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       # taz.de -- Leben und Tod: Vom Anfang, vom Ende und dem Danach
       
       > Unsere Autorin begleitet ihre Mutter beim Sterben. Sie fragt sich, was
       > wir im Umgang mit dem Tod besser machen können.
       
       Das Sterben meiner Mutter fühlt sich an wie eine schwere Geburt. Es
       passiert etwas mit ihrem Körper, worüber sie kaum Kontrolle hat. Sie liegt
       in einem Bett in einem Berliner Hospiz, über ihr an der Decke ein Bild mit
       Wolkenhimmel. Sie ist unruhig, sie kämpft. Ständig versucht sie sich
       aufzusetzen, es wirkt, als würde sie von etwas auf die Matratze
       zurückgezogen. Sie zupft und zieht an unseren Ärmeln, zaghaft, mit letzter
       Kraft.
       
       Wir versuchen herauszufinden, was sie möchte, mit Ja-Nein-Fragen, der Tumor
       hat ihr die Stimme genommen. Wir, ihre Kinder, sitzen neben ihr, jedes zu
       einer Seite, Tochter und Sohn. Einmal noch, ganz nah. Irgendwann sagt sie
       ihre letzten verständlichen Worte: „Schöne Scheiße.“
       
       Das trifft ziemlich genau, was ich in den vergangenen Monaten erlebt habe.
       Ich habe meine Mutter beim Sterben begleitet, und weder sie noch ich waren
       darauf vorbereitet. Seither treibt mich die Frage um, warum es so kam und
       nicht anders, und ob es mit mehr Tod im Alltag nicht vielleicht –
       wenigstens ein kleines bisschen – einfacher wäre, einen geliebten Menschen
       sterben zu sehen.
       
       Meine Mutter ist an Krebs erkrankt, eine von jährlich 500.000 Menschen in
       Deutschland, in deren Leben diese Diagnose wie ein Komet einschlägt. Uns
       erreicht der Komet am 17. Dezember 2020. Meine Mutter, 63 Jahre alt und vor
       kurzem als Requisiteurin für Film und Fernsehen in Frührente gegangen, ist
       schon seit Wochen heiser. Ich tingle gerade für eine Recherche von
       Querdenker-Demo zu Querdenker-Demo. Am Tag zuvor schreibt sie mir eine
       Whatsapp:
       
       „Huhu, ich hoffe du gehst nicht im Querdenker Stress unter? Meine
       Stimmlosigkeit kommt von einer linksseitigen Stimmbandlähmung.
       (verunsichertes Emoji) war am Montag beim HNO Arzt und heute beim CT… jetzt
       warte ich auf den Befund und mir ist schon etwas mulmig. (zwei
       Kussmund-Herz-Emojis)“
       
       Ich frage sie, wann der Befund kommt, ob sie Schmerzen hat, ob der Arzt
       etwas zur Ursache gesagt hat. Keine Antwort, bis zum nächsten Abend nicht.
       Ich rufe sie an, genervt, weil sie mir nicht geantwortet hat.
       
       In einem Tagebuch habe ich den Einschlag des Kometen festgehalten:
       
       Dann kommt der Satz, vor dem ich mich in Gedanken schon so oft gefürchtet
       hatte: „Ich muss dir was sagen.“ Mir wird schlecht, mein Herz schlägt
       schneller, wie ein Trommelwirbel, der einen Schicksalsschlag ankündigt.
       „Ich habe ein Bronchialkarzinom und Metastasen an den Lymphknoten.“ Ich
       schweige nicht, da sind sofort Worte, die rauswollen, „Scheiße“ und „Fuck“.
       Ich stehe vom Küchenstuhl auf, gehe drei Schritte zur Tür und wieder
       zurück, sitzen, aufstehen, drei Schritte vor und zurück, sitzen, wieder
       aufstehen, bis wir auflegen. 
       
       Die Schriftstellerin Joan Didion beschreibt einen solchen Moment so: „Life
       changes fast, life changes in the instant. You sit down to dinner and life
       as you know it ends.“ In ihrem Buch „The Year of Magical Thinking“
       verarbeitet sie den plötzlichen Tod ihres Mannes, und immer wieder schiebt
       sie – wie um sich selbst zu vergewissern – diesen einen Satz ein: Life as
       you know it ends. Meine Mutter ist noch nicht tot, aber: Mit dem Kometen
       ist der Tod in unser Leben eingeschlagen, und ich frage mich, ob er nicht
       hätte anklopfen können.
       
       Warum bin ich dem Tod bisher so selten begegnet, und warum überrascht er
       mich so sehr? Ich lese mich ein. Auf die erste Frage finde ich eine profane
       Antwort: Es wird weniger gestorben, weil wir seltener schwer krank werden
       und länger leben.
       
       Die zweite Frage ist komplizierter. Der Psychologe Joachim Wittkowski
       begründet den Überraschungseffekt [1][in einem Artikel] der Zeitschrift
       fluter so: Weil wir ab einem Alter von 8 bis 10 Jahren verstehen würden,
       „dass Zeit linear ist und der Tod irreversibel“, das mache uns Angst, also
       verdrängten wir ihn, bis er vor der Tür steht.
       
       Der Kulturhistoriker Norbert Fischer sagt, das sei noch nicht immer so
       gewesen, erst seit der Moderne, als das christliche Weltbild anfing zu
       bröckeln. Da sei die Idee aufgekommen, „dass doch nicht Gott allein alles
       bestimmt“. Im 20. Jahrhundert sei der Tod immer weiter aus der Gesellschaft
       und in die Tabuzone gedrängt worden.
       
       Und in einem Psychologie heute-Interview [2][mit dem Therapeuten Jürgen
       Grieser] lässt sich nachlesen: „In großem Maßstab manifestiert sich unsere
       Haltung gegen den Tod in einer Überbeschäftigung mit Fortschritt und
       Konsum, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. {…} Solange ich kaufen kann,
       lebe ich – das ist gewissermaßen ein Gegengedanke zum Sterben.“
       
       Schuld sind also Gott, der nicht mehr da ist, der Kapitalismus, der ihn
       ersetzt hat, und unsere Psyche, die bei allem mitspielt, wie eine Komplizin
       des Bösen?
       
       Nach dem Telefonat am Küchentisch zieht das erste von vielen
       Gedankengewittern auf: Lungenkrebs, das bekommen doch nur die anderen. Die
       vom Hörensagen, die Freundin eines Freundes, der Vater einer Bekannten.
       Aber meine Mutter doch nicht, bestimmt ein Irrtum. Sie ist doch nur heiser.
       Und was, wenn doch?
       
       Ich denke an die Reportagen über den Pflegenotstand, die Bilder von
       Menschen, die für alles Hilfe brauchen, weil sie sowas haben wie Krebs. Und
       dann daran sterben. Es wird eng in meiner Brust. Wo ist mein großer Bruder?
       Den brauche ich jetzt. Aber der weiß noch von nichts, außerdem lebt er in
       Hongkong und wegen Corona kommt er da gerade auch nicht weg. In mein
       Tagebuch schreibe ich:
       
       Ich wünschte, ich könnte alle Verantwortung abstreifen, sie wie einen
       Mantel an einen Haken hängen und gehen. Ich schäme mich dafür, jetzt schon. 
       
       Im Licht des ersten Gewitters wird sichtbar, was ab diesem Tag unser Leben
       prägen wird: Angst, Ohnmacht und viele offene Fragen. Was passiert, wenn
       ein Mensch, den man liebt, an einer unheilbaren Krankheit erkrankt, was
       passiert, wenn er stirbt? Wer kümmert sich und welche Grenzen hat das
       Kümmern?
       
       In den Wochen danach fühle ich mich wie vom Leben betrogen. Das
       Gedankengewitter ist abgezogen, nun drehen sich meine Gedanken im Kreis:
       Warum sie, warum ich, warum wir? Innen ist alles seltsam dumpf, außen geht
       das Leben weiter wie eine schlechte Vorabendserie. Erst drei Wochen später
       bricht sich der Kummer Bahn, ich weine und weine und fühle mich danach wie
       eine verschrumpelte Birne.
       
       Und mein Körper tut Dinge, die ich nicht kenne. Ich google die Symptome
       „Plötzlich auftretendes Herzrasen, schwitzige Hände, Druck auf der Brust“.
       Doktor Googles Diagnose: Womöglich Panikattacke. Ich schreibe meiner
       ehemaligen Therapeutin eine Mail. Haben Sie noch Kapazitäten? Sie
       vermittelt mich an eine Kollegin, was für ein Glück, vorerst.
       
       Am 18. Februar beginnt die erste Chemo, und der tennisballgroße Tumor in
       der Lunge unserer Mutter heißt jetzt Hermann. Mein Bruder hat ihn so
       getauft. Irgendwo hat er gelesen, dass das helfen kann. Nicht gegen das
       Krebsgeschwür, aber gegen die Ohnmacht. Unsere Mutter bezieht ihr Zimmer in
       einem Krankenhaus am Rand von Berlin. Nach dem Mittagessen schreibt sie
       eine Nachricht in die Familiengruppe, an meinen Bruder und mich:
       
       „Alle sind sehr nett hier (Daumen-hoch-Emoji). Ein Arzt kommt irgendwann,
       ich darf im Park spazieren gehen… der Erbsen Graupen Eintopf war lecker und
       bestimmt sehr gesund. Damit ich mich nicht langweile, ist jetzt noch eine
       Omi zu mir ins Zimmer gekommen (Zwinker-Emoji)“
       
       Mein Bruder antwortet:
       
       „Das ist doch mal ein guter Einstand. Und jetzt – Hermann – bugger off!“
       
       Mein Bruder bemüht sich um Optimismus. Unsere Mutter, eine kleine,
       zierliche Frau, hat es schon seit ein paar Jahren schwer, ihr Gewicht zu
       halten. Nichts half, weil niemand darauf kam, dass es Hermann sein könnte,
       der mitisst. Sie wurde immer weniger, wie ihre Hoffnung auf Heilung. Aber
       mein Bruder, aus der Ferne, gibt nicht auf. Jetzt erst recht,
       zusammenhalten, durchhalten.
       
       Er ist es auch, der sich einliest, in die Welt der Tumore und Karzinome,
       während ich regelmäßig Befunde abfotografiere, um sie nie wieder
       anzuschauen. „Information is control“ schrieb Joan Didion, aber für mich
       gilt dieses Gesetz nicht. Ich gehe für Mama einkaufen und mit dem Hund,
       sitze in ihrer Küche und erzähle ihr aus meinem Leben. Der Einschlag des
       Kometen hat einen Krater des Grauens hinterlassen. Wir balancieren an
       seinen Rändern und versuchen nicht reinzuschauen.
       
       Nach der Chemo wird bestrahlt. Am 13. April schreibt unsere Mutter in die
       Gruppe:
       
       „Hermann ist geschrumpft (Sektgläser-Emoji, umarmendes Emoji,
       Sektflaschen-Emoji) und ab übermorgen wird das Bestrahlungsfeld verkleinert
       (umarmendes Emoji)“
       
       Wird jetzt doch alles wieder so, wie es neulich noch war?
       
       Für ein paar Wochen kehrt so was wie eine Vor-Diagnosen-Normalität zurück.
       Der Frühling macht, dass alles wächst, auch unsere Zuversicht. Meine Mutter
       geht wieder einkaufen, und manchmal zum Yoga. Sie kommt in die taz-Kantine
       zum Mittagessen, wir sitzen draußen und blinzeln in die Sonne. Mutter und
       Tochter im Alles-wird-gut-Modus.
       
       Im Juli geht der Kampf gegen Hermann in die nächste Phase. Denn Hermann hat
       meiner Mutter heimlich wieder ein Stück Leben abgegraben. Der nächste
       Schritt: eine Immuntherapie. Ich google die Nebenwirkungen und lande auf
       daskwort.de, einer Seite des Pharmakonzerns Roche. Ich lese den Slogan „Das
       K Wort – Diagnose Krebs, Sag Ja zum Leben!“ und wundere mich.
       
       Das K Wort? Das klingt wie ein billiges Rezept: einfach nicht mehr „Krebs“
       sagen und stattdessen das Leben bejahen. Ist auch das nicht Spiegel einer
       Gesellschaft, die versucht, die Krankheit, an der Menschen in Deutschland
       am zweithäufigsten sterben, aus dem Leben zu verbannen?
       
       ## Die Emojis sind traurig und haben Schweißperlen
       
       In den Nachrichten, die meine Mutter diesmal aus dem Krankenhaus schreibt,
       häufen sich die Wörter „müde“ und „schlapp“, die Emojis sind traurig und
       haben Schweißperlen auf der Stirn. Mein Alles-wird-gut-Modus schlägt um in
       Aktionismus. Je getrübter die Stimmung meiner Mutter, desto schneller werde
       ich: Ich kümmere mich um Vieles, aber wenig um mich selbst. Ich mache
       selten eine Pause, gehe oft ins Büro. Trinke mehr und esse weniger. Ringe
       um Kontrolle am Tag, suche ihren Verlust in der Nacht.
       
       Ich glaube, ich verdränge. Die Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim
       beschreibt das Phänomen in ihrem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender
       Zustand“ als Gratwanderung: „Flucht in Verdrängung ist so oft beides. Erst
       Notwendigkeit und dann Versäumnis. Und wenn man nicht spürt, wann der eine
       Zustand in den anderen kippt und man sich zu oft vor sich in sich
       versteckt, dann verliert man sich.“
       
       Immer wieder finde ich mich auf dem Grat wieder, den von Arnim beschreibt.
       Also verlängere ich meine Therapie. Manchmal sitze ich dort im Sessel und
       lasse los. Dann weine ich und fühle mich leichter, als hätte jede Träne
       zuvor ein tausendfaches ihres Gewichts gewogen. Immer öfter aber höre ich
       mich die immer gleichen Dinge sagen. Dinge wie: „Ich fühle mich so hilflos
       und klein. Wie kann ich bloß lernen, den Tod zu akzeptieren?“ Es tut gut,
       sie auszusprechen, doch sie finden keinen Widerhall. Kann eine „normale“
       Therapie so etwas leisten?
       
       In diesen Tagen stoße ich online [3][auf einen Artikel] im Süddeutsche
       Zeitung Magazin. Darin wird die Autorin und ehrenamtliche Sterbebegleiterin
       Ilka Piepgras zitiert. Piepgras schrieb einmal über die Faszination der
       Sterbebegleitung, „den eigenen Turbo-Lebensrythmus der langsamen Gangart
       eines verlöschenden Menschen unterzuordnen“. Während ich das lese, werde
       ich wütend. Ich will meinen Turbo-Lebensrhythmus, weil da Leben drin
       steckt, und ich will den auch für Mama, für den „verlöschenden Menschen“!
       
       Als ich mich beruhigt habe, denke ich, ehrenamtliche Sterbebegleitung, das
       könnte doch Teil der Lösung sein – für Sterbende und Zugehörige, denen im
       besten Fall Angst und Sprachlosigkeit genommen wird, und für die
       Begleitenden, die dem Tod eines Fremden schon mal die Hand schütteln
       können. Sollte das nicht zu einem festeren Bestandteil des
       gesellschaftlichen Lebens werden?
       
       Verdrängen kann zwar eine Bewältigungsstrategie sein, die uns vor
       psychischen Totalausfällen bewahrt, wenn wir die Täler existenzieller
       Krisen wie Krankheit oder Tod durchschreiten. Nur was, wenn eine ganze
       Gesellschaft verdrängt, was für jeden Menschen unausweichlich ist?
       
       „Dann fehlen ihr die Werkzeuge“, sagt Claudia Cardinal. Sie hat vor über 20
       Jahren damit begonnen, analog zur Geburtsheilkunde eine Sterbeheilkunde zu
       begründen, sie begleitet Sterbende und Trauernde und bildet andere zu
       Sterbeammen und Sterbegefährten aus. Diese Analogie ist so klar,
       eigentlich: Wenn ein Mensch ins Leben kommt, bereiten sich werdende Eltern
       oft akribisch vor, es gibt Hebammen, die sie begleiten, die darüber
       sprechen, wie sich der Körper verändert, ob es wehtut. Wenn ein Mensch
       geht, ist das Schweigen laut.
       
       Bei einem Gespräch erklärt Cardinal, dass mit der Aufklärung eine
       spirituelle Leerstelle um unsere Vergänglichkeit entstanden sei. „Man
       braucht nur die Frage nach der Seele zu stellen und gleich wird man
       gefragt: Bist du Esoterikerin oder so was?“ Dabei gehe es darum, Wege und
       Werkzeuge zu finden, bewusster und angstfreier mit dem Tod und den
       Gefühlen, die ihn umgeben, umzugehen, „die Sprachlosigkeit zu überwinden“.
       
       Auch ich bin sprachlos. Und ich frage mich unentwegt: Bin ich genug?
       Empathisch genug? Genug für sie da? Ist da genug Nähe? Genug Zuversicht?
       Aber auch: Bin ich ehrlich genug – mit ihr, mit mir, mit der Endlichkeit?
       Und: Wie weit reicht meine Verantwortung? Müsste ich mehr aufgeben von
       meinem Leben für das, was noch bleibt von ihrem? Wem würde ich damit
       gerecht werden wollen, mir, meiner Mutter, der Gesellschaft? Meine
       Therapeutin sagt: Sie tun, was Sie können, und das ist genug. Manchmal
       hilft es.
       
       Im September geht Mama in die Reha. Da ist Erleichterung, sie ist versorgt,
       ich kann weg, in die Berge, wandern, Luft holen. Am 22. September schreibt
       sie mir am Abend:
       
       „Verdacht auf Lungenentzündung
       (Schweißperle-auf-Stirn-Emoji/Kackhaufen-Emoji) keine Luft und keinen Bock
       mehr“
       
       Wir wissen es noch nicht, aber sie hat ihren letzten freien Atemzug schon
       getan.
       
       Am 12. Oktober ist die Reha vorbei. Rehabilitiert hat sie nur die
       Gewissheit, dass Hermann wächst und gedeiht. Meine Mutter liefert sich
       selbst ein. Die Lungenentzündung geht weg, aber die Atemnot bleibt. Die
       Ärztin bittet um ein Gespräch mit meiner Mutter und mir. Sie empfiehlt ein
       Hospiz. „Und vielleicht wäre es gut, über den Tod zu sprechen“, sagt sie.
       Ja verdammt, aber wie?, denke ich, nicke stumm und weine.
       
       Im Zimmer meiner Mutter hänge ich später auf dem Stuhl neben ihrem Bett und
       schaue in den grauen Himmel. Kraniche ziehen vorbei und ich will ihnen
       folgen, mit ihnen wegfliegen, egal wohin. Ich fühle mich schlecht. Da ist
       sie wieder, die Schuld. Wie sie abstecken, die eigenen Grenzen? Wie
       erspüren, dass sie erreicht oder überschritten sind? Oder hat die Schuld
       eine soziale Funktion, die richtig und wichtig ist? Das Individuum dazu zu
       bringen, über sich hinauszuwachsen und der Fürsorge für andere mehr Gewicht
       zu geben als sich selbst?
       
       Ende Oktober ist Mama wieder zu Hause. Ein Pflegedienst kommt nun zweimal
       am Tag, bringt Medikamente, einen Ständer für den Tropf, ein
       Sauerstoffgerät wird per Kurier geliefert. Es ist schwer und röchelt. Wir
       taufen es Darth Vader.
       
       Meine Mutter ist immer ein Küchen-Mensch gewesen. Dort saßen wir, tranken
       Kaffee, manchmal rauchte ich mit ihr, Pall Mall rot, obwohl ich eigentlich
       gar nicht rauche, immer lief das Radio. In der Küche ist Mama kaum mehr,
       sie liegt jetzt meistens im Bett.
       
       Vieles in ihrer Wohnung erinnert an ein Leben, das sie nicht mehr führt und
       nie mehr führen wird. Die bunten Klamotten auf der Kleiderstange, der
       Restaurant-Gutschein, den sie zu ihrem 64. Geburtstag bekommen hat, die
       Yogamatte, der Autoschlüssel. Ihr Schlafzimmer indes füllt sich mit
       Requisiten der Palliativmedizin.
       
       Ich lerne, dass Palliativ von palliare kommt, lateinisch für zudecken,
       bemänteln. Das ist irgendwie schön, fast tröstlich. Auch wenn das Wort
       Medizin hier eine Nebelkerze ist, denn mit medicina, der Kunst des Heilens,
       hat das Ummanteln nichts mehr gemein. Der Mantel lindert das Leid, aber er
       bekämpft es nicht mehr.
       
       An einem Samstag wasche ich Mama die dünnen, weißen Haare, kopfüber über
       der Badewanne. Ein paar Tränen tropfen mir vom Kinn, sie verschwinden mit
       dem Shampoo im Abfluss, Glück gehabt. Ich finde, sie soll mich nicht weinen
       sehen, nicht noch meinen Kummer mittragen. Also lasse ich keine Nähe zu,
       werde roboterhaft, liebevoll höflich, aber distanziert. Doch ist es nicht
       gerade Nähe, die sie jetzt braucht, und ich auch? Ich frage mich, wie
       Menschen es schaffen, ihre Angehörigen zu pflegen, manchmal jahrelang. Wie
       kriegen sie das hin, das mit der Nähe?
       
       Am Abend frage ich sie, ob sie sich fürchtet, und wie es sich anfühlt, an
       ein Hospiz zu denken. Sie zuckt mit den Schultern, „Ich weiß nicht.
       Komisch.“ Die Woche darauf telefoniere ich im Büro Hospize ab, zum Weinen
       verziehe ich mich auf die Feuertreppe, und schäme mich dafür, weil ich das
       Gefühl habe, das passt hier nicht hin, das darf hier nicht sein.
       
       Ob ich lieber mal zu Hause bleiben sollte oder ein paar Tage Urlaub
       angebracht wären, frage ich mich nicht. Ich weiß: Nicht arbeiten ist keine
       Option, und zu Hause sitzt auf dem Sofa die Angst. Dann doch lieber ins
       Büro.
       
       In einem Anfall von „Ich muss mich doch irgendwie vorbereiten“ kaufe ich
       das Buch „So sterben wir“ von Roland Schulz. Der Autor adressiert darin den
       Leser als sterbende Person, beschreibt den Prozess bis ins kleinste Detail.
       Ich komme bis zu Seite 32. Da steht:
       
       „Du bist schwach. Du hast Schmerzen. Du hast plötzlich zu viel und zu wenig
       Zeit zugleich. Zu wenig, weil du spürst, dein Leben verrinnt. Zu viel, weil
       du das, was dein Leben ausgemacht hat, nach und nach nicht mehr ausführen
       kannst.“
       
       Mein Brustkorb ist wie zugeschnürt, ich lege das Buch weg.
       
       Warum haben wir so etwas nicht in der Schule gelesen, frage ich mich
       später, und finde heraus, dass es in den USA seit den 1970er Jahren die
       Fachrichtung „death education“ gibt, auf deutsch „Unterrichtung über
       Sterben, Tod und Trauer“ (USTT). Sie soll „Kenntnisse über die
       Todesthematik vermitteln“ und den Menschen „den Umgang mit Sterbenden und
       Trauernden durch den Abbau von Ängsten erleichtern“.
       
       Während die Palliativmedizin seit 2009 in Deutschland im Medizinstudium
       gelehrt werden muss, hat es Unterricht über das Sterben bisher nur
       vereinzelt in die Schulen geschafft. Vor allem dort, wo Lehrer:innen
       selbst die Initiative ergreifen, sagt Claudia Cardinal, die professionelle
       Sterbeamme. Sie selbst habe eine Zeit lang jedes Jahr drei Tage mit
       Oberstufenschüler:innen zum „Sinn des Lebens“ gearbeitet, inklusive
       Besuch in einem stationären Hospiz. Das sei aber nur gegangen, weil ein
       befreundeter Lehrer ihr seine Unterrichtszeit zur Verfügung gestellt habe.
       Sonst gelte: „Das Thema wird in die Religionsfächer abgeschoben“.
       
       Seit Jahren fordere die Hospizbewegung, die Inhalte in die Lehrpläne
       aufzunehmen, aber immer wieder werde argumentiert, „es könne von den
       Lehrkräften nicht verlangt werden, da sie selbst unsicher mit dem Thema
       seien“. Weil schon die Erwachsenen nicht gelernt haben, mit dem Tod
       umzugehen, lernen es auch die Kinder nicht? Klingt nach Teufelskreis.
       
       ## Mama, sage ich, es ist Zeit für das Hospiz
       
       Am 28. November ist Mamas Angst vor der Atemnot so groß, dass sie die Nacht
       nicht mehr allein sein will. Es ist Sonntagabend, ich schiebe Darth Vader
       ins Wohnzimmer. Dann hole ich Mama hinterher, die durch den langen
       Schlauch, der ihr in der Nase klemmt, mit dem Gerät verbunden ist. Sie legt
       sich aufs Sofa, ich setze mich daneben. Wir schauen „Tatort“ – wie früher,
       als ich noch zur Schule ging –, ein letztes Mal.
       
       Später liegt sie im Bett und ich auf dem Sofa, die Türen stehen offen,
       damit ich ihr Not-Glöckchen höre, wenn sie die Angst heimsucht. Rufen kann
       sie nicht mehr. Das leise Gurgeln, Zischen, Röcheln des Sauerstoffgeräts im
       Nachbarzimmer macht mich schläfrig, aber ein Gedankengewitter zieht auf,
       hält mich wach, mit Fragen: Was mache ich, wenn sie panisch wird? Wenn sie
       große Schmerzen hat? Wenn sie kollabiert?
       
       Am nächsten Morgen, draußen ist es noch dunkel, klingelt der Pflegedienst
       sein kurzes Ankündigungsklingeln und öffnet die Tür. Puh, nochmal gut
       gegangen. Aber so geht es nicht weiter. Mama, sage ich, es ist Zeit für das
       Hospiz. Sie nickt, mit einem Blick, der sagt, es tut mir leid.
       
       Zwei Tage später, am 30. November, ziehen wir um. Ich packe ihre Tasche mit
       Dingen, die man braucht, wenn man auf eine Reise geht. Und ein paar
       Weihnachtskugeln, ein kleines Schaf aus Draht und Wolle, eine Lichterkette.
       Ich habe gehört, dass manche Menschen in einem Hospiz nochmal zu Kräften
       kommen und noch Monate leben, und selten, aber manchmal, kommen sie sogar
       wieder raus. Daran halte ich mich fest.
       
       Und als mein Freund und ich am Abend die letzte Tasche aus dem Auto geholt
       haben und durch die Tür des Hospizes kommen, läuft meine Mutter ohne
       Sauerstoffgerät, eingehakt bei einem Pfleger, aufrecht und mit einem
       schelmischen Grinsen den Flur auf und ab. Als wolle sie sagen: Ich bin
       gekommen, um zu bleiben.
       
       Doch die Tage darauf werden die Nachrichten immer seltener und kürzer,
       nicht mal für Emojis hat sie noch Kraft. Am Abend rase ich mit dem Rad zu
       ihr. Sie verlässt das Bett kaum noch, auch nicht zum Zähneputzen. Sie
       wünscht sich trotzdem eine neue elektrische Zahnbürste. Ich sage: „Ich
       kümmer mich.“
       
       Sie nimmt keine feste Nahrung mehr auf, trotzdem will sie wissen: Was essen
       wir an Heiligabend? Ich sage: „Ich überleg mir was“, und massiere ihr dabei
       die dürren Beine, die Haut, dünn wie Pergament.
       
       Am 7. Dezember am frühen Nachmittag kommen mein Bruder und sein Mann aus
       Hongkong an. Ab hier sind meine Erinnerungen fragmentiert, ich kann sie nur
       in Fetzen abrufen. Irgendwann rufe ich meinen Freund an und sage: „Ich
       glaub, es geht los.“ Wie bei einer Geburt.
       
       Die letzten 48 Stunden verschmelzen zu einer zeitlosen Masse. Es ist, als
       ob es nur noch diesen Raum, dieses Bett und uns gäbe. Vor dem Fenster die
       kalte, graue Stadt mit ihren Autos, den irgendwohin eilenden Menschen, den
       Touristen, den Hundehalterinnen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite
       fällt der Blick auf einen zugewucherten Friedhof mit verwitterten
       Grabsteinen – alles wirkt kulissenhaft und weit, weit weg.
       
       Die Pfleger:innen kommen und gehen wie stille Held:innen. Sie beobachten
       unsere Mutter, legen den Handrücken auf ihre Stirn, ersetzen leere Beutel
       am Tropf, geben neues Morphium rein, und Mama dämmert ihrem Tod entgegen.
       Wie lange dauert es noch?, frage ich, sehne mich nach Erlösung und wieder
       schäme ich mich dafür.
       
       Ich bleibe über Nacht, baue mir aus zwei Sesseln ein Bett und rolle mich
       darauf wie ein Embryo zusammen, mit dem Gesicht zu Mama. In meinem Handy
       habe ich die Erinnerungsfetzen ihrer letzten 12 Stunden festgehalten:
       
       Die Nacht hat sie tief geschlafen, den Mund weit geöffnet, langsam
       verändert sich ihr Körper, der Daumen wird als erstes blau, die Hand ist
       noch lange warm, zwischendurch leuchten ihre Wangen rot, Tumorfieber sagt
       die Pflegerin, der Tumor sondert Stoffe ab, das Immunsystem reagiert, immer
       noch, dann zerfällt auch Hermann irgendwann, ein schwacher Trost, eine
       kleine absurde Genugtuung, dass auch er mit ihr zu Grunde geht. 
       
       Mein Bruder zählt die Atemzüge pro Sekunde, die Pausen werden länger; wir
       beobachten sie, als wären wir Medizinstudenten in einem Praxisseminar. 
       
       Am frühen Morgen aufrichten, wieder in die Kissen fallen, mit den Armen
       rudern, die Hände greifen ins Leere, Flockenlesen nennt man das, die Augen
       weit aufgerissen, dann wieder fast geschlossen, im Delirium, die Lunge
       rasselt, sie röchelt, etwas brodelt, gluggert, man möchte es mit ihr
       aushusten, Todesrasseln sagen sie dazu. 
       
       9 Uhr letzte halbe Stunde 
       
       Der erste Schnee ist gefallen 
       
       Um 9.28 Uhr fangen die Friedhofsglocken an zu schlagen 
       
       Fast auf den letzten Schlag schlägt auch ihr Herz ein letztes Mal, nimmt
       sie den letzten Atemzug, japst ihre Lunge ein letztes Mal nach Luft, sie
       hat ihr Gesicht unter ihren Händen vergraben 
       
       Wir halten inne, einen zeitlosen Moment. Ich weine, aus verzweifelter
       Erleichterung. Um sie, um mich, um uns, um das, was war, was nicht war, was
       nie sein wird, oder nie mehr. Hatte sie Angst? Hatte sie Schmerzen?
       Verstand sie, was vor sich ging, oder fühlte sie sich ausgeliefert? War sie
       bereit zu gehen? Kann man das sein, bereit zu sterben? Ich glaube, sie war
       es nicht. Und ich auch nicht. Aber nun ist es vorbei und da liegt, was von
       Mama übrig geblieben ist, eine Hülle mit halbgeöffneten Augen und leerem
       Blick.
       
       Sie wurde 64 Jahre alt.
       
       Roland Schulz schreibt in seinem Buch:
       
       „Dein Anblick erschreckt. Gerade in einer Gesellschaft, in der Tod weniger
       als Gewissheit, sondern als Folge schlechter Lebensentscheidungen gilt.
       Einer Gesellschaft, die jung oder alt kaum mehr als körperliche Zustände,
       sondern als Geisteshaltung begreift.“
       
       Und ja, ich bin erschrocken, zutiefst, monatelang verfolgen mich die Bilder
       ihrer letzten Stunden, tauchen einfach auf, beim Abwaschen, beim
       Fahrradfahren, beim Einschlafen und Aufwachen.
       
       Für mich war der Tod keine Gewissheit, er existierte nur als abstraktes
       Konzept, auf die vermeintlich lange Bank des Lebens geschoben. Dann lernte
       ich am Donnerstag, den 9. Dezember um 9.29 Uhr in all seiner Endgültigkeit
       und in den Worten von Joan Didion: Life as you know it.
       
       Ein Jahr später, es geht auf den Dezember 2022 zu, schreibe ich an diesem
       Text. Ich blicke auf das erste Trauerjahr zurück, von dem die meisten
       glauben, mit seinem Ende überwinde man den Verlust. Eine enge Freundin, die
       auch ihre Mutter verloren hat, fand kluge Worte dafür, wie es wirklich ist:
       „Die Trauer bleibt, der Schmerz bleibt, aber man baut sein Leben
       drumherum.“ Der Alltag ohne Mama nimmt langsam Konturen an, und dem Tod
       habe ich einen Platz in meinem Leben eingeräumt, dort, wo vorher eine
       Leerstelle war.
       
       Vor dem ersten Todestag fürchte ich mich fast. Dann ist er da, der 9.
       Dezember, der für mich für immer einen der größten Verluste markieren wird,
       und er wird schön. Wir gehen in dem Kiez frühstücken, in dem ich mit meiner
       Mutter lange Zeit gelebt habe, wir kaufen eine Amaryllis zum Einpflanzen,
       so eine hatte sie in der Adventszeit immer in der Küche stehen, wir treffen
       uns am Grab mit ein paar engen Freund:innen von mir, die meine Mutter vor
       allem aus der Schulzeit kannten, als die mit den bunten Hosen.
       
       Wir buddeln die Amaryllis ein, ein Freund hängt ein selbstgebasteltes
       Gesteck aus Mamas getrockneten Hortensien an einen Busch. Und all die
       Anspannung der letzten Wochen blättert langsam von mir ab.
       
       22 Jan 2023
       
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   DIR [2] https://www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/41058-geh-mit-deiner-angst-tee-trinken.html
   DIR [3] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/tod-leben-obligatorische-sterbebegleitung-90473
       
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