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       # taz.de -- Opposition gegen Putin-Regime: Ein langer Weg zum Frieden
       
       > Russlands Opposition ist noch zu schwach, um Putins Diktatur etwas
       > entgegenzusetzen. Trotzdem leisten viele Widerstand. Denn Aufgeben ist
       > keine Option.
       
   IMG Bild: Protest gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine
       
       Die russische Invasion in der Ukraine dauert nun schon fast ein Jahr. Sie
       hat bisher unvorstellbare Opfer gefordert: Zehntausende Tote, Millionen
       Flüchtlinge, zerstörte Städte und Infrastruktur, unsägliches Leid der
       Menschen, die diesen Winter ohne Strom und Wärme überleben müssen, und eine
       moralische Katastrophe des russländischen Volkes, das in einer Diktatur
       gefangen ist.
       
       Putins kriminelle Macht verlangt von den Russen, dass sie ihre
       Menschenwürde aufgeben, aber viele von uns leisten weiterhin Widerstand –
       im Gefängnis, im Untergrund und im Exil. Von der russischen Gesellschaft
       wird gefordert, sich dem Krieg anzuschließen und ihn zu unterstützen.
       
       Diejenigen jedoch, die sich weigern, werden verfolgt und zerstört. Dies ist
       in der Geschichte unseres Kontinents bereits geschehen. Jetzt sind wir –
       Aktivisten, Journalisten, die russische Opposition gegen die blutige
       Diktatur – noch zu schwach. Aber wir können es uns nicht leisten
       aufzugeben.
       
       Die deutsche Gesellschaft hat eine ähnliche Tragödie erlebt. Trotz einer
       Niederlage im Krieg und Besatzung gelang es ihr, sich wieder aufzurichten
       und nicht in einen neuen Revanchismus zu verfallen. Deutschland versucht
       heute zu Recht, vorsichtig zu sein, um nicht in einen neuen großen Krieg
       hineingezogen zu werden, der in Europa noch 2021 undenkbar schien.
       
       ## Dem Untergang geweiht
       
       Nichtsdestotrotz haben wir alle keine andere Wahl, als der Ukraine zu
       helfen, sich zu verteidigen. Es ist unmöglich, untätig zu bleiben, wenn
       Antischiffsraketen der russischen Armee Hochhäuser in der friedlichen
       ukrainischen Stadt Dnipro zerstören – so geschehen am 14. Januar 2023. Wenn
       Europa die Ukraine nicht rettet, ist es dem Untergang geweiht.
       
       Aus der Erfahrung Deutschlands wissen wir, dass der einzige Weg, Russland
       zu erneuern und in die europäische Völkerfamilie zurückzuführen, [1][eine
       militärische Niederlage Putins] ist. Dieser Weg wird wahrscheinlich nicht
       weniger schwierig sein als der Weg, den Deutschland im 20. Jahrhundert
       gegangen ist.
       
       Natürlich ist ein direkter Vergleich unserer Situation mit dem Zweiten
       Weltkrieg und dem Holocaust undenkbar, da die Taten der Nazis und die
       Anzahl ihrer Verbrechen ihresgleichen suchen.
       
       Aber Putin als ein Verbrecher hat mehrere Qualitäten, die man nur verstehen
       kann, wenn man sich an die Ereignisse von 1933 bis 1945 erinnert.
       
       ## Biblischer Verrat
       
       Im Gegensatz zu Putin hat Hitler allerdings nie behauptet, dass er die
       Brudervölker anderer Länder befreien wolle, indem er ihre Städte zerstört.
       Die Besatzer und Widerstandskämpfer während des Zweiten Weltkriegs
       verstanden die Sprache des anderen nicht und hatten keine Erfahrung damit,
       in einem (sowjetischen) Staat zu leben. Wir haben nicht länger das Recht,
       Ukrainer Brüder zu nennen, denn als Putin den Krieg entfesselte, beging er
       einen wahrhaft biblischen Verrat.
       
       Das geschah bereits 2014: Die Krim wurde von der Ukraine kampflos
       übergeben, weil niemand glauben konnte, dass die ehemaligen Brüder dazu
       fähig wären, mit der Waffe in der Hand auf die Halbinsel zu kommen und dann
       die erste Phase des Kriegs im Donbass zu entfesseln.
       
       Zudem konnte Hitler nicht die ganze Welt mit Atomwaffen erpressen. Das tut
       die russische Staatspropaganda heute täglich mit Erfolg. In TV-Talkshows
       werden mit sadistischem Vergnügen mögliche Ziele für einen Atomschlag
       aufgelistet: Berlin, Paris, London. Diesen staatlichen Sadismus machte
       Präsident Putin persönlich salonfähig. Viele Jahre lang wurde er während
       seiner offiziellen Reden nur in dem Moment munter, in dem er von einer
       Wunderwaffe sprach, die die ganze Welt zerstören könne.
       
       Am 24. Februar schrieb ich eine Redaktionskolumne für die Novaya Gazeta in
       Moskau und beendete sie mit den Worten: „Der Krieg wurde von einer Person
       in wenigen Stunden entfesselt, der Weg zum Frieden wird für jeden von uns
       lang sein.“
       
       ## Menschenwürde und Berufsethos
       
       Es scheint, dass wir heute erst am Anfang dieser Reise stehen. Wir
       unabhängigen Journalisten aus Russland können nur versprechen, dass wir
       nicht lügen oder unser Handwerk verraten werden.
       
       Sie halten die erste deutschsprachige Ausgabe der Novaya Gazeta Europe in
       Ihren Händen, in der wir über die Geschehnisse in Russland und Osteuropa
       berichten. Ich danke meinen Kollegen, die sich entschieden haben, im Exil
       für Menschenwürde und Berufsethos zu kämpfen, und deren Arbeit diese
       Publikation ermöglicht hat.
       
       Ich danke der Redaktion der taz für ihre Solidarität und Freundschaft in
       diesem Kriegsjahr. Und ich bin dem von Reporter ohne Grenzen gegründeten
       European Fund for Journalism in Exile (JX Fund) dankbar, dass wir unseren
       Beruf immer noch ausüben können.
       
       Die [2][Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation], die
       nach Beginn des Kriegs verboten wurde. Am 1. April 2023 wird sie 30 Jahre
       alt. Wir, Journalisten dieser Zeitung im Exil, werden dafür sorgen, das sie
       nicht dem Vergessen anheimfällt.
       
       Aus dem Russischen [3][Barbara Oertel]
       
       19 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bericht-aus-der-russischen-Armee/!5900295
   DIR [2] /Umgang-des-Kreml-mit-Kritikerinnen/!5876493
   DIR [3] /Barbara-Oertel/!a1/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kirill Martynov
       
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