URI: 
       # taz.de -- Mobilmachung in Russland: Letzte Hoffnung Anwalt
       
       > Viele Menschen in Russland sind von der Mobilmachung betroffen. Erstmals
       > informieren sie sich über ihre Rechte, doch oft kann niemand helfen.
       
   IMG Bild: Ein russischer Reservist in Omsk verabschiedet sich von der Familie, Anfang Januar
       
       Den Russen wird oft vorgeworfen, viel zu langsam das Ausmaß der Katastrophe
       erkannt zu haben, in die sie, ohne besonderen Widerstand zu leisten und
       ohne zu verstehen, dass sie Opfer der staatlichen Politik wurden,
       hineingeraten sind. [1][Die Mobilmachung], die zwischen September 2022 und
       Januar 2023 alle wie ein Schlag traf, ist für Zehntausende Familien zu
       einem Todesurteil geworden.
       
       In Moskau kann man an der Bushaltestelle hören, wie junge Männer die
       Tauglichkeitsgrade diskutieren, nach denen einberufen wird. In den sozialen
       Medien kann man nachlesen, wer wie in die Musterungsstellen geholt wurde.
       Außerhalb Moskaus teilten Polizisten Vorladungen in den Fabriken aus. Dann
       wurden die Arbeiter festgenommen und zur Musterung gebracht. Einige wurden
       einfach auf der Straße verhaftet.
       
       Zum ersten Mal seit vielen Jahren versuchen Russen dringend herauszufinden:
       Welche Rechte haben sie, wie verhält man sich bei der Musterung? Was tut
       man, wenn man das Land nicht verlassen kann? Und: Kann ich töten und möchte
       ich sterben? Warum passiert das alles? Warum ist es so schrecklich?
       
       Eine Freundin ruft mich an. Weinend erzählt sie, dass ihr Vater einen
       Einberufungsbescheid bekommen hat. Dass er Rentner ist, dass er in der
       [2][UdSSR] zwei Jahre in [3][Armenien] gedient hat, aber nichts mehr davon
       erinnert. Dass er verstört ist wie noch nie. Dass sie einen Anwalt braucht
       und dass er Angst hat, in Moskau das Haus zu verlassen, weil sie ihn in die
       Musterungsstelle verschleppen könnten.
       
       Eine andere Freundin erzählt, dass sie ihren Mann – einen Reanimatologen –
       bislang noch in keine Brigade aufgenommen haben, aber in seinem Krankenhaus
       schon Listen zusammenstellen. Die Menschen werden an die „Frontlinie“
       geschickt. [4][Ihr Mann will das Land nicht verlassen]. Er ist Arzt und
       Vater eines kleinen Sohnes. Er spricht nicht über seine Ängste, aber seine
       Frau sucht auch einen Anwalt.
       
       Die Verlobte eines Mannes aus St. Petersburg, der bereits eingezogen und
       ins „Trainingslager“ gebracht wurde, schluchzt und erzählt von starkem
       Druck: Der Mann wird aufgefordert, den Kontrakt zu unterschreiben, für
       Fahnenflucht drohen sie ihm Strafen an. Es gehe ihm schlecht, er bitte um
       Freistellung. Seine Eltern wissen nicht, was sie noch tun können. Auch sie
       suchen nach einem guten Anwalt.
       
       Heute noch einen Anwalt zu finden, der von Mobilmachung betroffene Männer
       vor Gericht vertritt, ist eine der wenigen Möglichkeiten, der Einberufung
       zu entgehen. Ein Anwalt kann einschätzen, wie hoch die Chancen sind und
       gegebenenfalls zur Flucht raten. Oder helfen, die tausenden neuen Gesetze
       zu verstehen.
       
       Allerdings sind in [5][Russland] nur wenige kritische Menschenrechtsanwälte
       geblieben. Fast alle haben das Land mittlerweile verlassen und können nur
       noch online beraten.
       
       Aus dem Russischen [6][Gaby Coldewey]
       
       Finanziert wird das Projekt von der [7][taz Panter Stiftung]. 
       
       Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag [8][edition.fotoTAPETA]
       im September herausgebracht.
       
       11 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Mobilmachung-in-Russland/!5889714
   DIR [2] /UdSSR/!t5315896
   DIR [3] /Armenien/!t5217142
   DIR [4] /Russische-Emigrationswelle/!5845824
   DIR [5] /Russland/!t5007547
   DIR [6] /Gaby-Coldewey/!a23976/
   DIR [7] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245248
   DIR [8] https://www.edition-fototapeta.eu/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Xenia Babich
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Krieg und Frieden
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Russland
   DIR Mobilmachung
   DIR Soldaten
   DIR Menschenrechte
   DIR Kolumne Krieg und Frieden
   DIR Russland
   DIR Kolumne Krieg und Frieden
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Osteuropa – ein Gedankenaustausch
   DIR Kolumne Krieg und Frieden
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Russische Migranten kehren zurück: Angst vor Mobilmachung
       
       Nach der Mobilmachung im September 2022 flohen Tausende Männer aus
       Russland. Diejenigen, die zurückkommen, versuchen jetzt nicht aufzufallen.
       
   DIR Asylsuchende aus Russland: Mobilmachung als Fluchtgrund
       
       Die Zahl russischer Asylsuchender in Deutschland steigt. Tun die Behörden
       hierzulande genug, um deren Einberufung zu verhindern?
       
   DIR Alltag in Russland: Wunsch nach „Normalität“
       
       In Russland ist der Krieg kaum noch präsent im öffentlichen Raum.
       Vielleicht auch, um den Menschen Stabilität in unsicherer Zeit
       vorzugaukeln.
       
   DIR Kriegsalltag in der russischen Provinz: Vom Patriotismus ist nichts geblieben
       
       Newjansk am Ural hat bereits einige tote und verletzte Soldaten zu
       beklagen. Immer weniger Menschen verstehen, wofür in der Ukraine gekämpft
       wird.
       
   DIR Mobilmachung in Russland: Wenn der Krieg sprachlos macht
       
       Mit der Teilmobilmachung erreicht Putins Feldzug gegen die Ukraine jede
       russische Familie. Journalisten merken, dass sie anders schreiben müssen.
       
   DIR Mobilmachung in Russland: Angst vor der Front
       
       Viele Russen haben aus Angst vor der Einberufung ihr Land verlassen. Doch
       es gibt auch jene, die den Krieg billigen.
       
   DIR Auf dem Einberufungsamt in Russland: „Sag Julchen, dass ich sie liebe“
       
       Die Mobilmachung in Russland reißt Familien aus ihrem gewohnten Leben. In
       Moskau muss so mancher ins Militärcamp – und dann wohl bald in den Krieg.