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       # taz.de -- Konzertempfehlungen für Berlin: Utopisches Potenzial
       
       > Ein Besuch im Musikgeschäft, Künstler, die mit sich selbst spielen, und
       > das friedliche Nebeneinander von Kriegsparteien sind diese Woche zu
       > erleben.
       
   IMG Bild: Bespielt die Mehrkanalinstallation im Konzerthaus: Eva Reiter
       
       Das Wort „Installation“ hat etwas Statisches, selbst wenn sein Ursprung,
       das lateinische Verb „installare“, einen Vorgang benennt. Bei dem wird
       allerdings jemand in ein Amt eingesetzt. Am Ende sitzt da folglich jemand
       auf einem Stuhl, eine Aktivität mithin, die auf einen auf Dauer angelegten
       Zustand abzielt. Bei Klanginstallationen ist die Sache für das Publikum in
       der Regel ebenfalls in vieler Hinsicht statisch, denn bei den
       vorbereiteten, meistens programmierten Klängen, die bei solch einer Arbeit
       aus Lautsprechern kommen, bekommt man beim Zuhören selten eine Vorstellung
       davon vermittelt, wie diese Klänge entstanden sind. Vom Musizieren in einem
       Konzert mit Menschen an Instrumenten ist diese Kunstform denkbar weit
       entfernt.
       
       Der Klangkünstler Hanno Leichtmann hat mit [1][„Le Cercle Rouge“] jetzt
       eine Mehrkanalinstallation entwickelt, die beide Ansätze, die „statische“
       Installation und das „dynamische“ Konzert, kombiniert und direkt
       aufeinander bezieht. Bei seiner daraus entstandenen Reihe, deren zweiter
       Teil am Freitag im Konzerthaus zu erleben ist, spielt stets ein Spieler mit
       (oder gegen) sich selbst. Die Gambistin und Komponistin Eva Reiter und der
       Sänger David Moss, der seiner erweiterten Vokaltechnik wegen zu den
       abenteuerlustigsten Stimmkünstlern von heute zählt, wechseln sich dabei ab.
       Hanno Leichtmann ermöglicht diese „Selbstgespräche“ durch Aufnahmen, die
       Reiter und Moss zuvor gemacht haben und die Leichtmann mit seinem
       umfangreichen elektronischen Gerät bearbeitet und zu Loops umformt.
       Leichtmann nennt dieses Material „lebendes Archiv“ (13. 1., 20 h, 15 €,
       Tickets: 030 – 20 30 9 2101, [2][http://bit.ly/3um6HkK]).
       
       Ein weiterer ungewöhnlicher Weg, ein Konzert zu konzipieren, fängt bei
       etwas ganz Grundlegendem an: den Läden, in denen Musiker:innen ihre
       Arbeitsutensilien kaufen. „Das Musikgeschäft“ nennt sich das „installative
       Musiktheater“ des Komponisten Neo Hülcker und des Dramaturgen Bastian
       Zimmermann, das am Freitag in den Uferstudios Premiere hat. Auf der Bühne
       wird das titelgebende Einzelhandelslokal als sozialer Ort zu sehen sein,
       verschiedene Musiker probieren dort Instrumente aus, auch das Publikum ist
       eingeladen, sich als Kunde einzufinden. Die Idee ist schon mal gut (13.-15.
       1., 19 h, 18/13 €, [3][www.uferstudios.com]).
       
       Ein völlig anderes Konzept verfolgt die Cellistin Martina Bertoni auf ihrem
       aktuellen Album „Hypnagogia“, das sie am Sonntag im Arkaoda vorstellen
       wird. Inspiriert ist es von der Lektüre von Stanisław Lems
       Science-Fiction-Roman „Solaris“, in dem der Schriftsteller die Idee der
       halluzinatorischen Wunscherfüllung durch Träume in phantastischer Form
       durchspielt.
       
       Hypnagogie ist ja der Zustand, den man etwa beim Einschlafen erleben kann,
       irgendwo zwischen Wachen und Schlafen, und zwischen diese Formen des
       Bewussten und Unbewussten passt auch ihre langsam schwebend geschichtete
       Musik, in der ihr Hauptinstrument nach Kräften von den Möglichkeiten
       elektronischer Klangerzeugung unterstützt wird, ganz vorzüglich. Den Abend
       teilt sich Bertoni mit dem Duo hÄK/Danzeisen, das an Schlagzeug und
       modularem Synthesizer einen durchaus lautstarken Dialog von akustischer und
       elektronischer Musik führt (15. 1., 21 h, 13 €, Tickets:
       [4][contact(a)karlrecords.net]).
       
       ## Beitrag zur Weltlage
       
       Große Bühne für die „neue Musik“ dann am Mittwoch. An diesem Tag eröffnet
       Ultraschall Berlin, das sich „Festival für neue Musik“ nennt. Unter den
       verschiedenen Möglichkeiten, die Musik von lebenden Komponisten und ihren
       Kollegen aus dem 20. Jahrhundert zu kategorisieren, ist auch das Adjektiv
       „neu“ nicht von der Kritik verschont geblieben. Was unter den zur Wahl
       stehenden Kandidaten wie „zeitgenössisch“ oder „aktuell“ zu bevorzugen
       wäre, lässt sich jedoch schwer eindeutig beantworten. Diesmal kann
       Ultraschall Berlin, zumindest zum Teil, auch als künstlerischer Beitrag zur
       gegenwärtigen Weltlage verstanden werden.
       
       Im Konzert mit der iranischen Bratschistin Muriel Razavi am Sonnabend (21.
       1.) im [5][silent green] stehen Werke iranischer Komponistinnen auf dem
       Programm. Anschließend ist ein Gespräch mit der Musikerin geplant. Und das
       Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Susanne Blumenthal
       lässt Donnerstag (19. 1.) im Großen Sendesaal des RBB Kompositionen aus
       Russland, Belarus und der Ukraine erklingen. Mehr utopisches Potenzial
       lässt sich von der Musik nicht verlangen (18.-22. 1., verschiedene Orte,
       [6][ultraschallberlin.de]).
       
       13 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.konzerthaus.de/de/programm/le-cercle-rouge/7969
   DIR [2] https://tickets.konzerthaus.de/eventim.webshop/webticket/bestseatselect?eventId=13241&uz=20%3A00&spst=20&da=13.01.2023
   DIR [3] https://www.uferstudios.com/veranstaltungen/alle-veranstaltungen/event/3010?date=
   DIR [4] /contact@karlrecords.net
   DIR [5] https://www.silent-green.net/
   DIR [6] https://ultraschallberlin.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
       ## TAGS
       
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