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       # taz.de -- Endstation Ankunftszentrum: Nicht mal Sozialarbeiter gibt es
       
       > Im Ankunftszentrum Reinickendorf warten Hunderte Geflüchtete auf ihre
       > Registrierung. Ihre Fragen beantwortet notgedrungen der Security-Dienst.
       
   IMG Bild: Ankommen dauert mitunter ganz schön lange für die Geflüchteten im Ankunftszentrum in Reinickendorf
       
       Berlin taz | Seit einem Monat lebt der Afghane A. in Berlin – doch bislang
       wurde er noch nicht einmal als Asylbewerber registriert, erzählt er.
       Niemand habe ihm die Möglichkeit gegeben, Asyl zu beantragen, niemand seine
       Fingerabdrücke genommen. Und niemand sei da, der ihm erklären könnte, wann
       das endlich geschieht.
       
       Die taz trifft A. im [1][Ankunftszentrum für Asylbewerber] auf dem Gelände
       der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf. Dort sind
       nach Angaben des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten 800 noch nicht
       registrierte Asylsuchende in zwei Häusern untergebracht. A. ist nur zu
       Besuch bei einem Freund – er selbst wohnt in Tegel, im Flughafengebäude,
       sagt er.
       
       Da ist eigentlich das Ukraine-Ankunftszentrum untergebracht. Aber weil es
       zu wenig Asylunterkünfte in Berlin gibt, wohnen dort nach Angaben des
       Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) neben knapp 2.000 Ukrainern
       auch 978 nicht registrierte Asylbewerber wie A. Noch nimmt A. es gelassen.
       „Das ist dann wohl so in Deutschland, ich muss warten“, sagt er. „Ich kann
       es nicht ändern.“
       
       Nicht alle Flüchtlinge nehmen das so ruhig hin. Die taz trifft in
       Reinickendorf drei georgische Männer. Einer lebt seit fünf Monaten in
       Berlin, ist registriert und bekommt daher zusätzlich zu den drei Mahlzeiten
       auch gut 100 Euro Bargeld und eine medizinische Versorgung. Die beiden
       anderen leben, wie sie erzählen, seit sechs Wochen (der eine)
       beziehungsweise vier Tagen (der andere) auf dem Gelände und sind nicht
       registriert. Das macht die Männer wütend. „Wir können ohne Registrierung
       nicht zum Arzt gehen“, sagt F., der seit sechs Wochen wartet, dass etwas
       passiert und er dann auch eine Gesundheitskarte für Arztbesuche bekommt.
       
       ## Keine Sozialarbeiter
       
       Wann das sein wird, weiß er nicht. In dem Haus für nicht registrierte
       Asylsuchende auf dem Klinikgelände, in dem er wohnt, arbeiten keine
       Sozialarbeiter, die er fragen könnte. Wenn er Fragen hat, kann er sich nur
       an die Security-Mitarbeiter wenden – und auch das nur, wenn einer Schicht
       hat, der Russisch spricht.
       
       Vor ein paar Tagen hat sich F. am Finger verletzt – doch medizinische
       Versorgung habe er nicht bekommen. F. zeigt der taz die Wunde, die
       sichtlich unprofessionell mit blauen Fäden genäht wurde. „Die hat mein
       Landsmann genäht“, sagt F. – natürlich ohne Betäubung.
       
       Die Sprecherin des LAF, Monika Hebbinghaus, ist schockiert, als sie von der
       taz von dem Fall erfährt. Zwei Stunden später meldet sie sich zurück: Die
       Security habe den Mann gefunden und würde ihn jetzt zum Deutschen Roten
       Kreuz bringen. Prinzipiell seien nicht registrierte Flüchtlinge zwar nicht
       krankenversichert, sie würden aber bei akuten Problemen entweder vor Ort
       versorgt oder in die Rettungsstelle eines Krankenhauses gebracht, so
       Hebbinghaus. Das allerdings setzt voraus, dass sich Geflüchtete an die
       Security ihres Hauses wenden und dort verbal oder nonverbal eine
       Verständigung möglich ist.
       
       „Wartebereich“ steht in zehn Sprachen vor dem Registrierungsgebäude auf dem
       Gelände. Davor regeln Männer der Security-Firma den Zugang. Sie sprechen
       freundlich mit den Neuankömmlingen. Die Szene wirkt entspannt. Kein
       Vergleich zu den Zuständen 2015 vor dem Landesamt für Gesundheit und
       Soziales in Moabit, wo Flüchtlinge nicht versorgt und sich selbst
       überlassen wurden.
       
       ## An der Belastungsgrenze
       
       Doch heute wie damals kommen die Behörden mit der Bearbeitung der Fälle
       nicht hinterher. Damals war es der Syrienkrieg. Aktuell steigen die
       Asylbewerberzahlen stark an – um rund 40 Prozent seit März 2022 –, weil die
       Balkanroute „wieder passierbar wurde“, so Hebbinghaus. Dass ihre Behörde
       bei einer solch starken Zunahme an ihre Belastungsgrenze komme, sei leider
       unvermeidlich. „Für solche Zahlen dauerhafte ‚Puffer‘ im System einzubauen
       – im Sinne von Plätzen, Personal – ist nur begrenzt möglich“, sagt
       Hebbinghaus. Das sei schon aus finanziellen Gründen so.
       
       Derzeit könne man täglich etwa 100 Menschen registrieren, gerade arbeite
       man Zeitarbeitskräfte ein, um den Rückstau in der Registrierung abzubauen.
       Immerhin: Im Vergleich zu 2015/16 bekommen alle in Reinickendorf zumindest
       ein Bett und drei Mahlzeiten. Sichtbar werden die Probleme erst, wenn man
       mit den Neuen spricht.
       
       Auch für die Security-Beschäftigten ist die Situation Stress. Die taz
       spricht mit einem Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Ihm würden von
       den Bewohnern Tätigkeiten abverlangt, die er nicht leisten könne, sagt er.
       Das ginge schon damit los, dass er sehr oft nach einem Weg in Berlin
       gefragt wird. Er habe jedoch kein Internet, um nachzuschauen. Und was solle
       er tun, wenn jemand über Schmerzen im Bauch oder eben am Finger klagt? Oft
       sei niemand da, an den er Fragende verweisen könne, sagt der Mann.
       
       Eine moldawische Mutter hat es endlich geschafft: Sie verlässt mit ihren
       drei Kindern und mehreren Koffern das Registrierungsgebäude. Nach fünf
       Wochen in Berlin wurde sie registriert. Doch wie geht es jetzt weiter mit
       ihr? Dürfen ihre Kinder endlich zur Schule gehen? Eine Frage, auf die ihr
       niemand eine Antwort gibt. Sie wird erst mal weiter im Ankunftszentrum
       wohnen.
       
       ## In andere Bundesländer umverteilt
       
       Anders ergeht es dem Kurdisch sprechenden Mann hinter ihr. Er hat bei der
       Registrierung eine Fahrkarte nach Eisenhüttenstadt bekommen. LAF-Sprecherin
       Hebbinghaus weist darauf hin, dass fast die Hälfte der in Berlin
       ankommenden Flüchtlinge in andere Bundesländer umverteilt werden. Das sei
       aber erst nach der Registrierung möglich, also nach mehreren Wochen in
       Berlin.
       
       Dann läuft ein junger Syrer geradewegs auf die taz-Reporterin zu – auch er
       will seine Geschichte erzählen. Er wohne nicht in einem der Häuser für
       Neuankömmlinge, sondern in einem [2][Tempohome], das sich auch auf dem
       Klinikgelände befindet: eine Containersiedlung für einen längeren
       Aufenthalt.
       
       Syrien habe er vor zehn Jahren verlassen, berichtet der Mann in fließendem
       Englisch. In der Türkei habe er die Schule abgeschlossen, mit den Eltern
       eine eigene Wohnung bewohnt und eine gut bezahlte Arbeit gehabt. Dann sei
       jemand vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR gekommen, erzählt er. Der habe
       gefragt, ob die Familie nicht nach Deutschland oder Frankreich wolle. Die
       Eltern hätten nicht zugestimmt, er selbst ja. Der Grund: Er sei schwul.
       „Dafür kann man mich in der Türkei umbringen. Und außerdem ist da die
       Gefahr, irgendwann nach Syrien abgeschoben zu werden.“
       
       Beim Stichwort Deutschland habe er an VW und BMW gedacht. Er hoffte, dass
       er vielleicht Ingenieur werden könnte. „Doch ich lebe seit sieben Monaten
       in Berlin, ziehe von Lager zu Lager, bekomme keine Wohnung, keine Arbeit.
       Seit zwei Tagen kann ich endlich Deutsch lernen“, erzählt der Mann. „Warum
       holt man mich nach Deutschland, wenn es hier nur Lager und keine Arbeit für
       mich gibt?“
       
       18 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Marina Mai
       
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