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       # taz.de -- Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan: Bedingt aufnahmebereit
       
       > In drei Monaten Aufnahmeprogramm ist nicht ein Mensch dadurch nach
       > Deutschland gekommen. Hilfsorganisationen kritisieren das Verfahren.
       
   IMG Bild: Januar 2023: Am Flughafen in Kabul werden Waren verladen, aber für bedrohte Afghan:innen wird der Weg ins sichere Ausland verzögert
       
       Köln taz | Mehr als drei Monate nach Verkündung des neuen
       [1][Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan] konnte bis heute noch keine
       von den Taliban bedrohte Person in Deutschland auf diesem Weg aufgenommen
       werden. Zwar liegt seit Ende Dezember 2022 die nötige Aufnahmeverordnung
       vor – verfahrensrechtlich gibt es also grünes Licht. Dennoch verhindern
       offenbar politische wie organisatorische Unstimmigkeiten, dass Betroffene
       tatsächlich gerettet werden können.
       
       Auf taz-Anfrage erklärt das Bundesinnenministerium (BMI) den schleppenden
       Start mit „komplexen Rahmenbedingungen“ und „völlig neuen Verfahren“ mit
       „einer Vielzahl von Akteuren“. Mit ersten Aufnahmezusagen besonders
       gefährdeter Afghan:innen werde „in den kommenden Wochen gerechnet“.
       
       Dabei wird ein [2][Ausweg für Betroffene] immer dringlicher. Die humanitäre
       Lage verschärft sich zusehends. So verboten die Taliban jüngst Frauen unter
       anderem, an Universitäten zu studieren und für nationale wie internationale
       NGOs zu arbeiten.
       
       ## Bundesregierung erreichten Anfragen im fünfstelligen Bereich
       
       Die Bundesregierung hatte das Aufnahmeprogramm bereits Ende 2021 im
       Koalitionsvertrag angekündigt, aber erst am 17. Oktober 2022 verkündet.
       Durch den Ukrainekrieg und durch Meinungsverschiedenheiten mit der
       Zivilgesellschaft verschob sich der Start. Nun sollen bis zu 1.000 Afghanen
       pro Monat aufgenommen werden, zunächst bis Ende der Legislaturperiode.
       Bedrohte Afghanen müssen sich dabei neuerdings bei sogenannten
       meldeberechtigten Stellen melden. Dies sind Vereine, Verbände und NGOs aus
       der Zivilgesellschaft. Sie sagen insbesondere zu, für das BMI und das
       Auswärtige Amt (AA) eine Kernfunktion zu übernehmen: das Anlegen und
       Ausfüllen der Anträge für gefährdete Afghan:innen.
       
       So meldeten sich in den Tagen nach Bekanntmachung des Programms über Links
       im Netz mehrere Zehntausend Menschen bei Hilfsorganisationen wie Kabul
       Luftbrücke, Mission Lifeline und Reporter ohne Grenzen. Auch die
       Bundesregierung erreichten Anfragen im fünfstelligen Bereich. Doch
       angekommen ist in Deutschland bisher keiner dieser Hilfesuchenden.
       
       Vor allem der Umgang mit dem 40-seitigen Online-Meldebogen für die
       Betroffenen, der der taz vorliegt, ist dabei umstritten und wenig
       transparent. Menschenrechtler:innen bezweifeln, dass damit tatsächlich
       die am stärksten gefährdeten Personen rasch Aufnahme finden. Auch besteht
       Sorge, dass verschiedene Gruppen unter den Antragsteller:innen
       gegeneinander ausgespielt werden könnten.
       
       Das Bundesaufnahmeprogramm möchte vor allem „besonders gefährdete“ Menschen
       aus Afghanistan erfassen. Im Einzelnen: Aktivisten für Frauen- und
       Menschenrechte, aus den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Kultur und
       Sport. Dazu Personen, die sich in Wissenschaft, Bildung oder der
       LGBTQI-Community besonders exponiert haben und als individuell gefährdet
       gelten oder die aufgrund ihrer Religion verfolgt werden.
       
       Welche Kriterien dabei wie gewichtet werden, legen BMI und AA nicht offen.
       „Die völlige Intransparenz beim aktuellen Punktesystem ist der größte
       Kritikpunkt“, so ein Rechtsanwalt, der für eine der involvierten
       Organisationen aktiv ist und anonym bleiben möchte. „Die Zivilgesellschaft
       möchte nachvollziehen, nach welchen Kriterien die von ihren Mitarbeitern
       aufwendig aufbereiteten Information bewertet werden.“
       
       ## Punktesystem undurchsichtig
       
       Im Antragsverfahren errechnet ein IT-basiertes Punktesystem, welche
       Personen Aufnahme finden sollen. „Anfangs war viel von einem Algorithmus
       die Rede, der anstelle von Menschen entscheidet“, so Stephanie Huber-Nagel
       von Reporter ohne Grenzen, einer der meldeberechtigten Stellen. „In
       Wirklichkeit handelt es sich eher um ein Scoring-System, über dessen
       Vergabekriterien wir keine Einblicke haben, was wir stark kritisieren. Wir
       hoffen sehr, dass nötige Anpassungen hier noch erfolgen können.“
       
       Kritik, die bisher am BMI abprallt: Bereits vor dem Start des Programms
       habe es einen intensiven Austausch mit den am Programm interessierten NGOs
       und Vereinen zu allen Verfahren und Prozessen gegeben.
       
       Axel Steier von Mission Lifeline dagegen kritisiert die Art und Weise, wie
       sich das BMI die finale Auswahl vorbehält und offenlässt, welche
       Informationen es mit der höchsten Punktzahl bedenkt. Der Online-Meldebogen
       frage etwa deutsche Sprachkenntnisse ab, gemachte Reisen nach Deutschland
       und die vermutete Integrationsfähigkeit der Betroffenen. „Das macht den
       Eindruck, als gehe es weniger um die akute Gefährdung von Betroffenen als
       um ihre mutmaßliche Nützlichkeit für die deutsche Leistungsgesellschaft“,
       kritisiert Steier.
       
       Wer kein Deutsch oder Englisch spreche, meint Steier, habe kaum die Chance
       auf Aufnahme, obwohl er womöglich in erheblicher Gefahr schwebe. „Ehemalige
       Ortskräfte, etwa Fahrer in deutschen Diensten, Polizisten oder Militär, die
       Deutschland in den vergangenen zehn Jahren geholfen haben und womöglich
       gefoltert wurden oder denen dies akut droht, blieben außen vor dabei“,
       fürchtet er.
       
       Bei [3][Mission Lifeline] sind seit Start des Programms mehr als 28.000
       Hilferufe aus Afghanistan eingegangen. Hinzu kommen rund 1.500 ältere Fälle
       aus den Jahren 2021/22. „Wir bearbeiten jeden einzelnen Fall ausführlich
       und ordnen ihn ein“, so Steier. „Das tun wir mit fünf halben Stellen bei
       uns. Alle sind finanziert aus Spendenmitteln. Das reicht vorne und hinten
       nicht, um alle Fälle zeitnah zu bearbeiten.“
       
       Auch andere von der taz befragte meldeberechtigte Stellen klagen, sie seien
       an der Grenze ihrer Kapazitäten. Diese Stellen der Zivilgesellschaft
       möchten zugleich anonym bleiben. Spräche sich herum, dass sie weitere
       Hilferufe annehmen, fürchteten sie eine nicht zu bewältigende Menge an
       neuen Anfragen.
       
       Zugleich sind die Mitarbeiter der meldeberechtigten Stellen aufgrund der
       neuen Onlineverfahren und Sicherheitsparameter des Programms auf
       technische Hilfe angewiesen. Dafür hat die Bundesregierung eine
       Koordinierungsstelle eingesetzt, die der Zivilgesellschaft zur Seite stehen
       soll. Sie umfasst aktuell 16 operative Stellen und weitere 16, die 2023
       geschaffen werden sollen. Finanziert wird dies vom BMI mit rund 3,3
       Millionen Euro.
       
       ## Unterschiedliche Angaben über Aufnahmeberechtigte
       
       So sind wegen der Last der ehrenamtlichen Mitarbeiter aufseiten der
       Zivilgesellschaft neuerdings auch mögliche Gelder für die meldeberechtigten
       Stellen im Gespräch.
       
       „Die Koordinierungsstelle hat uns gefragt: Wie viel Personalbedarf habt
       ihr? Wie viel Geld braucht ihr?“, so Axel Steier von Mission Lifeline.
       „Aber über dieses Stöckchen werden wir nicht springen. Sollten öffentliche
       Gelder den Mangel an Transparenz im aktuellen Verfahren zementieren,
       steigen wir lieber aus dem Programm aus.“
       
       Strittig ist zwischen Politik und Zivilgesellschaft zudem, wie viele
       Menschen überhaupt Anspruch auf Aufnahme haben. In das neue Programm
       fließen auch frühere Fälle ein, unter anderem aus dem Ortskräfteverfahren.
       Die Bundesregierung spricht von bisher über 28.000 gefährdeten Afghaninnen
       und Afghanen, die über verschiedene Aufnahmewege bereits nach Deutschland
       eingereist seien – womit man im EU-Vergleich weit vorne liege. Auf
       taz-Anfrage bleibt unklar, wie viele Ortskräfte – also afghanische Helfer
       im deutschen Auftrag – noch in Afghanistan ausharren und hier
       aufnahmeberechtigt wären.
       
       Organisationen wie Mission Lifeline fechten die Zählweise an. In
       Deutschland seien bisher nur 5.000 Ortskräfte mit Familie angekommen, so
       Axel Steier. „Es fehlen darin aber nach meiner Rechnung weitere 30.000
       Ortskräfte, die in Gefahr schweben – plus ihre Familien. Insgesamt sind es
       rund 120.000 Menschen mit Anspruch auf Schutz und Aufnahme“.
       
       BMI und AA arbeiten parallel zum Bundesaufnahmeprogramm an einer Zahl von
       Fällen aus dem Ortskräfteverfahren und der sogenannten Menschenrechtsliste
       aus der Zeit direkt nach Rückkehr der Taliban im August 2021. In vielen
       dieser Fälle, so ein Fachmann, der als Bindeglied zwischen AA und
       Zivilgesellschaft arbeitet und anonym bleiben möchte, habe das AA
       afghanische Mitarbeiter und Helfer sowie Menschenrechtsaktivisten nicht
       berücksichtigt und ihre Anträge möglicherweise nicht einmal angeschaut.
       
       „Ich sehe vor allem das BMI als Bremser“, meint Axel Steier von Mission
       Lifeline. Nach dem Wechsel zur Ampel-Bundesregierung seien viele
       Fachexperten in den Ministerien die Gleichen geblieben. „Oft mit einer
       politischen Linie, die mich an die Zeit unter Horst Seehofer erinnert.“
       
       Unklar ist auch, wie mit besonders gefährdeten Afghanen in Drittstaaten
       umgegangen wird. Aufnahme im neuen Programm findet offiziell nur, wer in
       Afghanistan lebt und dort als verfolgt gilt. Hunderte von Betroffenen, so
       Anwälte aufseiten der Zivilgesellschaft, befänden sich aufgrund gemachter
       Zusicherungen aber bereits in Nachbarstaaten wie Iran, Pakistan oder
       Tadschikistan. Sie zur Rückkehr nach Afghanistan aufzufordern, könne den
       Betroffenen nicht zugemutet werden. Es drohten unkalkulierbare Risiken.
       Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die De-facto-Machthaber in Kabul stellen
       zurzeit keine Pässe aus. Auch nötige Ausreisevisa sind Mangelware.
       
       ## Ein Scheitern würde alle treffen
       
       NGOs und Verbände fordern deshalb, die Politik müsse rasch nachbessern.
       Erschwerend kommt hinzu, dass Deutschland seit der Rückkehr der Taliban im
       August 2021 keine operierende Botschaft mehr im Land hat. Man setze daher
       „auf die Expertise derjenigen, die in Afghanistan tätig waren“ und „einen
       besonderen Bezug zum aufzunehmenden Personenkreis haben“, heißt es im
       Beamtendeutsch des BMI über die Hilfe der Zivilgesellschaft, ohne die es
       augenscheinlich nicht geht.
       
       Trotz aller Versicherungen: Auch eine Organisation wie Pro Asyl steht dem
       Deal abwartend gegenüber. Wie lange hält der fragile Pakt zwischen Bund und
       Zivilgesellschaft zum Aufnahmeprogramm für Afghanistan also? Raufen sich
       beide Seiten am Ende zusammen, weil ein Scheitern alle treffen würde?
       Günter Burkhardt von Pro Asyl fordert neben einem veränderten
       Antragsverfahren vor allem ein rasches, reformiertes Ortskräfteverfahren
       mit beschleunigtem Familiennachzug. Eine Türsteherfunktion für ein wenig
       ausgegorenes Bundesaufnahmeprogramm wolle die Zivilgesellschaft nicht
       übernehmen.
       
       „Früher oder später werden Teile der Zivilgesellschaft aus dem Programm
       aussteigen“, vermutet Axel Steier. Seine Organisation werde die nächsten
       Monate beobachten, was mit den weitergeleiteten Fällen passiert. „Sollten
       sich keine der von uns gemeldeten Fälle unter den Aufgenommenen befinden,
       wäre dies ein Zeichen, einen Haken darunter zu machen.“
       
       24 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Gerner
       
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