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       # taz.de -- Griechisches Verfahren gegen Seenotretter: „Rein politischer Prozess“
       
       > Teile der Vorwürfe gegen Flüchtlingshelfende werden fallengelassen.
       > Für Menschenhandel müssen sie sich aber weiter verantworten.
       
   IMG Bild: Sean Binder, einer der Angeklagten im Prozess in Griechenland am 13. Januar
       
       Berlin taz | Nach einem jahrelangen Ermittlungsverfahren hat die
       griechische Justiz am Freitag Teile der Vorwürfe gegen 24
       Flüchtlingshelfer:innen fallen gelassen. Das Gericht auf der Insel
       Lesvos entschied, von einer Strafverfolgung wegen Spionage abzusehen. Grund
       für die Entscheidung seien Verfahrensfehler. So seien Justizunterlagen
       teilweise nicht übersetzt und den Angeklagten nicht zugänglich gemacht
       worden.
       
       Wegen Menschenhandel, Geldwäsche, Betrug und der unrechtmäßigen Nutzung von
       Funkfrequenzen müssen die Helfer:innen sich jedoch weiter verantworten –
       und viele Jahre Haft fürchten. Diese Vorwürfe wurden am Freitag zurück an
       die Staatsanwaltschaft verwiesen. Wann das Verfahren fortgesetzt wird, ist
       offen.
       
       „Wenn es so weitergeht, dauert das noch 50 Jahre“, sagte [1][der Angeklagte
       Sean Binder] nach dem Prozesstermin in der Inselhauptstadt Mitilini. Er
       hoffe, dass die ausstehenden Anklagepunkte schnell zur Verhandlung kommen.
       „Es sieht aber nicht so aus, als ob das bald geschieht.“ Gleichzeitig seien
       die Angeklagten sehr froh über das Ausmaß an internationaler Solidarität,
       dass sie erfahren hätten. „Das hat Druck auf die Staatsanwaltschaft und das
       Gericht aufgebaut, die Fehler anzuerkennen, die in dem Verfahren gemacht
       worden sind. So gibt es heute zu einem gewissen Grad weniger
       Ungerechtigkeit. Was wir aber wollen ist Gerechtigkeit“, so Binder.
       
       Der heute 28-jährige Ire hatte sich 2017 als Freiwilliger der griechischen
       NGO International Emergency Response Centre angeschlossen. Er hatte vor der
       griechischen Insel Lesbos nach Booten in Seenot Ausschau gehalten, um sich
       um mögliche Schiffbrüchige zu kümmern. Zu jener Zeit ertranken in dem
       Seegebiet Hunderte Menschen bei der Überfahrt aus der Türkei.
       
       ## NGO sehen den Prozess als politisch motiviert an
       
       2018 wird Binder zusammen mit 23 anderen Aktivist:innen, darunter die
       [2][syrische Leistungsschwimmerin Sarah Mardini], verhaftet. Nach mehr als
       drei Monaten in Untersuchungshaft werden Binder und [3][Mardini im Dezember
       2018] gegen Kaution freigelassen.
       
       Es handele sich um eine „ungerechte und unbegründete Strafverfolgung, bei
       der ihnen sehr schwere Vorwürfe gemacht werden, die im Falle eines
       Schuldspruchs zu 25 Jahren Gefängnis führen können“, schrieb die
       Menschenrechtsorganisation Amnesty International zu dem Fall.
       
       Menschenrechtsorganisationen sehen den Prozess als rein politisch motiviert
       an. In einem Bericht des Europaparlaments war von der „größten Affäre zur
       Kriminalisierung von Solidarität in Europa“ die Rede.
       
       Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hatte am Freitag die griechische
       Justiz aufgefordert, [4][alle Anklagen] gegen Helfer, die Migrant:innen
       unterstützen, fallen zu lassen. „Diese Art von Verfahren ist
       besorgniserregend, weil es Handlungen kriminalisiert, die das Leben von
       Menschen retten, und einen gefährlichen Präzedenzfall schafft“, sagte
       Sprecherin Elizabeth Throssell am Freitag. Das Retten von Menschenleben
       dürfe niemals kriminalisiert werden.
       
       ## Etwa 50 humanitäre Helfer verfolgt Athen derzeit
       
       Der Prozess hatte bereits im November 2021 begonnen, war jedoch wegen
       Verfahrensfragen vertagt worden. Die Menschenrechtsorganisation Human
       Rights Watch warf damals den Behörden vor, das Verfahren zu verschleppen,
       um Hilfsorganisationen von weiteren Rettungseinsätzen in Griechenland
       abzuschrecken.
       
       In Griechenland werden derzeit etwa 50 humanitäre Helfer strafrechtlich
       verfolgt. Auch in Italien drohen Aktivist:innen Strafen für die
       Hilfeleistung für Migrant:innen.
       
       Griechenlands 2019 gewählte konservative Regierung hat versprochen, das
       Land für Flüchtlinge „weniger attraktiv“ zu machen. Als Teil der Strategie
       soll eine 40 Kilometer lange Grenzmauer zur Türkei auf 80 Kilometer
       erweitert werden. Die Regierung setzt auf gewaltsame Zurückschiebungen von
       Flüchtlingen an den See- und Landgrenzen. NGOs sollen dabei möglichst
       ferngehalten werden.
       
       14 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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