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       # taz.de -- Entlastung wegen Energiepreisen: Wenn die Zivilgesellschaft regelt
       
       > Die Entlastungsmaßnahmen der Regierung kommen oft spät oder sind zu
       > gering. Zivilgesellschaftliche Organisationen verteilen deshalb
       > Spendengelder um.
       
   IMG Bild: Im Garten hat sich das Gießkannenprinzip bewährt – bei staatlichen Entlastungen weniger
       
       Kann Entlastung gerecht gestaltet werden? Die Bundesregierung hat es
       wenigstens versucht. Als vergangenes Jahr klar wurde, dass Gas- und
       Strompreise durch den [1][Angriffskrieg in der Ukraine] drastisch steigen,
       steuerte die Ampel gegen, da sonst viele Haushalte ihre Rechnungen nicht
       mehr zahlen können: [2][9-Euro-Ticket], [3][Tankrabatt] und die
       [4][Gaspreisbremse] für alle – auch für Unternehmen und Menschen, die mehr
       Geld haben und nicht unter der Inflation leiden wie andere.
       
       Aber das Geld kommt längst nicht bei allen an, und selbst wenn, ist es zu
       wenig, beklagen Armutsbetroffene. Ein viel verwendetes Wort:
       Gießkannenprinzip. Überall wird ein wenig gegossen, egal wie trocken die
       Erde ist.
       
       Bei ihrem dritten Entlastungspaket hatte sich die Bundesregierung im
       September auf eine Energiepreispauschale von 300 Euro verständigt, die
       Beschäftigten mit dem Lohn ausgezahlt werden sollte. Dazu wurden andere
       Maßnahmen beschlossen wie eine Einmalzahlung für Rentner:innen und
       Studierende sowie eine Erhöhung des Kindergeldes. Doch nicht von allen
       werden die Maßnahmen als gerecht wahrgenommen.
       
       ## Keine gezielte Entlastung
       
       „Eine gerechte Entlastung wäre, wenn alle Menschen die 300 Euro bekämen“,
       so Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverband VdK, zur taz. Studierende
       etwa bekommen nur 200 Euro, für jedes Kind gibt es 100 Euro. „Noch
       gerechter wäre es, wenn Menschen mit kleinen Einkommen und Renten sowie
       sehr hohen Energiekosten gezielt entlastet werden.“ Auch die Chefin des
       Deutschen Gewerkschaftsbunds, Yasmin Fahimi, fordert eine gerechtere
       Verteilung: „Insbesondere für die kleinen und mittleren Einkommen brauchen
       wir unmittelbare, zielgenaue Direktzahlungen“, sagte Fahimi Ende Dezember
       der dpa.
       
       Im Oktober beriet eine Expert:innenkommission von 21 Menschen aus
       Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften sowie Umwelt- und Sozialverbänden
       die Bundesregierung. Wie könnten sie die Bürger:innen am besten
       entlasten? Für eine zielgerichtete Entlastung würden die Daten fehlen,
       argumentierte die Kommission. Und die geplante Gaspreisbremse könne erst ab
       März funktionieren. Die wurde schließlich von der Bundesregierung
       umgesetzt: Der Preis wird für Privatpersonen und kleinere Unternehmen für
       80 Prozent des Vorjahresverbrauchs auf 12 Cent brutto pro Kilowattstunde
       begrenzt.
       
       Zudem soll die Gasrechnung für Dezember für alle Haushalte übernommen
       werden. Sozialverbände wie linke Politiker:innen bewerten das
       kritisch. Dietmar Bartsch von der Linkspartei etwa kritisierte: „Das heißt,
       wer eine Villa mit Pool hat und acht Zimmern und richtig mollig warm heizt,
       der bekommt einen fetten Rabatt vom Steuerzahler. Und die Rentnerin, die
       schon über Jahre gespart hat und eine kleine Wohnung hat, die bekommt fast
       nichts. Das, meine Damen und Herren, ist nicht gerecht.“
       
       Besonders häufig von Armut betroffen sind Alleinerziehende. Laut [5][einer
       Studie], die Anne Lenze, Professorin für Familien-, Jugendhilfe- und
       Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt im Auftrag der Bertelsmannstiftung
       erstellte, sind 40 Prozent der Alleinerziehenden arm. Das ist vier- bis
       fünfmal häufiger als bei Paarfamilien. Alleinerziehende wie Nadja (41)
       wissen häufig nicht, wo sie noch sparen sollten – während gleichzeitig die
       Unterstützung vom Staat nicht reicht. Sie hat Kontakt zur Stiftung
       Alltagsheld:innen, die sich für die Rechte von Alleinerziehenden einsetzt.
       Das Geld ist knapp, noch knapper als zuvor.
       
       ## Doppelte Nebenkosten
       
       „Es gibt so ein paar Stellschrauben, wo man sparen kann. Aber ich merke, es
       gibt nicht mehr viele Schrauben, wo ich drehen kann, weil das schon
       ausgereizt ist“, sagt Nadja (41), die ihren Nachnamen nicht in Verbindung
       mit diesem Thema in der Zeitung lesen möchte. 1.200 Euro verdient die
       Künstlerin im Durchschnitt pro Monat. Momentan lebt sie für 600 Euro auf 49
       Quadratmetern in Berlin-Mitte – bleiben 600 Euro, um zwei Menschen
       anzuziehen, zu ernähren, mit Kultur und Hygieneprodukten zu versorgen.
       
       Als Freiberuflerin muss sie das Geld vorstrecken – weil sie 2022 unter dem
       Freibetrag von 10.347 Euro plus Kinderfreibetrag von 4.194 Euro lag, kann
       sie die Energiepauschale [6][erst mit der nächsten Steuererklärung „geltend
       machen“]. Nadja stört das, sie rechnet mit Nachzahlungen bei Strom und Gas,
       die möglicherweise schon früher von ihrem Konto abgehen, als die
       Energiepauschale eingeht. Und die Nebenkosten haben sich bereits im Oktober
       erhöht: von 100 auf 200 Euro im Monat für Heizung, Warm- und Kaltwasser.
       „Das klingt nicht viel, aber es ist das Doppelte.“ Hinzu kommen die
       gestiegenen Lebensmittelpreise.
       
       Wenn Nadja mehr Geld verdienen und über den Freibetrag kommen würde, müsste
       sie das Geld versteuern – und staatliche Hilfen wie der Kinderzuschlag
       würden wegfallen.
       
       Nadja fände eine Energiepauschale pro Haushalt besser. Zwei Erwachsene, die
       ein Kind haben, bekamen an Energiepauschale je 300 Euro plus 100 Euro fürs
       Kind. Macht 700 Euro. Nadja bekam bislang 100 Euro für ihren Sohn August
       und wartet auf die 300 Euro. Wären 400 Euro. „Es ist einfach nicht so im
       Verhältnis, finde ich“, sagt Nadja. „Ich hätte es schlauer gefunden, dass
       man das über eine Haushaltsregelung macht.“ Zum Beispiel 500 Euro für alle
       Haushalte – egal ob eine oder zwei Erwachsene darin leben.
       
       Das Bundesfamilienministerium äußerte sich bis Redaktionsschluss nicht
       dazu, ob es Nachbesserungsbedarf bei der Energiepauschale gibt. Ein
       Sprecher des Bundesministeriums für Finanzen erklärt, dass
       Alleinerziehenden und ihren Kindern „die Entlastungsmaßnahmen der
       Bundesregierung zugutekommen“, da „Eltern im Steuerrecht besonders
       gefördert“ würden. Dazu zählt der Sprecher auch, dass „der
       Ausbildungsfreibetrag ab dem Jahr 2023 von 924 Euro auf 1.200 Euro je
       Kalenderjahr angehoben wird“ und das Kindergeld auf einheitlich 250 Euro
       pro Kind erhoben wurde. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hatte das
       gegen den Willen der FDP durchgesetzt.
       
       ## Wer durchs Raster fällt
       
       „Immerhin das, das ist wirklich gut“, sagt Nadja. Doch manche fallen auch
       hier durchs Raster: Bei Alleinerziehenden, die auf Unterhaltsvorschuss
       angewiesen sind, wird ein Existenzminimum berechnet, um die Höhe des
       Vorschusses zu berechnen – dabei wird das Kindergeld angerechnet. Von der
       Erhöhung des Kindergelds bleibt für diese Gruppe also nichts übrig. Eine
       gerechte Entlastung ist das nicht.
       
       „Die Politik lässt alleinerziehende Mütter sowieso alleine“, sagt Heidi
       Baumann. Sie ist 76 Jahre alt, Pensionärin, ehemalige Studiendirektorin und
       war als junge Mutter einige Jahre selbst alleinerziehend. „Es sind ja auch
       immer Kinder betroffen, es geht deshalb auch um Kinderarmut. Darüber wird
       viel berichtet, auch der Zusammenhang zur Situation der Alleinerziehenden
       hergestellt, das wird von der Politik aber nicht aufgegriffen“, sagt
       Baumann. Sie findet, dass die Ampelkoalition die Entlastungsmaßnahmen
       gezielter hätte verteilen sollen: „Die Regierung hätte differenzieren
       sollen. Die Politik hat ja auch mitgekriegt, dass sich Mütter
       alleingelassen fühlen. Dazu gab es ja Fernsehberichte noch und nöcher.“
       Andere wiederum, wie sie selbst, bräuchten das Geld nicht. Baumann möchte
       ihr Geld deshalb spenden.
       
       Es gibt einige Vereine, die sich für eine zivilgesellschaftliche
       Umverteilung der Energiepauschale einsetzen: Der Verein Lichtblicke setzt
       sich für Senior_innenhilfe ein, viele Caritas-Verbände aus dem
       Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche rufen dazu auf, die
       Energiepauschale zu spenden, um armen Menschen finanziell und beim
       Stromsparen zu helfen. Heidi Baumann wollte aber bewusst alleinerziehende
       Mütter unterstützen: „Manche spenden an Ärzte ohne Grenzen, ich finde, das
       ist in diesem Fall nicht zielgerichtet.“ Es gehe ihr um eine Korrektur
       politischer Maßnahmen, weil das Geld mit der Gießkanne verteilt werde und
       die Not Alleinerziehender nicht wahrgenommen werde. „Die Gruppe der
       alleinerziehenden Mütter ist die Gruppe, die es am meisten braucht.“
       
       Sie hat ihre Energiepauschale an den [7][Energie-Soli der Stiftung
       Alltagsheld:innen] und des Vereins Fair für Kinder gespendet. Bei der
       Aktion wird bis Ende Januar die Energiepauschale von Privatpersonen
       gesammelt. 150.000 Euro wollen die Organisator:innen akquirieren.
       Lokale Organisationen geben diese in Form von Gutscheinen für Lebensmittel
       und Hygieneprodukte an bedürftige Alleinerziehende weiter.
       
       ## Der Auftrag der Politik
       
       Der „Bedarf“ der Alleinerziehenden wird nicht durch Formulare oder
       Ähnliches geprüft, sondern die Spenden werden Ende Januar auf
       Vertrauensbasis ausgegeben. Alleinerziehende sollen so einfach, schnell und
       diskriminierungsfrei unterstützt werden. Welche Alleinerziehenden davon
       profitieren, entscheidet sich nach Januar, wenn klar ist, wie viel Geld
       durch die Spendenaktion zusammenkam. Bislang hat die Zivilgesellschaft
       schon 75.000 Euro gespendet.
       
       Einerseits ginge es um kurzfristige Hilfe, sagt Heidi Thiemann, Gründerin
       der Stiftung Alltagsheld:innen: „Andererseits wollen wir die aktuelle
       Verteilungsungerechtigkeit gegenüber Alleinerziehenden sichtbar machen.“
       Dass es so weit überhaupt kommt, sieht Thiemann kritisch: „Es ist nicht die
       Aufgabe der Zivilgesellschaft, gerechte Umverteilung zu organisieren,
       sondern der Auftrag an die Politik, für sozialen Ausgleich und Frieden in
       der Gesellschaft zu sorgen.“
       
       Der Bund sieht also wenig Nachbesserungsbedarf, stellt den Ländern aber 1,8
       Milliarden Euro für Härtefallfonds zur Verfügung. Berlin, Hamburg und
       Schleswig-Holstein haben einen solchen Fonds schon eingerichtet. In Berlin
       beispielsweise sollen Armutsbetroffene durch ein Online-Verfahren einen
       Antrag stellen, um Energiesperren zügig aufzuheben oder zu verhindern. Dass
       diejenigen, die sowieso schon damit kämpfen, ihre Rechnungen zu bezahlen,
       aktiv werden müssen, um besser entlastet zu werden, ist fragwürdig. Dass
       dazu das Glück kommt, im richtigen Bundesland zu leben, ist nicht wirklich
       fair und einheitlich.
       
       24 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [5] https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Alleinerziehende_weiter_unter_Druck_2021.pdf
   DIR [6] https://www.swp.de/panorama/energiepauschale-300-euro-selbstaendige-2022-66033773.html
   DIR [7] https://energie-soli.org/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nicole Opitz
       
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