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       # taz.de -- Proteste gegen Justizreform in Israel: Immer wieder samstags
       
       > In Israel gibt es viel Protest gegen die geplante Justizreform. Dagegen
       > protestieren Menschen, die politisch sonst nicht viel verbindet.
       
   IMG Bild: Protest gegen die Politik der neuen rechts-religiösen Regierung am 21. Januar in Tel Aviv
       
       Tel Aviv taz | Wer in diesen Tagen samstagabends im Zentrum von Tel Aviv
       unterwegs ist, taucht in ein weiß-blaues Flaggenmeer ein. [1][Bei den
       Protesten gegen die Pläne der neuen rechts-religiösen Regierung] unter
       Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wehen Tausende von Fahnen über den
       Köpfen der Demonstrant:innen. Einige haben sich in die Fahne ihres Landes
       eingewickelt.
       
       Die Israelflaggen sind mittlerweile zur Standardausstattung bei
       Demonstrationen gegen die von Netanjahu angeführten Regierungen geworden –
       seit er mit [2][rechtsextremen Parteien eine Koalition gebildet hat,] umso
       mehr. Die Fahnen illustrieren den Kampf um die Definitionshoheit über die
       Frage: Wer bestimmt, was dieses Land sein soll? Und sie markieren den
       Versuch, den von Netanjahu gekidnappten Diskurs zurückzuerobern.
       
       Seit Jahren delegitimiert der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht
       stehende Netanjahu sämtliche Menschen, die sich ihm in den Weg stellen, als
       „links“. Nicht nur jene, die sich selbst als links definieren, sondern auch
       Medien, die Opposition, die Polizei, Generalstaatsanwälte, selbst rechte
       Politiker*innen – und natürlich das derzeit so umkämpfte Oberste
       Gericht. Dabei ist „links“ zu einem Schimpfwort geworden, gleichbedeutend
       mit „Betrüger“.
       
       Doch es sind nicht nur Linke, die nun auf die Straße gehen. An den
       Protesten beteiligen sich auch Liberale – von links bis rechts. Auf Podien
       sprechen dort Leute wie der frühere Chef der israelischen Streitkräfte und
       Politiker der liberalen Mitte, wie Moshe Yaalon. Oder jemand, wie der
       bekannte israelische Autor David Grossman. „Jetzt ist die Stunde der
       Finsternis“, warnt der Schriftsteller. „Jetzt ist der Moment, aufzustehen
       und zu rufen: Dieses Land ist in unseren Seelen. Was heute in ihm
       geschieht, wird bestimmen, was es sein wird und wer wir und unsere Kinder
       werden.“
       
       ## Gegen die geplante Justizreform
       
       Die Organisator*innen der Demonstrationen bemühen sich, den Protest
       als unpolitisch zu bezeichnen. Sie wollen Fragen ausklammern, die die
       Einigkeit gefährden könnten. Mitunter aggressiv betonen
       Demonstrant*innen, die sich eher rechts verorten, dies seien keine linken
       Proteste. Die Linken, in Israel mittlerweile eine Minderheit, sagen das
       Gleiche. Nur in gänzlich anderem Tonfall, mit einer merkwürdigen
       Gefasstheit, die vielleicht Resignation vorbeugen soll.
       
       Die Strategie des Apolitischen scheint zunächst wirksam. Mehr als 100.000
       Menschen zog es am Samstag voriger Woche allein in Tel Aviv auf die Straßen
       – die größte Demonstration bislang. Auch in anderen Städten protestierten
       Tausende. Über Twitter gingen Luftaufnahmen der prall gefüllten Straßen
       viral.
       
       Im Zentrum der Proteste steht die [3][geplante Justizreform, die der neue
       Justizminister Yariv Levin] kurz nach seinem Amtsantritt vorgestellt hat.
       Das Ziel der Reform: das Oberste Gericht zu entmachten und dem Parlament
       die Kontrolle über die Ernennung der Richter*innen zu geben. [4][Es wäre
       ein Schritt, der das Land in ein illiberales System] wie in Ungarn oder
       Polen verwandeln würde. Und die Reform könnte – nicht ganz nebenbei – den
       in einem laufenden Verfahren vor Gericht stehenden Netanjahu vor einer
       möglicherweise drohenden Gefängnisstrafe bewahren.
       
       Zur Verhinderung dieser Justizreform ist ein breites politisches Spektrum
       auf den Straßen dringend nötig. Auch die IT-Branche ist dabei. „Wenn die
       israelische Demokratie zerbricht“, warnte Einat Guez, eine ihrer
       erfolgreichsten Managerinnen, „sind auch ausländische Investitionen in
       israelische Unternehmen bedroht“, bei einer Demonstration über die
       Lautsprecher.
       
       ## IT-Branche protestiert
       
       Für das High-Tech-Land Israel könnte dies einen ökonomischen Absturz
       bedeuten: „Die Start-up-Nation ohne Demokratie kann nicht existieren“, so
       Guez. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels gingen die
       High-Tech-Beschäftigten am vergangenen Dienstag in den Streik und
       protestierten auf den Straßen. Auch die Staatsanwälte drohten mit Streik.
       
       Der Protest wächst und nimmt Formen an, die sich als effektiv erweisen
       könnten im Kampf gegen die Justizreform. Doch in dieser Fokussierung auf
       die Justizreform sehen einige nur das Bekämpfen von einzelnen Symptomen
       anstatt der Ursache. „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung“, schallt es
       im Regierungsviertel Tel Avivs durch ein Megafon. Einige Dutzend Menschen
       rufen im Chor mit, „Palestinian lives matter“ ist auf Schildern zu lesen.
       
       Einer von ihnen ist Matan Kaminer: „Wenn es diesen Block nicht gäbe, wäre
       ich nicht hier“, sagt er. Hinter ihm weht eine palästinensische Flagge –
       sie ist zum Ausdruck der Gretchenfrage der Proteste geworden: Wie hältst
       du’s mit der Besatzung?
       
       Seit Beginn der Demonstrationen vor drei Wochen gibt es Streit um die
       rot-grün-weiß-schwarze Flagge. Itamar Ben-Gvir, der neue Minister für
       nationale Sicherheit, strafrechtlich verurteilter Siedlerführer und Chef
       der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke, ordnete an, jede
       palästinensische Fahne zu konfiszieren, die in der Öffentlichkeit
       geschwungen wird. Die Fahne zu schwenken, so begründete er seinen Schritt,
       sei eine Form der Terrorunterstützung.
       
       ## Streit um palästinensische Fahne
       
       Ben-Gvir hat vor wenigen Wochen qua Gesetzesänderung ein beispielloses
       Ausmaß an Macht über die Polizei erhalten, aber so leicht macht es ihm
       diese dann doch nicht. Zumindest bei der Demonstration in Tel Aviv flattern
       die wenigen Fahnen ungestört im Wind.
       
       Doch rechte Politiker:innen der Opposition sagten ihre Teilnahme an
       der Demonstration mit der Begründung ab, dass dort palästinensische Fahnen
       geschwungen werden könnten. Und der Gegenwind von einigen
       Demonstrant*innen ist mitunter heftig. Für eine Provokation, die bei
       diesem Protest nichts zu suchen habe, halten sie die Fahne.
       
       Bei den Demonstrationen der vergangenen Wochen wurden einige
       Aktivist*innen mit Palästinenserfahne angegangen. Die palästinensischen
       Israelis dürften spüren, dass dies – zumindest bislang – nicht ihr Protest
       ist, und so sind die Proteste bislang jüdisch geblieben.
       
       Für Kaminer steht jedoch fest, dass die Besatzung die Wurzel des Problems
       ist. „Ehe wir uns dem nicht stellen, haben wir keine Chance, eine wirkliche
       Demokratie zu haben.“
       
       ## Befürchtungen der LGBTIQ-Community
       
       Die Friedensbewegung Peace Now sieht das ähnlich. „Die Besatzung besetzt
       Israel“, prangt auf ihrem Banner. Die Besatzung hat nicht nur für die
       Palästinenser*innen Folgen, soll das heißen, sondern auch für die
       Israelis: Mit den Gesetzesvorhaben der Regierung könnten Praktiken, die im
       besetzten Westjordanland angewendet werden, bald auch nach Israel
       überschwappen, auch dort könnten Bürgerrechte außer Kraft gesetzt,
       Menschenrechte und grundlegende Prinzipien der Demokratie übergangen
       werden.
       
       Einige, die das zuerst zu spüren bekommen könnten, sind die Mitglieder der
       LGBTIQ-Community. Der 15-Jährige Aron etwa, der seinen Nachnamen nicht
       nennen möchte. In seinen Händen hält auch er eine Israelfahne, er sorgt
       sich um seine Zukunft in diesem Land. Zum Beispiel angesichts des
       sogenannten Diskriminierungsgesetzes, das in der Koalitionsvereinbarung
       zwischen Netanjahu und der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus steht.
       
       Eine Gesetzesänderung soll es Unternehmen und Ärzt*innen ermöglichen,
       Menschen den Dienst zu verweigern, wenn dies gegen ihre religiösen
       Überzeugungen verstößt. Betroffen wären wohl vor allem LGBTIQ-Personen.
       
       Kann angesichts solcher Aussichten aus den Protesten eine neue Vision
       entstehen, die Israel aus seiner politischen Sackgasse holt? Kaminer, der
       bei der Demonstration im „Palestinian-lives-matter“-Block mitläuft, zögert.
       Und meint: „Wenn wir diese rechtsextreme Regierung stoppen können, tun sich
       vielleicht andere Möglichkeiten auf. Bis dahin ist es ein Kampf im
       Notfallmodus.“
       
       29 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Proteste-gegen-Justizreform/!5906107
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       ## AUTOREN
       
   DIR Judith Poppe
       
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