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       # taz.de -- Filmgroteske „Petrov’s Flu“ im Kino: Entführt im Leichenwagen
       
       > In Kirill Serebrennikows Filmgroteske „Petrov’s Flu“ flüchtet eine
       > Familie aus dem Irrsinn des postsowjetischen Alltags in radikale
       > Befreiungsfantasien.
       
   IMG Bild: Yura Borisov (Mitte) in „Petrov’s Flu“ (Kirill Serebrennikov), Russland 2020
       
       Fantasie kann eine tolle Sache sein, doch hat sie die Kehrseite, dass sie
       ganz gern mal ungesteuert ihr Ding macht und aus dem Unbewussten allerlei
       dunkle Dinge emporsteigen lässt. Das ist jedenfalls bei den Petrows so,
       einer ganz normalen russischen Familie, die, genauer betrachtet, eine ganz
       normale postsowjetische Familie ist, denn eben um das Ausloten dieser
       Schnittmenge geht es hier.
       
       Der derzeit im deutschen Exil lebende [1][Starregisseur Kirill
       Serebrennikow, der von den russischen Behörden wegen angeblicher
       Veruntreuung in einen jahrelangen Hausarrest gezwungen] worden war und in
       jüngster Zeit gerade rechtzeitig vor Kriegsbeginn in den Westen hatte
       ausreisen dürfen, drehte „Petrov’s Flu“ („Petrow hat Fieber“) im Jahr 2020,
       während gleichzeitig sein Prozess verhandelt wurde.
       
       Es handelt sich um eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Alexei
       Salnikow (in deutscher Übersetzung kürzlich im Suhrkamp Verlag erschienen).
       Und da der Regisseur, ähnlich wie die Petrows, über jede Menge Fantasie
       verfügt, hat er für die filmische Umsetzung so manches hochgeholt, was der
       Autor im Bodensatz seines Romans vergraben hatte. Dinge, die in der
       Literatur nur angedeutet werden, muss ein Film zeigen, damit sie
       vorstellbar werden. Wie das hier geschieht, kann ruhig (kon)genial genannt
       werden.
       
       Die Petrows sind Vater, Mutter und Sohn; und wenn diese Aufzählung mit dem
       Vater anfängt, dann deshalb, weil er es ist, um den sich in diesem Film das
       Universum einer surrealistischen nachsowjetischen Welt auf recht
       beunruhigende Weise dreht.
       
       ## Entführung aus dem Bus
       
       Petrow (Semjon Sersin), der grippebedingt hohes Fieber hat, ist mit dem Bus
       unterwegs, und zwar eigentlich nach Hause; aber auf dem Weg dorthin wird er
       entführt von seinem Bekannten Igor, der den Bus anhält, um Petrow
       herauszuholen und in einem Leichenwagen auf eine Sauftour mitzunehmen, die
       erst einen oder auch zwei Tage später endet. Fast von Beginn an werden wir
       unmissverständlich darauf hingewiesen, dass hier in Bezug auf die
       Realitätsebenen im Grunde alles als missverständlich zu verstehen ist.
       
       Schon bevor Igor den Bus anhält, ist Petrow nämlich einmal kurz entführt
       worden, um sich an einem Erschießungskommando in altstalinistischer Manier
       zu beteiligen. Diese Szene gibt es im Roman gar nicht; dort stellt Petrow
       sich während der Busfahrt nur flüchtig vor, getriggert von Gesprächen der
       Mitpassagiere, dass Wladimir Putin an einer Wand steht und auf seine
       Erschießung wartet. Das wiederum filmisch zu zeigen wäre natürlich
       unvorstellbar.
       
       Stattdessen baut Serebrennikow zwar eine Erschießungsszene filmisch aus,
       wendet sie aber zugleich ins Allgemeine und zeigt damit zweierlei:
       einerseits, ziemlich beiläufig, die brutale Verrohung der Gedanken auch der
       allerfriedfertigsten Menschen, der netten, gebildeten Otto-Normal-Petrows.
       Zum anderen, und vor allem, fungiert diese drastische Szene in ihrer
       absurden Explizitheit als Demonstration für die Unzuverlässigkeit aller
       Bilder, die im Folgenden gezeigt werden.
       
       ## Das Besäufnis und ein Selbstmord
       
       Der Großteil der nächsten Handlungselemente – Petrows Fahrt im
       Leichenwagen, das Besäufnis mit Igor und dessen Bekanntem und auch Petrows
       unrühmliche Beteiligung am Selbstmord eines glücklosen Schriftstellers –
       können mithin weder eindeutig dem Reich der Fantasie noch jenem der
       Wirklichkeit zugeordnet werden.
       
       Und wenngleich die Entführung aus dem Bus ein ausgesprochen
       unwahrscheinliches, surrealistisches Element ist, so bleibt sie
       andererseits doch die einzige Erklärung dafür, dass Petrow trotz seines
       fiebergeschwächten Zustands erst am nächsten Tag volltrunken zu Hause
       ankommt. Fast noch gruseliger schillert das Wirken von Petrowa (Tschulpan
       Chamatowa), Petrows geschiedener und dennoch mit ihm zusammenlebender
       Ehefrau, zwischen Fantasie und Wirklichkeit.
       
       Petrowa ist eine Bibliothekarin mit lebhafter Einbildungskraft, die nicht
       nur im Fieberwahn heimliche Mordgelüste gegen Personen männlichen
       Geschlechts hegt. Meistens (etwa wenn sie sich vorstellt, dass sie aus
       Versehen ihrem eigenen kleinen Sohn die Kehle durchschneiden könnte) setzt
       sie diese nicht in die Tat um, manchmal (wenn sie findet, dass jemand ein
       gewalttätiger Perversling ist) aber doch. Möglicherweise, wer kann das
       schon genau sagen.
       
       Einen von Petrowas Morden erleben wir jedenfalls – darin geht der Film
       deutlich weiter als der Roman – hautnah mit. Er findet auf einem Spielplatz
       am Rande einer desolaten Hochhaussiedlung statt, und angesichts der
       verrosteten Klettergerüste aus mindestens Breschnews Zeiten, die dort noch
       herumstehen und von der Kamera (Wladislaw Opeljanz) sehr sinister in Szene
       gesetzt werden, sind destruktive Gefühle jeglicher Art nur allzu
       nachvollziehbar.
       
       ## Modrige Atmosphäre des sowjetischen Zeitalters
       
       Ohnehin sieht es überall in diesem Film so aus, als sei das sowjetische
       Zeitalter niemals vergangen. Nicht der leiseste Hauch von urbaner
       Modernität kränkelt die gediegen modrige Atmosphäre an, die von den Bildern
       ausgeht. Die Menschen tragen Klamotten wie aus dem Kostümfundus, die
       Wohnung der Petrows scheint seit mindestens siebzig Jahren nicht renoviert
       worden zu sein, und in der Bibliothek hängt in einer hinteren Ecke noch ein
       großes Leninbild. Dass die ProtagonistInnen ganz selbstverständlich Handys
       benutzen, wirkt regelrecht anachronistisch.
       
       Farbtupfer zwischen den alles grundierenden Braun- und Grautönen entfalten
       eine dezent groteske bis irritierend poetische Wirkung, wie etwa der
       tiefblaue Riesen-Micky-Maus-Kopf, den Petrow sich spaßeshalber aufsetzt,
       als er mit seinem Sohn durch die triste graue Betonauffahrt schlendert, die
       zu ihrer Mietskaserne führt. Da kommen die beiden gerade vom Neujahrsfest,
       das in Russland eine Riesensache ist und für Kinder etwa dasselbe bedeutet
       wie für hiesige Kinder Weihnachten.
       
       Zu den öffentlichen Feiern, bei denen die immer gleichen Figuren immer
       gleiche Sprüche aufsagen und Väterchen Frost Süßigkeiten an die Kleinen
       verteilt, gehen die Kinder verkleidet. Petrow wird bei dem Anlass umgehend
       mental zurückversetzt in seine eigene Kindheit und zu einem Neujahrsfest,
       bei dem er die Hand einer Snegurotschka, einer Schneejungfrau, anfassen
       musste, die wirklich sehr kalt war.
       
       ## Russisches Neujahrsfest
       
       Die Szenen der Feier aus Petrows Kindheit unterscheiden sich, abgesehen von
       gewissen Fortschritten in der Kostümierung, kaum vom postsowjetischen Event
       des Sohnes. Beide verbreiten die freudlose Atmosphäre latent bedrohlichen
       Karnevalstreibens, die umso beklemmender wirkt, als die Kamera
       Kinderposition eingenommen hat und von unten auf das lautstarke Ritual
       blickt.
       
       Von heute aus gesehen möchte man gern aus den Bildern dieser vor über zwei
       Jahren gedrehten Alltagsgroteske eine Erklärung dessen herauslesen, was
       seitdem geschah. Das geht nicht; wenngleich man manche Dinge vielleicht
       doch ein bisschen besser versteht.
       
       Serebrennikow zeigt eine Gesellschaft, die sich zombiegleich in überholten
       Normen verhakt hat und in der die Freiheit des unabhängigen Individuums
       sich im großen Ganzen darin erschöpft, sich besinnungslos zu besaufen oder
       sich aus der deprimierenden Muffigkeit des Alltags in radikale
       Befreiungsfantasien zu retten.
       
       Als poetisch-satirische Analyse der postsowjetischen russischen
       Wirklichkeit ist das großartig gemacht und erzählt, aber aus dem finsteren
       Humor von Roman und Film spricht auch tiefe Verzweiflung. Unvorstellbar,
       dass dieser Film noch vor gut zwei Jahren in Russland produziert werden
       konnte.
       
       21 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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