausbrach, fühlten sie sich verpflichtet,
       für ihr Land zu kämpfen. Diese Lawine an brutalen Erfahrungen hatte ihre
       Psyche stark belastet. Wir wollten von ihnen und dem hohen Preis, den sie
       für ihr Engagement zahlen, erzählen.
       
       Piotr Rosołowski: Wir waren zum Zeitpunkt der Maidan-Ereignisse damit
       beschäftigt, das Archivmaterial aus den 20er und 30er Jahren unseres Films
       [2][„Der Prinz und der Dybbuk“] zu schneiden. Als wir die Bilder der
       Revolution sahen, hatten wir unmittelbar den Eindruck, hier geschieht etwas
       Einschneidendes und Wichtiges. 2015 haben wir es dann geschafft, in die
       Ukraine zu reisen und haben das große Bedürfnis der Menschen erlebt, ihre
       Geschichten zu erzählen. Viele hatten Unbeschreibbares erfahren und wollten
       uns ihre Erfahrungen mitteilen. 2018 trafen wir dann erste konkrete
       Vorbereitungen für den Film.
       
       Die Produktion Ihres Films erfuhr eine entscheidende Wende, als über die
       Ukraine die Ereignisse des 24. Februar 2022 hereinbrachen. An welchem Punkt
       Ihrer Arbeit waren Sie zu dem Zeitpunkt? 
       
       Niewiera: Für uns ist am 24. Februar die Welt zusammengebrochen. Als wir
       anfingen, am Film zu arbeiten, wollten wir auf den [3][seit 2014
       andauernden Krieg in der Ukraine] aufmerksam machen. Inmitten der
       Postproduktion ereignete sich die großangelegte russische Invasion. Wir
       überlegten, noch mal ins Land zu fahren und zu drehen. Schnell war
       allerdings klar, dass wir anders reagieren müssen. Drei unserer
       Protagonisten fanden sich sofort inmitten des Krieges wieder. Als ihre
       Militärbasis am ersten Tag bombardiert wurde, standen sie in Sportschuhen
       im Wald und Raketen flogen über sie hinweg. Wir erhielten eine lange Liste
       mit benötigter Ausrüstung. Wir beschlossen daher, Hilfsgüter direkt zu
       ihren Bataillonen zu transportieren. Das machen wir bis heute.
       
       Rosołowski: Wir haben die Arbeit während der Postproduktion gestoppt, weil
       wir schlichtweg nicht wussten, was wir tun sollen. Die letzten Bilder der
       Ukraine in unserem Film stammen aus dem Herbst 2021. Ich denke, das macht
       ihn zu einem wichtigen Zeitdokument der Ereignisse vor der russischen
       Invasion. Wenn man die Aufnahmen unserer fünf Protagonisten sieht, hat man
       immer im Kopf, was auf sie zukommen wird. Und es zeigt sich, wie durch die
       russische Invasion ihr Trauma reaktiviert wird. Heute sind davon Millionen
       von Ukrainern betroffen.
       
       Im Laufe des Films lernen sich fünf Protagonist:innen auf einer
       Theaterbühne in Kyjiw kennen. Wir erleben so die Proben zu einer
       ukrainischen Hamlet-Interpretation. Was an dem Shakespeare-Stoff ist für
       Sie und für die Ukraine insgesamt relevant? 
       
       Rosołowski: Unsere Absicht war es, das Dilemma Hamlets – Sein oder
       Nichtsein? – mit dem der jungen ukrainischen Generation in Verbindung zu
       setzen. Auch das Leben des Hamlet – ein junger Mann in seinen Zwanzigern –
       kollidiert mit einem brutalen Machtkampf in seiner Heimat. Hier ist eine
       Parallele zu den Dilemmata der ukrainischen Maidan-Generation zu sehen.
       
       Niewiera: Hamlet ist für uns eine Art Filter, den wir auf die aktuellen
       Probleme der jungen ukrainischen Generation legten, um bestimmte Dilemmata
       wie „Kämpfen oder Nichtkämpfen?“, „Sein oder Nichtsein?“ zu untersuchen.
       Drei unserer Protagonisten erlebten alle Schrecken des Krieges am eigenen
       Leib und konnten viele Jahre mit den Folgen ihres Traumas nicht fertig
       werden.
       
       Die Figuren, die Sie in Ihrem Film begleiten, entstammen ganz verschiedenen
       sozialen Hintergründen, sie unterscheidet insgesamt mehr, als sie eint.
       Anhand welcher Kriterien haben Sie sie für den Film ausgewählt? Und mit
       welchen filmischen Methoden werden sie vorgestellt? 
       
       Niewiera: Bereits während wir uns in der Ukraine auf die Suche nach
       Protagonisten gemacht haben, war uns klar, dass wir keine Interviews mit
       unseren Hauptfiguren zeigen wollten, sondern einen gemeinsamen Prozess –
       die Theaterproben. Der Bühnenprozess ermöglichte eine tiefere Art der
       Reflexion, und auch eine Aufarbeitung der Kriegserlebnisse, die drei
       unserer Protagonisten an der Front gemacht haben. Insgesamt haben wir um
       die 80 Menschen vor dem Film getroffen. Wir haben schnell festgestellt,
       dass viele für Dreharbeiten nicht in Frage kamen – zu offen schienen uns
       ihre seelischen Wunden. Zu einem der Kriterien wurde, dass die Teilnehmer
       eine Therapie durchlaufen haben. Der Prozess des Bergens der Erinnerungen
       im Film hat selbst einen therapeutischen Aspekt – das stand aber nicht im
       Vordergrund. Die Möglichkeit, die Ereignisse durch die Figur des Hamlet zu
       filtern, hat etwas Befreiendes.
       
       In der Gruppe kommt es mitunter zu heftigen Konflikten. Vor allem die Frage
       des Patriotismus und der ukrainischen Fahne als Symbol spielt eine Rolle.
       Interessant ist die unterschiedliche Wahrnehmung der Soldat:innen und
       der Nichtkämpfenden in der Gruppe. 
       
       Rosołowski: Manche Konflikte waren fast schon vorprogrammiert. Die
       Bühnensituation bot aber den verschiedenen Sichtweisen Platz und
       ermöglichte eine Konfliktbewältigung. Das beste Beispiel: Rodion,
       LGBTQ-angehörig, aus Donezk und Slavik, der in der Armee gekämpft hat. So
       unterschiedlich die beiden sind – auf der Bühne werden sie zu Freunden.
       Oder auch die Schauspielerin Oxana. Sie ist in der Ukraine bekannt für ihr
       kritisches Theater. Bei ihren Aussagen kam es zu großen Konflikten in der
       Gruppe. Was sich aber gesellschaftlich schwierig darstellt, ist auf der
       Bühne möglich: bei allen Unterschieden auf einen gemeinsamen Nenner zu
       kommen.
       
       Sie beide leben in Berlin und gucken daher auch aus einem deutschen
       Blickwinkel auf den Krieg. Was finden Sie an der deutschen Perspektive auf
       die Ukraine und Osteuropa bemerkenswert? Und hat sich der Blick verändert? 
       
       Niewiera: Die deutsche Perspektive war für uns einer der Hauptgründe, den
       Film zu machen. Die Kriegshandlungen seit 2014 gerieten in der deutschen
       Öffentlichkeit in Vergessenheit oder waren gar nicht erst im Bewusstsein.
       In dieser Zeit hat Deutschland die Einkäufe von Öl und Gas aus Russland
       verdoppelt und sich von Putin abhängig gemacht. Auch deshalb konnte er
       machen, was er wollte.
       
       Rosołowski: In Deutschland höre ich immer wieder, dass es Frieden um jeden
       Preis geben muss. Das zeigt für mich aber vor allem das Desinteresse an den
       Konflikten in Osteuropa. Es gab schon während der Kämpfe in Donezk und
       Luhansk zu wenig Aufmerksamkeit. Frieden um jeden Preis zu fordern, ist
       eine Vereinfachung und wird der Realität vor Ort nicht gerecht.
       
       Niewiera: Roman, einer unserer Protagonisten, der gerade in Bachmut
       stationiert ist, sagte zu mir folgenden Satz, den ich nicht vergessen
       werde: „Damit schreckliche Dinge passieren, bedarf es nur der
       Gleichgültigkeit sehr vieler guter Menschen“ – ich denke, damit dürfen wir
       uns alle angesprochen fühlen.
       
       18 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sergei-Loznitsa-ueber-Geschichte-im-Film/!5009323
   DIR [2] /Polnisches-Filmfestival-in-Berlin/!5498921
   DIR [3] /Ukrainischer-Film-Atlantis/!5765559
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Chris Schinke
       
       ## TAGS
       
   DIR Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Dokumentarfilm
   DIR Theater
   DIR Jugend
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Theatertreffen Berlin
   DIR Proteste in der Ukraine
   DIR Theater
   DIR Literatur
   DIR taz Plan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Dokumentarfilm „Shidniy front“: Soldaten wider Willen
       
       Der Ukraine-Krieg als Dokumentation: Der Film „Shidniy front“ von Vitaly
       Mansky und Yevhen Titarenko begleitet ein Sanitätsbataillon in der Ukraine.
       
   DIR Berliner Theatertreffen 2023: In der Wirrnis der Gegenwart
       
       Der Platz fürs Spielerische wird auf dem Theatertreffen gerahmt von
       politischen Themen. So geht es etwa um Militarisierung und Feminismus.
       
   DIR Regisseur über sein Stück zum Krieg: „Maul aufmachen! Nicht schweigen!“
       
       Regisseur Lukasz Lawicki reiste in die Ukraine und schrieb dann das Stück
       „14 Tage Krieg“. Ein Gespräch über Menschlichkeit, Angst und Waffen.
       
   DIR Theater über den Ukraine-Krieg: Liebe ist auch nur ein Schlachtfeld
       
       Ein Höhepunkt der Theatersaison: Mit Natalia Vorozhbyts Drama „Zerstörte
       Straßen“ führt Niklas Ritter in Göttingen mitten in den Ukraine-Krieg.
       
   DIR Ukrainische Autorin über Russland: „Sprache ist verräterisch“
       
       Die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko spricht über ihre „längste
       Buchtour“ und Putins Ressourcenimperium. Die Opposition in Russland werde
       übersehen.
       
   DIR Kinotipp der Woche: Heiter mit Blasmusik
       
       Matevž Luzars „Orkester“ begleitet eine slowenische Blasmusiktruppe nach
       Österreich und zeigt die Tournee als Ausnahmesituation schlechthin.