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       # taz.de -- Desinformation in Ungarn: „Die Wahrheit wird völlig verdreht“ 
       
       > In Ungarn gibt es russische Propaganda auf allen Kanälen. Der
       > Oppositionsabgeordnete Márton Tompos macht die Regierung von Orbán dafür
       > verantwortlich.
       
   IMG Bild: Russland soll durch die Propaganda als vertrauenswürdiger Verbündeter von Ungarn dargestellt werden
       
       taz: Herr Tompos, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine läuft nun
       seit fast einem Jahr. Als Abgeordneter im ungarischen Parlament
       beschäftigen Sie sich mit Medienpolitik und Desinformation. Wie präsent ist
       russische Propaganda in Ungarn? 
       
       Márton Tompos: Wahnsinnig stark, sie ist allgegenwärtig. [1][Das
       Beunruhigende in Ungarn] ist, dass russische Propaganda auch von den
       staatlichen Medien und der Regierungspartei Fidesz verbreitet wird. In
       anderen Ländern läuft es subtiler über soziale Medien. In Ungarn hingegen
       dringt die Propaganda flächendeckend in den öffentlichen Diskurs ein. Das
       Thema hat die Impfkritik abgelöst, bei der den Milliardären George Soros
       oder [2][Bill Gates] angedichtet wurde, uns alle mit Chips töten zu wollen.
       Nun verbreiten sich Fake News über Russlands Angriffskrieg.
       
       Wo spielt sich das ab? 
       
       Die härtesten ungefilterten Lügen finden Sie [3][in den sozialen Medien],
       vor allem auf Facebook. Das ist in Ungarn die wichtigste Plattform.
       
       Wie muss ich mir die Desinformation konkret vorstellen? 
       
       Die Wahrheit wird völlig verdreht und die Menschen werden verunsichert. Ich
       denke da zum Beispiel an eine Fake-News-Meldung über Leichensäcke: Ein
       Video zeigte angeblich, wie Ukrainer ihren eigenen Tod inszenierten, um
       über „westliche Medien“ Sympathien zu gewinnen, aber der Wind wehte einen
       der Leichensäcke weg. Der „falsche Leichnam“, so die Propagandisten, zog
       sich den Sack selbst wieder an. In Wahrheit war das Ganze eine Aufnahme von
       einer Demonstration in Wien – ein völlig anderer Kontext. So perfide ist
       das.
       
       Worauf zielt die Propaganda ab? 
       
       Der ukrainische Freiheitskampf soll diskreditiert, die Sympathie für die
       Ukrainer verringert und Russland als vertrauenswürdiger Verbündeter gezeigt
       werden, anstelle der Europäischen Union, die sich angeblich immer in
       ungarische Angelegenheiten einmischt.
       
       Das passt also zur Politik Orbáns. 
       
       Voll und ganz. Offiziell hat Orbán gegen Russlandsanktionen noch nie Veto
       eingelegt, auch wenn er sie offen kritisiert. Wenn er Brüssel, Straßburg
       oder Berlin besucht, weiß er, welches Gesicht er aufzusetzen hat. Aber
       innerhalb des Landes nutzt er ein anderes Narrativ. Da wird er ordinär,
       diffamiert den Liberalismus des Westens und kuschelt mit Russland.
       
       Ungarn ist sehr stark von russischen Energielieferungen abhängig, handelte
       sich eine Ausnahme für das nun geltende Ölembargo der EU heraus und
       erneuerte Gaslieferverträge mit Russland. Geht es also vor allem um diese
       Abhängigkeit? 
       
       Der ist der direkteste Grund für Orbán: Um an der Macht zu bleiben, muss
       die Wirtschaft laufen. Dafür braucht es billige Energie. Die kommt, nach
       Orbáns Logik, nur von den Russen. Ein weiterer Grund: Orbán mag es nicht,
       eingeschränkt zu werden. Beziehungen zu Russland und China schaffen für ihn
       ein Gegengewicht zur EU, einen Trumpf, den er gegen Brüssel oder auch
       Washington ausspielen kann.
       
       Im Streit zwischen Brüssel und Budapest haben die EU-Staaten Milliarden an
       Mitteln für Ungarn eingefroren. Es geht um Vorwürfe der Korruption und
       Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit. Orbán hat seinerseits EU-Hilfen für die
       Ukraine zeitweise blockiert und erklärte Ende Dezember, künftigen
       EU-Sanktionspaketen gegen Russland nicht zustimmen zu wollen. 
       
       Fidesz fährt in Ungarn regelrecht Kampagnen gegen die EU-Sanktionen gegen
       Russland. Sie müssen sich eins klarmachen: Die zentrale Nachrichtenagentur
       in Ungarn ist staatlich organisiert und inhaltlich auf Fidesz-Kurs. Sie ist
       Teil der Propagandamaschine. Wenn Sie beispielsweise ein Automechaniker in
       einer kleinen ungarischen Stadt sind, dann haben Sie vermutlich weniger
       Zeit, die Nachrichten im Internet zu lesen, wo es noch unabhängige Stimmen
       gibt, sondern Sie hören bei der Arbeit den ganzen Tag lokales Radio. Die
       einzige Quelle, von der dann stundenlang ihre Informationen stammen, sind
       die Berichte von der zentralen Nachrichtenagentur.
       
       Wie läuft das im landesweiten Rundfunk? Können die Sender es sich leisten,
       russische Propaganda eins zu eins zu übernehmen? 
       
       Im landesweiten Fernsehen wird versucht, einen professionelleren Anschein
       zu wahren. Aber es gibt eine klare Parteinahme für Russland und die
       Propaganda funktioniert etwas subtiler über manipulative Muster, nach denen
       nachrichtliche Berichte aufgebaut sind.
       
       Wie sieht das aus? 
       
       Mit dem Krieg in der Ukraine läuft es ähnlich wie mit jeder Kritik an
       Fidesz. Wenn ich Viktor Orbán kritisiere, nennen Sie mich im Fernsehen
       nicht direkt einen Lügner. Aber der ganze Bericht beginnt mit einer
       Stellungnahme Orbáns, dass die Kritik nur ein Versuch sei, ihn zu
       diskreditieren. Dann folgt die Meinung irgendeines sogenannten Experten,
       der ihn stützt, und erst dann wird der ursprüngliche Vorwurf überhaupt
       erwähnt. Bei Berichten über den Krieg ist es ganz ähnlich.
       
       Kommt Propaganda auch direkt aus Russland? 
       
       Sie hat verschiedene Ursprünge. Es gibt einzelne prorussische Influencer,
       beispielsweise eine Frau, die in perfektem Ungarisch schreibt, aber in
       Sankt Petersburg lebt. Dann gibt es viele sogenannte nützliche Idioten, die
       Inhalte auf Facebook freiwillig verbreiten. Russische Geschichten werden so
       oft geteilt, dass andere Beiträge untergehen. Man kann Kampagnen bei
       bestimmten prorussischen Beiträgen ausmachen. Dafür werden auch Bots und
       Trollarmeen eingesetzt …
       
       … also massenhaft gefälschte Profile auf sozialen Medien, die Themen
       verstärken, kritische Stimmen diskreditieren oder die Diskussion ganz
       zerstören. Putin setzt bezahlte Manipulatoren und automatisierte Bots seit
       Jahren ein, auch aktuell im Krieg gegen die Ukraine. 
       
       Orbán hat sich die Idee der Trollarmee übrigens auch selbst aus Russland
       abgeschaut.
       
       Sie sprechen von Trollarmeen in Ungarn? 
       
       Ja. Es sind Fidesz-Anhänger, die das freiwillig machen. Sektenähnliche
       Jünger Orbáns. Die Diktatoren auf der ganzen Welt, Putin und Orbán, aber
       auch Erdoğan und Duterte, lernen voneinander, ihre Macht durch Propaganda
       zu verfestigen. Orbáns große Strategie ist es, den offenen Diskurs selbst
       zu verstören.
       
       Wie ist das zu verstehen? 
       
       Die Menschen sollen nicht mehr nur davon überzeugt werden, dass etwa die
       Russen im Recht sind. Es geht darum, Chaos zu stiften. Und wenn man Chaos
       stiftet, können sich Verschwörungstheorien viel besser verbreiten.
       
       Wie soll das Fidesz politisch helfen? 
       
       Wenn Chaos herrscht, gewinnt die stärkste Stimme. Und Fidesz hat die
       stärkste Stimme, weil die Partei nach dem lang geplanten Umbau der
       ungarischen Medienlandschaft mehr als 500 Medienkanäle kontrolliert. Also
       zerstören sie nun ganz grundsätzlich die Idee einer Überprüfbarkeit der
       Fakten, von Unabhängigkeit und Objektivität. Die Menschen sollen nicht mehr
       an den Austausch von Argumenten glauben können. Wenn ein großer Teil der
       Gesellschaft verunsichert ist, was überhaupt noch stimmt, dann steigt die
       Wahrscheinlichkeit, dass er Fidesz folgt, der starken Partei, die
       vermeintlich Licht ins Dunkel bringen.
       
       Dieses Interview ist Teil des Projekts „Decoding the disinformation
       playbook of populism in Europe“, das von dem European Media and Information
       Fund unterstützt wird, der von der Calouste-Gulbenkian-Stiftung verwaltet
       wird.
       
       26 Jan 2023
       
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   DIR Jean-Philipp Baeck
       
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