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       # taz.de -- Opposition in Russland: Sieben Jahre Straflager
       
       > Russland geht immer öfter gegen Gegner von Putins Krieg gegen die Ukraine
       > vor. Der Straftatbestand lautet „Falschnachrichten über die russische
       > Armee“.
       
   IMG Bild: Festnahme eines Demonstranten bei einer nicht genehmigten Protestaktion gegen den Ukrainekrieg im März 2022 in Sankt Petersburg
       
       Das ganze Jahr 2022 über hat die russische Staatsmacht innerhalb des Landes
       Gegner der „militärischen Spezialoperation“ bekämpft. Seit Jahresbeginn
       wurden 180 Strafverfahren wegen der Verbreitung sogenannter
       Falschinformationen über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine
       eingeleitet. Fast die Hälfte der Angeklagten hat das Land entweder
       verlassen oder befindet sich in Untersuchungshaft. Die aufsehenerregendsten
       „Fake“-Fälle wurden gegen Oppositionspolitiker und Aktivisten vorgebracht,
       aber mehr als die Hälfte der Angeklagten sind ganz gewöhnliche Menschen und
       nicht Personen des öffentlichen Lebens. 
       
       Seit dem 4. März 2022 ist die Verbreitung „wissentlich falscher
       Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte“ in der Ukraine
       ein Straftatbestand. Sofort begann das Untersuchungskomitee, den
       „Fake“-Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation
       anzuwenden.
       
       Als Beweise dienen in der Regel Informationen des russischen
       Verteidigungsministeriums und sprachliche Expertisen, die die Aussage des
       Angeklagten und die offizielle Position der Behörden vergleichen. Die
       Rechtspraxis in „Fake“-Fällen nimmt allmählich Gestalt an – und das
       eindeutig mit anklagender Tendenz. Die härtesten Urteile werden von
       Moskauer Gerichten verhängt.
       
       Der lokale Abgeordnete Alexei Gorinow (sieben Jahre Haft) und der Politiker
       Ilja Jaschin (acht Jahre und sechs Monate Gefängnis) haben bereits hohe
       Strafen erhalten. In den Regionen fällten die Gerichte weniger blutrünstige
       Urteile. So wurde ein Einwohner von Transbaikalien mit einer Geldstrafe von
       1 Million Rubel (umgerechnet 13.300 Euro) belegt.
       
       Auf der Krim erhielt ein ehemaliger Mitarbeiter des
       Katastrophenschutzministeriums (MTschS) eine Bewährungsstrafe. In Orenburg
       wurde ein 22-jähriger Mann zu acht Monaten Besserungsarbeit nebst Abgabe
       von 10 Prozent seines Gehalts an den Staat verurteilt. Genau dieselbe
       Strafe wurde einem Archäologen aus Omsk auferlegt.
       
       Zu den bekannten Personen, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, gehören
       die Bloggerin Veronika Belotserkowskaja, der Medienmanager Ilja
       Krasiltschik, die Journalisten Ruslan Lewiew und Maikl Naki, der Politiker
       Wladimir Kara-Murza, der Journalist Alexander Newsorow, der Schriftsteller
       Dmitri Gluchowski, die Künstlerin Irina Bystrowa sowie mehrere regionale
       und kommunale Beamte und Abgeordnete.
       
       ## Der Polizist Semiel Wedel (Sergei Klokow)
       
       Mitte März wurden die ersten Festgenommenen aufgrund des „Fake“-Artikels
       namentlich bekannt. Einer von ihnen war der Moskauer Ex-Polizist Semiel
       Wedel (Sergei Klokow). Derzeit wird sein Fall vor dem Bezirksgericht
       Perowski in Moskau verhandelt. Wedel wird vorgeworfen, drei Telefonate
       geführt zu haben. In einem soll er „vorsätzlich falsche Informationen“ über
       das Vorgehen des russischen Militärs unter den Bewohnern der Krim und der
       Region Moskau verbreitet haben.
       
       Die Verteidigung hält seinen Fall für einzigartig, da erstmals eine Person
       für ein Telefonat zur Rechenschaft gezogen wird. Der Fall des Ex-Polizisten
       wurde bekannt, nachdem er am 22. März in U-Haft gebracht worden war.
       Zunächst trat er unter dem Namen Klokow auf, sein Pass ist aber auf den
       Namen Wedel ausgestellt.
       
       Was mit ihm nach seiner Festnahme geschah, erzählte er wenige Tage später
       seinem Anwalt Daniil Berman. Laut Wedel wurde ihm eine Tüte über den Kopf
       gestülpt, danach wurde er zum Dezernat gebracht, wo eine Haftbescheinigung
       ausgestellt wurde. Der Polizist wurde beschuldigt, militärische
       Falschmeldungen aus politischem Hass verbreitet zu haben (Artikel 207.3
       Teil 2 Absatz e des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation).
       
       Die Tat wurde laut den Ermittlungen bei drei Telefonaten begangen. So habe
       Wedel am 9. März 2022 „nicht identifizierte Personen in der Republik Krim
       und der Region Moskau angerufen sowie öffentlich und vorsätzlich falsche
       Informationen als zuverlässige Nachrichten verbreitet“.
       
       Die Untersuchung geht davon aus, dass Wedel mit seinen Gesprächspartnern
       Nachrichten besprochen hat, die sie im Internet gelesen haben. Darunter war
       eine Nachricht über die Überführung getöteter russischer Soldaten von dem
       Territorium der Ukraine in die Republik Belarus zwecks Verbrennung in einem
       Krematorium, um deren Angehörigen keine Entschädigung zahlen zu müssen.
       
       Zudem diskutierte Wedel laut Ermittlungen mit nicht identifizierten
       Personen Nachrichten, wonach es auf dem Territorium der Ukraine keine Nazis
       gebe, und die Verbreitung gefälschter Informationen seitens Russlands über
       deren Anwesenheit. Ein weiteres Thema waren durch russische Soldaten
       ausgelöste Explosionen im Gebiet Rostow, um zu provozieren und die eigene
       Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen.
       
       Die Abschriften von mindestens drei derartiger Gesprächen sind dem Fall
       beigefügt, aber aus den Unterlagen geht nicht hervor, von wem und auf
       welcher Grundlage das „Abhören“ durchgeführt wurde.
       
       Wie das Webportal „Anwaltsstraße“ herausfand, erzählte Wedel bei den
       Verhören, dass er 1984 in der ukrainischen Stadt Irpin geboren worden sei.
       Einige Zeit habe er auch in dem Ort Butscha gelebt, das während der
       Feindseligkeiten weltweit traurige Berühmtheit erlangte. Die Familie Wedel
       sei vor langer Zeit nach Moskau gezogen, aber Freunde und Verwandte seien
       in der Ukraine geblieben.
       
       Wedel selbst fuhr einmal im Jahr dorthin, um seine Großeltern zu besuchen.
       All diese Gespräche seien „emotionale politische Diskussionen“ gewesen,
       sagte Wedel im Verhör. Er räumte ein, aufgrund der Nachrichten „ein
       Durcheinander im Kopf“ gehabt und vielleicht „etwas verwechselt“ zu haben.
       
       Er bestätigte, er hätte Kontakt zu Bekannten aufgenommen, um etwas über das
       Schicksal von Freunden zu erfahren. Das alles bewahrte ihn jedoch nicht
       davor, in Haft genommen zu werden. Seit dem 18. März sitzt der ehemalige
       Polizist in Untersuchungshaft. Sein Fall kommt jetzt zum zweiten Mal vor
       Gericht. Am 10. August gab das Gericht von Perowsky die Dokumente an die
       Staatsanwaltschaft zurück, um Ungenauigkeiten in der Anklageschrift
       beseitigen zu lassen. Wedels Urteil ergeht 2023.
       
       ## Der lokale Abgeordnete Alexei Gorinow
       
       Ein weiteres hochkarätiges Verfahren wurde gegen den Stadtabgeordneten des
       Moskauer Bezirks Krasnoselski, Alexei Gorinow, eingeleitet. Die hohe
       Haftstrafe, zu der ihn das Gericht verurteilte, schockierte alle. Er bekam
       sieben Jahren Gefängnis, weil er sich während einer Sitzung der
       Abgeordneten gegen die Durchführung eines Malwettbewerbs für Kinder
       ausgesprochen hatte, da er dies zu einem solchen Zeitpunkt für unangemessen
       hielt. Gorinow wurde am 26. April festgenommen und kam per
       Gerichtsbeschluss am nächsten Tag in Untersuchungshaft.
       
       Der Untersuchungsausschuss brauchte für die Ermittlung in der Strafsache
       nur fünf Tage, das Meschanski-Gericht der Hauptstadt begnügte sich mit drei
       Prozesssitzungen und die Staatsanwaltschaft erledigte die Vorlage von
       Beweisen in ein paar Stunden. Gorinow wurde beschuldigt, „Fälschungen“
       einer Gruppe von Personen verbreitet zu haben, dabei habe er seine Position
       aus Gründen des politischen Hasses missbraucht.
       
       Gorinow und die Leiterin des Stadtbezirks Krasnoselski, Elena
       Kotjonotschkina, so die Version der Ermittlungsbehörden, hätten am 15. März
       während einer Sitzung des Abgeordnetenrats „nach vorheriger Absprache“ eine
       Reihe von Erklärungen abgegeben. Diese hätten „unwahre Daten über die
       Streitkräfte der Russischen Föderation“ enthalten. Insbesondere habe
       Gorinow die „Sonderoperation“ in der Ukraine als Krieg bezeichnet und vom
       Tod ukrainischer Kinder gesprochen.
       
       Diese Angaben widersprächen laut Staatsanwaltschaft den offiziellen Angaben
       des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation. So hätten Gorinow
       und Kotjonotschkina „eine unbegrenzte Anzahl von Menschen in die Irre
       geführt“. Die Videoaufzeichnung der Sitzung wurde auf der Website und dem
       YouTube-Kanal des Abgeordnetenrats veröffentlicht. Außer gegen Gorinow
       wurde ein ähnliches Verfahren auch gegen Kotjonotschkina eröffnet, aber es
       gelang ihr, Russland zu verlassen. Sie wurde auf die internationale
       Fahndungsliste gesetzt und in Abwesenheit festgenommen.
       
       „Von welcher Art von Freizeit und Unterhaltung ist die Rede, wenn wir jetzt
       zu einer qualitativ anderen Lebensweise übergegangen sind? Wenn
       Kriegshandlungen auf dem Territorium eines benachbarten souveränen Staates
       stattfinden, eine Aggression unseres Landes. Können Sie uns bitte sagen:
       Von welcher Art von Malwettbewerb für Kinder aus Anlass des Kindertags und
       der Organisation von Tanzprogrammen aus Anlass des Tags des Sieges reden
       wir, wenn jeden Tag Kinder sterben? […] Ich glaube, dass alle Bemühungen
       der Zivilgesellschaft darauf gerichtet sein sollten, den Krieg zu beenden
       und die russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Wenn einzelne Punkte
       der Pläne diesen Themen gewidmet gewesen wären, hätte ich gerne abgestimmt.
       Aber so werde ich persönlich nicht abstimmen, alles Weitere liegt in ihrem
       Ermessen “, sagte Gorinow.
       
       Für diese Äußerungen verurteilte Richterin Oksana Mendelejewa den
       Abgeordneten zu sieben Jahren Strafkolonie. Im September reduzierte das
       Moskauer Stadtgericht Gorinows Haftstrafe um einen Monat und entfernte den
       Punkt „vorherige Absprache“ aus der Anklage.
       
       ## Der Rechtsanwalt Dmitri Talantow
       
       Im Juni wurde ein „Fake“-Verfahren gegen Dmitri Talantow, den Präsidenten
       der Anwaltskammer der Republik Udmurtien, eröffnet. Talantow wurde in
       Ischewsk festgenommen, Sicherheitskräfte führten Durchsuchungen an mehreren
       Adressen durch, verhörten den Anwalt und brachten ihn am nächsten Tag nach
       Moskau. Dort schickte ihn ein Gericht in Untersuchungshaft.
       
       Mehrfach hatte Talantow in sozialen Netzwerken seine Antikriegsposition zum
       Ausdruck gebracht. Einen Streik in einem Einkaufszentrum in Krementschuk
       kommentierte er wie folgt: „Der heutige Horror in Krementschuk ist auch
       Teil der Entnazifizierung? Oder ist es Faschismus?“ Bereits im April gab es
       gegen den Anwalt erste Anzeigen wegen Veröffentlichungen in sozialen
       Netzwerken. Damals, berichtete Talantow, habe die Polizei Überprüfungen
       durchgeführt und von ihm Erklärungen gefordert.
       
       Im Sommer wurde jedoch ein ernsteres Verfahren eröffnet – nach der Anzeige
       des Mitarbeiters der Military Review, Roman Skomorochow.
       
       Am 3. April veröffentlichte Talantow einen Post auf seiner Facebook-Seite,
       in dem er die Aktionen der russischen Armee in Mariupol, Irpin und Butscha
       als „Nazipraktiken“ bezeichnete. Auf diesen Post und andere Aussagen von
       Talantow wurden die Strafverfolgungsbehörden durch die Anzeige aufmerksam.
       
       Zunächst wurde Talantow angeklagt, bei drei Anlässen militärische
       Fälschungen aus politischem Hass verbreitet zu haben. Bis September wurden
       die Anklagen verschärft und zwei weitere Anlässe hinzugefügt. Der Vorwurf
       lautete auf Anstiftung zum Hass unter Ausnutzung der offiziellen Position.
       
       Im Oktober wurde die Untersuchung des Falls abgeschlossen und die
       Unterlagen wurden dem Tscheremuschkinski-Gericht in Moskau übergeben. Es
       stellte sich jedoch heraus, dass die örtliche Zuständigkeit falsch
       festgelegt worden war. Das Gericht entschied, den Fall nach Udmurtien, an
       den Ort des „Verbrechens“, zu überweisen.
       
       ## Die Journalistin Marina Owsjannikowa
       
       Im August wurde die ehemalige Redakteurin des Ersten Kanals, [1][Marina
       Owsjannikowa], zur Angeklagten in dem „Fake News“-Fall für einen
       Antikriegsstreikposten in der Nähe des Kremls. Das Gericht stellte sie
       unter Hausarrest, aber die Journalistin wartete nicht auf das Urteil,
       sondern floh aus Russland.
       
       Die ehemalige Mitarbeiterin des föderalen Fernsehsenders wurde berühmt,
       nachdem sie am 14. März in den Live-Nachrichten des Ersten Kanals hinter
       die Fernsehmoderatorin Jekaterina Andreewa getreten und ein Plakat gegen
       die Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine und die Lügen der
       russischen Propaganda entrollt hatte.
       
       Gegen Owsjannikowa wurde eine Rechtsverletzung wegen eines Videos zu
       Protokoll genommen, das sie aufgenommen hatte, bevor sie mit dem Plakat in
       die Live-Sendung ging. Am nächsten Tag verhängte das Ostankinski-Gericht in
       Moskau eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (umgerechnet rund 400
       Euro). Zusätzlich zu diesem Fall wurde eine weitere Ordnungswidrigkeit zu
       Protokoll genommen – wegen Diskreditierung des russischen Militärs, was
       sich auf die Plakataktion im Fernsehen bezog. Doch zu einer Prüfung dieser
       Verwaltungsakte kam es nicht. Das Gericht überwies die Angelegenheit zurück
       an die Polizei. Nach ihrem Auftritt mit dem Plakat feuerte der Erste Kanal
       Owsjannikowa.
       
       Daraufhin ging die Journalistin für einige Zeit nach Deutschland, wo sie
       sich bereit erklärte, für die Welt zu arbeiten. Anfang Juli kehrte
       Owsjannikowa nach Russland zurück und begründete dies mit familiären
       Umständen und dem Auslaufen des Vertrags. In der Folgezeit begann sie ihre
       Antikriegsposition aktiver zu vertreten. Sie kam zum Basmanni-Gericht, als
       gegen den Politiker Ilja Jaschin Zwangsmaßnahmen wegen „Fakes“ verhängt
       wurden. Owsjannikowa war gekommen, um den Oppositionellen zu unterstützen,
       und gab gegenüber einem Korrespondenten eine Erklärung ab. Dafür wurde sie
       zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt.
       
       Am 15. Juli demonstrierte Owsjannikowa mit einem Antikriegsplakat auf der
       Sofijski-Uferstraße gegenüber dem Kreml. Dabei wurde sie nicht
       festgenommen. Ein paar Tage später jedoch statteten Polizisten ihr einen
       Besuch zu Hause ab und erstellten ein weiteres Protokoll wegen
       Diskreditierung der Armee. Das Moskauer Meschanski-Gericht verhängte erneut
       eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel (umgerechnet 660 Euro).
       
       Am 10. August führten Sicherheitskräfte bei Owsjannikowa wegen des
       Straftatbestands militärischer „Falschmeldungen“ eine Hausdurchsuchung
       durch. Dabei ging es wieder um die Protestaktion am Kreml. Nach der
       Durchsuchung wurde die Journalistin zum Verhör gebracht und der
       „öffentlichen Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den
       Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation aus Gründen politischen
       Hasses“ beschuldigt.
       
       Am nächsten Tag stellte das Basmanni-Gericht Owsjannikowa unter Hausarrest.
       Im Oktober nahm sie eine Videobotschaft für den Föderalen
       Strafvollzugsdienst (FSIN) auf. Darin schlug sie vor, Präsident Putin für
       die Teilmobilmachung eine Fußfessel anzulegen. Owsjannikowa gelang es, dem
       Hausarrest zu entkommen und Russland zu verlassen. Sie wurde auf die
       Fahndungsliste gesetzt und in Abwesenheit festgenommen.
       
       ## Der Politiker Ilja Jaschin
       
       Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine war der ehemalige kommunale
       Abgeordnete Ilja Jaschin einer der wenigen russischen Oppositionspolitiker,
       die im Land blieben und eine klare Antikriegsposition einnahmen. Das rief
       die Behörden auf den Plan: Gegen den Oppositionellen wurde ein Verfahren
       wegen Verbreitung von „Falschnachrichten“ über die russische Armee aufgrund
       von „politischem Hass“ eingeleitet. Grund war der April-Stream von Jaschin,
       in dem er Kommentare von Vertretern der russischen und ukrainischen Seite
       verlas.
       
       Bereits vor der Einleitung des Verfahrens gegen den 39-jährigen
       Oppositionellen wurden Rechtsverstöße wegen Diskreditierung der
       Streitkräfte der Russischen Föderation (Artikel 20.3.3 des Gesetzbuchs für
       Ordnungswidrigkeiten) zu Protokoll genommen, für drei davon wurde eine
       Geldstrafe in Höhe von 90.000 Rubel (umgerechnet 1.200 Euro) Geldstrafe
       verhängt.
       
       Schon damals war klar, dass ein Strafverfahren vorbereitet wurde. Aber
       Jaschin erklärte in zahlreichen Interviews, dass er nirgendwo hingehen und
       sich verstecken werde. Dies war seine prinzipielle Position.
       
       Die Ermittlungen in dem „Fake“-Fall dauerten fast fünf Monate. Jaschin
       wurde am 12. Juli festgenommen, als er eine spezielle Haftanstalt verließ,
       in der er 15 Tage lang festgehalten worden war – angeblich wegen
       Ungehorsams gegenüber der Polizei. Am nächsten Tag kam er in
       Untersuchungshaft. Laut der konstruierten Anklage habe Jaschin in einem
       Stream auf YouTube, „indem er den Beginn sozial gefährlicher Folgen
       vorhersagte, falsche Informationen über die angeblichen Verbrechen, die in
       Butscha begangen wurden, verbreitet“.
       
       Laut Staatsanwaltschaft habe sich Jaschin gleichzeitig abschätzig über die
       derzeitige Regierung geäußert und angeblich gewusst, dass „die von ihm
       verbreiteten Falschinformationen“ das Interesse einer Vielzahl von Menschen
       wecken würden, da er eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sei.
       
       Anfang November wurde Jaschins Fall vor dem Meschanski-Gericht in Moskau
       verhandelt. Laut den von der Staatsanwaltschaft verlesenen schriftlichen
       Materialien war das Verfahren nach dem Bericht eines Detektivs vom Zentrum
       E (einer Antiextremismuseinheit des Geheimdienstes FSB; d. Red.)
       eingeleitet worden.
       
       Ein Video Jaschins mit mehr als 1 Million Aufrufen war den
       Strafverfolgungsbeamten im Juli aufgefallen. Ein Ermittler meinte, darin
       Anzeichen eines Verbrechens zu erkennen, und ein Linguistikexperte kam zu
       dem Schluss, dass die Worte des Oppositionellen über die Ermordung von
       Ukrainern durch russische Truppen eindeutig Aussagen des
       Verteidigungsministeriums widersprochen hätten. In der Tat wurden der
       operative Mitarbeiter und der Sprachexperte seitens der
       Staatsanwaltschaft Kronzeugen vor Gericht.
       
       Jaschin selbst widersprach dem Vorwurf kategorisch und gab an, wegen seiner
       oppositionellen Aktivitäten verfolgt zu werden. Er erklärte, dass er sich
       bei der Schilderung der Ereignisse an die klassischen Standards des
       Journalismus halte und dem Publikum nicht nur sein eigenes Werturteil
       anbiete, sondern es auch mit unterschiedlichen Sichtweisen vertraut mache.
       
       Die Richterin Oksana Gorjunowa benötigte nur vier Sitzungen, um beide
       Seiten anzuhören und ein Urteil zu fällen. Sie verurteilte Jaschin zu acht
       Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Gegen das Urteil hat die Verteidigung
       Berufung eingelegt.
       
       ## Die Künstlerin Alexandra Skotschilenko
       
       Vor Kurzem hat das Wasileostrowski-Gericht in Sankt Petersburg begonnen,
       den „Fake“-Fall der Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu prüfen. Ihr wird
       vorgeworfen, öffentlich „wissentlich falsche Informationen aus politischem
       Hass“ verbreitet zu haben. Nachdem Preisschilder in dem Geschäft
       Perekrestok durch Aufkleber mit Informationen über die Aktionen der
       russischen Streitkräfte in der Ukraine ersetzt worden waren, wurde
       Skotschilenko festgenommen und in ein Untersuchungsgefängnis gebracht.
       
       In der Haft verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Künstlerin.
       Ihre Anwältin Jana Nepovinnowa sagte, dass die Künstlerin unmittelbar nach
       ihrer Verhaftung in eine Zelle für 18 Personen gebracht worden sei, in der
       Skotschilenko trotz einer Glutenunverträglichkeit keine spezielle Diät
       erhalten habe.
       
       Die Insassinnen verboten der Künstlerin, den Kühlschrank selbst zu
       öffnen. „Sascha wurde ständig gesagt, dass sie schlecht rieche. Die
       Insassen zwangen sie, jeden Tag ihre gesamte Kleidung zu waschen,
       einschließlich dicker Pullover und eines warmen Bademantels. Sie braucht
       dafür einen halben Tag“, sagte Sonja Subbotina, Skotschilenkos Freundin.
       
       Später wurde die Künstlerin in eine Doppelzelle verlegt, wo sie mit warmen,
       glutenfreien Mahlzeiten versorgt wurde. Nachdem ihr ein Zahn gezogen worden
       war, bekam Skotschilenko gesundheitliche Probleme: Eine Komplikation trat
       auf, die Wunde war nicht genäht worden. Als Folge entzündete sich ein
       Lymphknoten, die in Untersuchungshaft verabreichten Antibiotika und
       Schmerzmittel reichten nicht aus.
       
       Bei der ersten Sitzung des Wasileostrowski-Gerichts verlas der Staatsanwalt
       die Anklage und die Anwälte legten ihre Ansichten zu dem Fall ausführlich
       dar. Skotschilenko bestreitet ihre Schuld. Sie befindet sich seit dem 13.
       April in U-Haft.
       
       Während all dieser Monate verlängerte das Gericht wiederholt die Haft von
       Skotschilenko, obwohl die Verteidigung mildere Maßnahmen forderte, zum
       Beispiel Hausarrest. Sitzungen, in den es um einzelne Maßnahmen ging,
       fanden soweit möglich ohne Zuhörer und Presse statt. Aber die eigentliche
       Prüfung des Falles führt der Richter in öffentlicher Sitzung durch. Die
       nächste Verhandlung war für den 20. Januar 2023 angesetzt.
       
       ## Der Heizer Wladimir Rumjanzew
       
       Das letzte „Fake“-Urteil im Jahr 2022 wurde gegen Wladimir Rumjanzew, einen
       Heizer aus Wologda, verhängt. Für seine Antikriegshaltung erhielt er drei
       Jahre Gefängnis. Das Verfahren wurde eröffnet, weil der 61-Jährige mit
       seinem Untergrundfunk Falschinformationen verbreitet haben soll. Der
       Staatsanwalt hatte sechs Jahre Haft beantragt.
       
       Über den Angeklagten ist wenig bekannt. Wie der Fernsehsender Doschd
       berichtete, arbeitete er 20 Jahre lang als Heizer in der örtlichen
       Werkzeugmaschinenfabrik und nach deren Schließung als Schaffner in einem
       städtischen Trolleybus. Er nahm an einigen Protesten in seiner Heimatstadt
       teil. Und er betrieb eine eigene Amateurfunkstation, die mit bei der
       Onlineplattform AliExpress gekauften Sendern funktionierte.
       
       In den vergangenen acht Jahren war Rumjanzew regelmäßig auf Sendung und
       legte hauptsächlich sowjetische Hits auf. Das Signal seines Radiosenders
       ermöglichte es ihm, etwa zwei benachbarte Stadtteile abzudecken.
       
       Nach dem 24. Februar begann er, politischen Themen mehr Aufmerksamkeit zu
       schenken. Rumjanzew beschloss, seinen Nachbarn YouTube-Videos mit
       Oppositionellen, wie der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman, zu
       zeigen. Vermutlich zeigte ein Nachbar den Heizer bei der Polizei an.
       
       Im Sommer war er der Erste in der Stadt, der wegen „militärischer
       Falschmeldungen“ angeklagt wurde. Rumjanzew wurde beschuldigt, aus
       politischem Hass „wissentlich falsche Informationen“ über Aktionen der
       russischen Armee veröffentlicht und verbreitet zu haben. Am 15. Juli wurde
       er in Untersuchungshaft genommen.
       
       Grund für das Strafverfahren waren nicht nur Rumjanzews Radiosendungen,
       sondern auch seine Posts in sozialen Netzwerken. Nach dem 24. Februar
       veröffentlichte er fast täglich Nachrichten über den Krieg. Rumjanzew
       erklärte sich für nicht schuldig.
       
       Sein Anwalt Sergei Tichonow erklärte, dass das Gericht mit dem Strafmaß für
       seinen Mandaten wegen dessen Alter und Gesundheitszustand unter der
       Mindeststrafe von fünf Jahren geblieben sei.
       
       Aus dem Russischen [2][Barbara Oertel]
       
       22 Jan 2023
       
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