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       # taz.de -- Eine Reise zum Gletscher: Mit Poesie im Gepäck
       
       > Unsere Autorin forscht zu Gletscherlyrik. Sie reist zum norwegischen
       > Jostedalsbreen, um den Eisriesen kennenzulernen – und um Abschied zu
       > nehmen.
       
   IMG Bild: Ein Gletscherarm im Jostedalsbreen-Nationalpark: 40 Meter türmt sich die Abbruchkante auf
       
       Der Gletscher ist ein Fluss aus Eis. Alles an ihm ist immerzu in Bewegung,
       obgleich man das mit bloßem Auge selten sieht. Der Körper des Gletschers
       schmilzt und gefriert und schmilzt erneut, walzt talabwärts, erodiert,
       bildet neue Vermächtnisse. Das Schmelzwasser speist die Flüsse; das
       Steinmehl, das der Gletscher beim Schürfen auf dem Grundgestein produziert,
       düngt die Ufer. Staub, Kies und Geröll sammeln und schieben sich
       stromabwärts, bilden neues Land. Energie verwandelt sich, leise oder laut,
       und wieder und wieder neu. Gletscher versetzen buchstäblich Berge.
       
       Ich möchte nach Jostedal in Westnorwegen fahren, um den größten
       Festlandgletscher Europas zu erkunden. Solange es ihn noch gibt und mein
       Körper mich hinaufträgt. Im Vergleich zum 7.000 Jahre alten Jostedalsbreen
       bin ich mit meinen 34 Jahren jung. Aber der Gletscher schmilzt rasant, und
       Zehntausende Eisriesen weltweit tun es ihm nach. Fast die Hälfte der
       Gletscher wird bis 2100 verschwunden sein, selbst wenn wir die
       Klimaerwärmung drastisch bremsen, hat eine gerade [1][veröffentlichte
       Studie] ergeben. Und nach einer Verlangsamung der Erderwärmung sieht es
       momentan nicht aus.
       
       Nach Norwegen will ich auch deshalb reisen, um einem Gefühl auf die Spur zu
       kommen, das als Erwachsene kaum mehr Teil meines Lebens ist: Staunen.
       
       Es wird mein erstes Mal auf einem Gletscher sein. Das ist schon darum
       komisch, weil Gletscher meinen Alltag bestimmen. Bücher über Gletscher und
       ihnen gewidmete Gedichtbände füllen türkis-blaue Regalmeter meines Büros.
       Ich bin freie Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
       Universität Augsburg, ich schreibe eine Arbeit zu Gletschern in
       zeitgenössischer nordamerikanischer Dichtung. Je weniger Gletscher es gibt,
       desto mehr Gedichtbände scheinen ihnen gewidmet zu sein, darum geht mir die
       Arbeit nicht aus.
       
       Selbst habe ich jedoch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, auf Hunderte
       Meter dickem Eis zu stehen oder diesen besonderen Wind im Gesicht zu
       spüren, der über den Gletscher streichen soll. Das will ich ändern.
       
       Auf meine Reise nehme ich Gedichte mit, die von Gletschern handeln; von
       ihrer Grausamkeit und Schönheit, ihrem Vergehen. Niemand hat ehrfürchtiger
       über Gletscher geschrieben als der Brite Percy Shelley. In seinem Gedicht
       „Mont Blanc“von 1816 setzt er dem Berg in den französischen Alpen und den
       ihn umgebenden Gletschern ein Denkmal.
       
       Of frozen floods, unfathomable deeps, / Blue as the overhanging heaven,
       that spread / And wind among the accumulated steeps; / A desert peopled by
       the storms alone
       
       Und voll gefror’ner Fluten, unfasslich / Blau wie der Himmelsüberhang, der
       fällt / Und sich um steile Wände schiebt, abgründig. / Ein wildes Land, vom
       Sturm allein bewohnt
       
       Shelley nennt die Gletscher auch „fließendes Zerstören, das sich in
       Ewigkeit wälzt“. Auf den Menschen, der in seinem kleinen Leben kaum je eine
       Ahnung des Sublimen, Ewigen erhascht, schaut Shelley mitleidig. „Seine
       Bemühungen vergeh’n als Hauch“.
       
       Mein liebstes zeitgenössisches Gletschergedicht ist Craig Santos Perez’
       „Thirteen Ways of Looking at a Glacier“ aus dem Jahr 2020. Der indigene
       US-amerikanische Dichter dreht und wendet den Gletscher, betrachtet ihn von
       allen Seiten, bis er ihm am Ende in der warmen Hand zerrinnt.
       
       Humans and animals / are kin. / Humans and animals and glaciers / are kin
       
       Menschen und Tiere / sind verwandt. / Menschen und Tiere und Gletscher /
       sind verwandt
       
       Diese Verwandtschaft möchte ich erkunden. Außer den Gedichten kommt noch
       Raphael mit auf die Reise nach Westnorwegen, ein Freund und Fotograf. Rapha
       ist Schwede und lebt in Oslo. Wir kennen uns von der Arbeit auf einer Farm
       in der Nähe von Norwegens Hauptstadt. Mit seinem blonden Pferdeschwanz, dem
       Bart und der Outdoorhose mit zahllosen Taschen sieht Rapha aus wie ein
       Fjællräven-Katalog-Model, nur etwas zotteliger. Er hat ein Faible für
       Rituale, und so machen wir auf der Fahrt zum Gletscher Rast und prosten mit
       einem Kaffee vom Spirituskocher unserem Gletscherabenteuer entgegen. Skål.
       
       Unser Gefährt ist ein blauer Sprinter, den ich von einem Freund geliehen
       habe. Auf engen Talstraßen westwärts rutschen vorne auf der Ablage meine
       Gletscherbücher hin und her. Abends, kurz vor unserem Ziel, dem kleinen Ort
       Fjærland, schlafen wir in unserem unausgebauten Sprinter. Es riecht nach
       Diesel und Schrottplatz. Wir liegen auf dünnen Isomatten und fragen uns, ob
       wir nicht in einem Alter sind, in dem man sich mehr Komfort gönnen sollte.
       
       Gletscher faszinieren Menschen seit Jahrhunderten. Spätestens in der
       Romantik gab es in Europa einen regelrechten Run aufs Eis. Aus ganz Europa
       brachen in den 1840er und 1850er Jahren wohlhabende Schichten zu den
       alpinen Gletschern auf; in die Schweiz, nach Italien und Frankreich. Unter
       ihnen waren Künstler und Schriftsteller:innen wie John Ruskin, Goethe,
       Mark Twain, Samuel Coleridge sowie Percy und Mary Shelley.
       
       Mit Reifröcken, Spazierstöcken und ungeeignetem Schuhwerk schlitterten die
       Tourist:innen über das Eis und verbrannten sich jeden Zentimeter Haut,
       der nicht von Stoff bedeckt war; das Innere der Nasenflügel etwa und die
       Unterseite der Augenlider. Wer es heil zurück ins Hotel schaffte, spann in
       der Wärme des Kaminfeuers eisige Gruselgeschichten. Eine der damals
       verbreiteten Gänsehaut-Theorien war die Rückkehr einer baldigen Eiszeit.
       Von wissenschaftlichen Größen wie dem britischen Physiker Lord Kelvin
       verbreitet, wurde sie von Dichter:innen bereitwillig aufgenommen.
       
       Neben Shelley widmeten sich auch andere Romantiker:innen dem „ewigen
       Eis“, etwa Lord Byron, William Wordsworth und Adalbert Stifter.
       Angsteinflößend und unheimlich kommen die literarischen Gletscher in
       dieser Zeit daher.
       
       The glaciers creep / Like snakes that watch their prey
       
       Die Gletscher schwingen / Sich wie auf Raubzug sei’nde Schlangen ein
       
       heißt es bei Shelley. Auch Friederike Brun betrachtet 1791 mit Unwohlsein
       die „Zackenströme“, die mit „Donnergetös“ aus „des ewigen Winters Reich“
       herabgeschossen kommen. Oft über Nacht wälzen sich die Gletscher der
       Gedichte ins Tal und begraben ganze Dörfer unter sich. Unvorstellbar heute,
       dass Menschen sich einst so vor Gletschern fürchteten.
       
       Literatur hält ihrer Zeit stets den Spiegel vor, und wie sehr sich das
       Verhältnis zwischen Mensch und Natur in den letzten 200 Jahren verändert
       hat, lässt sich anhand der Gedichte beobachten. Von um sich greifenden
       Ungeheuern sind die Gletscher zu einem aussterbenden Tier geworden. „Maybe
       the ice is starving“ – „Vielleicht ist das Eis am Verhungern“, schreibt die
       indigene Dichterin Vivian Faith Prescott aus Alaska in „Die-Off“. Unter
       großen Anstrengungen decken heute Forscher:innen einige wenige Gletscher
       im Sommer mit Vlies zu, riesigen weißen Stoffbahnen, die das Eis vor der
       UV-Strahlung schützen sollen. Ein Vorhaben, das beinahe zärtlich wirkt –
       und hilflos. Den Rest der immer schneller schmelzenden Eismassen müssen sie
       sich selbst überlassen. Wer heute zu den Gletschern reist, macht deshalb
       auch eine Art Kondolenzbesuch.
       
       Bevor wir den echten Gletscher besuchen, gehen wir ins
       [2][Gletschermuseum]. Es dient als Ausgangspunkt für Wanderungen, im Shop
       werden aus Holz gefertigte Wandertassen, Pullis mit Norwegen-Flagge und
       Elch-Magnete für den Kühlschrank verkauft.
       
       Pål Hage Kielland arbeitet als Geograf im Museum. Er empfängt uns am
       Eingang vor einem Miniaturgletscher. Schwarzer Granitstein ist wie ein Tal
       ausgeschliffen, ganz oben thront ein Eisblock, dem man beim Schmelzen
       zusehen kann. „Das Eis wird von Bauern mit dem Traktor zu uns ins Museum
       gebracht“, erzählt Kielland. „Sie finden die Gletscherabbrüche auf ihren
       Feldern, unser Hausmeister muss sie dann mit der Kettensäge bearbeiten.“ Es
       sieht eher nach Kunst aus als nach einem wissenschaftlichen Modell. Was gut
       zur Ästhetik hier passt, das Museum wurde von dem norwegischen
       [3][Stararchitekten Sverre Fehn] gebaut.
       
       Der Jostedalsbreen (dal bedeutet Tal, breen heißt Gletscher) liegt auf
       einem Hochplateau im Westen Norwegens, in der Nähe des berühmten
       Sognefjords. Seine Größe lässt sich unten im Tal nur erahnen. Wäre man ein
       Vogel, ein Goldadler oder Seeadler zum Beispiel, die in dieser Gegend zu
       Hause sind, könnte man über ein gigantisches Eismeer gleiten, 474
       Quadratkilometer groß. Bis zu einem halben Kilometer türmt sich das Eis an
       der dicksten Stelle auf, das sind 7.000 Jahre lang Schneefall,
       zusammengepresst zu Eis.
       
       Menschen lernen den Jostedalsbreen durch seine zahllosen Arme kennen, die
       er in alle Himmelsrichtungen in die Täler ausstreckt, ein feucht-kalter
       Händedruck. Austerdalsbreen, Bøyabreen, Supphellebreen heißen sie, oder
       Nigardsbreen, Erdalsbreen, Brenndalsbreen. Im Vergleich zu Gletschern auf
       Island, Grönland oder Spitzbergen ist der Jostedalsbreen jung und nicht mal
       sonderlich groß. Doch allein während der Kleinen Eiszeit zwischen 1740 und
       1860 wuchs er vier Kilometer an. Die Temperatur war in der Region
       durchschnittlich lediglich um 1 Grad niedriger als heute. Katastrophale
       Ernteausfälle und Hungersnot waren die Folge.
       
       Kielland sagt, eine wichtige Aufgabe des Museums sei es, den Gletscher
       sinnlich erfahrbar zu machen. Darum gibt es hier ein Kino mit einem
       Panoramafilm, mithilfe dessen man den Gletscher mit einer Drohne
       überfliegen kann. Ohrenbetäubende Musik, spektakuläre Aufnahmen – der Film
       setzt ganz auf Überwältigung und offene Münder. Gar nicht unähnlich dem,
       wie die Romantiker:innen die Gletscher wahrnahmen.
       
       Schon um 1870 kamen die ersten Tourist:innen aus Deutschland und
       Großbritannien mit dem Schiff nach Fjærland. Man baute ein Hotel, die
       Bauern fuhren die Herrschaften dann zu den Gletscherarmen. Zum Gletscher
       war es, anders als heute, nur eine kurze Kutschfahrt. Gut verdientes Geld
       für die Bauern der Region. Schon damals hatten eine findige Hotelbesitzerin
       und ihr Bruder, ein Glaziologe, die Idee, ein Gletschermuseum zu bauen.
       
       Der Film ist zu Ende, etwas bedröppelt stehen wir neben einem ausgestopften
       Eisbären. Nach dem ganzen Panorama-Pomp haben wir genug von
       Gletschermodellen und Gletscherfilmen. Wir wollen endlich das Original
       bestaunen.
       
       Weit hinten im Tal beginnt der Nigardsbreen, ein Ausläufer des
       Jostedalsbreen. Man kann ihn vom Museum aus sehen und ohne langen Zustieg
       erreichen. Entsprechend viele Besucher:innen sind gekommen. Auf dem
       Parkplatz am Museum zählen wir mehr als zwanzig Camper-Vans mit deutschen
       Nummernschildern.
       
       Gemeinsam mit vielen anderen gehen wir über das Steinmeer, durch die
       „Geister der Gletscher“, wie es bei der amerikanischen Dichterin
       Elizabeth Bishop heißt. Das steinerne Gletscherbett, auf dem der
       Gletscher einmal lag, ist sanft gewellt, alles ist rund und abgeschliffen,
       nirgends gibt es Ecken oder Kanten. Man möchte sich gern hineinlegen in
       eine dieser ausgeschliffenen Kuhlen, die der Gletscher nach seinem Rückzug
       hinterlassen hat.
       
       Es beginnt zu regnen und wir gehen weiter, über glitschige Steine. Je näher
       wir der Abbruchkante kommen, desto lauter tost der Fluss, der Schmelzwasser
       ins Tal bringt, eine rasende Wasserwalze. Wir überqueren massive
       Stahlbrücken, die der Fluss zum Vibrieren bringt. Ganz oben stehen wir
       endlich an der Absperrung. Hier geht es nicht weiter, ohne Steigeisen und
       Guide. Ich möchte so gerne hinauf auf das Eis, es berühren, still stehen
       auf Hunderten Metern Eis. Doch bis es so weit ist, müssen wir uns noch
       gedulden. Also mache ich wie alle anderen Tourist:innen Fotos mit dem
       Handy, von denen ich weiß, ich werde sie wieder löschen. 1, 2, 3, Cheeeese.
       
       In den Nachrichten, aber auch in der Literatur und Kunst sind die Gletscher
       längst zur Metapher für die Klimakrise geworden, wie der Eisbär auf dem
       viel zu kleinen Eisfloß. Ein Symbol, eine Abkürzung. Fünf Millionen
       Menschen haben dem Pianisten Ludovico Einaudi dabei zugesehen, wie er vor
       kalbenden Eismassen im Polarmeer Piano spielt, seine „Elegy for the
       Arctic“, im Auftrag von Greenpeace.
       
       Das damit verbundene Phänomen ist ein Endzeittourismus, der die Probleme
       nur verstärkt. Je mehr Menschen in die Arktis reisen, um ihren Kindern ein
       letztes Mal Eisbären in freier Natur zu zeigen, ein vielleicht letztes Mal
       auf stabilem Packeis zu wandern, ein letztes Mal Gletscherzungen
       hinaufzuklettern, desto mehr CO2 wird in die Atmosphäre gepumpt, desto
       schneller verschwindet das Eis. Auch wenn ich mit Bus und Bahn nach
       Norwegen gereist bin, hätte ich, so gesehen, besser zu Hause bleiben und
       weiter meine Gletschergedichte studieren sollen.
       
       Am nächsten Morgen treffen wir unseren Guide. Gaute (ich nenne ihn heimlich
       Mountain-Gaute wegen der phonetischen Nähe zu mountain goat, Bergziege) ist
       um die 30, das Gesicht von UV-Strahlen etwas versengt und kompakt gebaut.
       Beim Aufstieg erzählt er, Norwegens Königin Sonja sei schuld an seiner
       Berufswahl. „Einmal habe ich sie getroffen, als sie gerade von einem
       Gletscher zurück ins Tal wanderte. Sie konnte nicht glauben, dass ich noch
       nie auf einem Gletscher war, obwohl ich doch hier aufgewachsen bin.“ Da
       habe er sich gedacht: „Wenn die Königin auf Gletschern wandert, muss ich
       das auch tun.“ So geht die Legende von Gaute, und nur er weiß, wie viel
       davon der Wahrheit entspricht. Dass die Königsfamilie in Norwegen ziemlich
       volksnah unterwegs ist und Sonja gerne wandert, spricht für seine
       Geschichte.
       
       Der Aufstieg zum Gletscherarm erfolgt auf engen, matschigen Wegen. Der
       Sommer endet hier im August, es hat viel geregnet, gut für den Gletscher,
       schlecht für uns. Über wackelige Brücken, umgefallene Baumstümpfe oder an
       Seilen überqueren wir Bäche, die zu Flüssen angestiegen sind, dabei
       schwanken und rutschen wir unter der Last unserer Rucksäcke. Nach zwei
       Stunden erreichen wir die Gletscherzunge des Haugabreen. Die Abbruchkante
       ist aus der Nähe betrachtet viel höher, als ich dachte. Sanft steigt der
       Gletscher an und sieht mit seinen faltigen Spalten aus wie ein zerwühltes
       Bett.
       
       Ganz oben am Berg geht das Eis in Nebel über. Wir stülpen uns Steigeisen
       mit stählernen Spikes an den Sohlen über, ziehen Helme auf, seilen uns an.
       Gaute verteilt Eisäxte, ich begutachte das ungewohnte Werkzeug. Wenigstens
       kleidungstechnisch sind wir besser ausgerüstet als die Tourist:innen im
       Eis und Schnee der Romantik.
       
       Uns angeschlossen hat sich eine vierköpfige Familie aus Berlin, die auf dem
       Rückweg aus Nordnorwegen ist. Dieses Jahr hätten sie das Thema Gletscher
       für sich entdeckt, erzählen sie, während wir lernen, am Seil zu gehen, ohne
       übereinander zu stolpern. Die ersten Schritte auf dem Gletscher sind
       ungewohnt, ich traue den scharfen Zähnen unter meinen Schuhen nicht, kann
       nicht glauben, dass ich mit ihnen auf dem Eis gehen kann. Doch, kann ich.
       Ich drehe mich zu meinem Freund Rapha um, er zieht sein Bergsteigergrinsen
       und macht ein paar Tanzschritte. „Wie Stilettos auf dem Eis“.
       
       Schweigend schiebt sich unsere kleine Karawane den Gletscher hinauf,
       verbunden durch das Seil. Mit jedem Schritt beißen unsere Steigeisen
       rhythmisch ins Eis. Die Stimmung ist andächtig. Jetzt bin ich endlich hier,
       denke ich und versuche alles um mich herum gleichzeitig wahrzunehmen. Die
       Mondlandschaft, den kalten Wind, meinen schweren Atem beim Aufstieg.
       
       Oben angelangt, will ich mir Notizen machen. Stattdessen sitze ich einfach
       nur auf dem Eis, während mein Hintern langsam nass wird, und schaue über
       das Eismeer. Gaute reicht mir ein Dosenbier. Etwas hindert mich daran, mir
       hochtrabende Gedanken zu machen über diese Erfahrung, während sie passiert.
       Das Übel aller Autor:innen, dass sie noch inmitten des Erlebens schon einen
       Schritt zurücktreten und abstrahieren wollen. Der Gletscher will nicht,
       dass ich das tue. Ich sitze und schaue.
       
       Beim Abstieg stürze ich, genau dann, als ich meine Steigeisen ausgezogen
       habe und die ersten Schritte zurück auf sicherem Untergrund tue. Genau
       dann, als Rapha und ich wieder zu zweit und auf uns allein gestellt sind.
       Ich stürze und sehe den Gletscher in Zeitlupe und dazu Raphas erschrockenes
       Gesicht, bevor ich mit der Wange auf einen Stein krache. Abends liege ich
       im Zelt, mir ist elendig kalt. Mit der rechten Hand habe ich noch versucht,
       mich abzustützen, nun ist sie geschwollen und nutzlos. Mein Wanderfreund
       ist besorgt, dass ich eine Gehirnerschütterung habe, weil ich mich an
       nichts erinnern kann.
       
       Ich versuche mit der linken Hand in mein Notizbuch zu schreiben, habe
       Angst, alles zu vergessen, habe Angst, im Schlaf zu sterben. Kann das nicht
       passieren bei Gehirnerschütterungen? Rapha zündet seine Pfeife an. Er
       schlägt vor, den Sturz als Initiationsritus zu sehen. Der Berg habe mich
       umarmt.
       
       Gut, dass ich liege, denn mein Körper fühlt sich an wie Pudding. Auf meinem
       Oberschenkel wächst eine gigantische Blessur. Die Mitte ist leer, während
       außen herum versprengte grüne, gelbe, blaue und violette Muster auftreten.
       Die Maserung des Steins hat feine Linien auf der Haut hinterlassen.
       
       Mein Kopf will nicht funktionieren. Ich denke an Patti Smith, die nach
       Paris gefahren ist, um über ihr Vorbild, den Dichter Arthur Rimbaud, zu
       schreiben, und vor lauter Ehrfurcht genau eine Zeile zu Papier brachte:
       irgendetwas von Blumen und Sternen am Grab ihres Helden in Charleville.
       Vielleicht habe ich auch zu viel Ehrfurcht vor dem Gletscher? Oder doch
       eine Gehirnerschütterung? Warum bin ich noch mal nach Norwegen gekommen,
       habe ich Rapha gefragt. Na des Gletschers wegen, weißt du das nicht mehr?
       
       Am nächsten Morgen sitze ich alleine in der Nähe des Gletschers, in
       respektvoller Entfernung. Mein ganzer Körper schmerzt, aber wenigstens weiß
       ich wieder, warum wir hier sind. Dass der Gletscher ein Archiv ist,
       beschäftigt mich. Zwischen den Eismolekülen sitzen winzig klein und mit
       zunehmenden Tiefenmetern immer stärker zusammengepresste Luftbläschen, die
       von Temperatur, Pollenflug und Co2-Gehalt in der Atmosphäre erzählen. Von
       einem Holozän-Sommer, Abertausende von Jahren her, von Vulkanausbrüchen und
       vergangenen Atmosphären. Ich schaue mir die Eisschichten in Grau-, Weiß-
       und Blauschattierungen an und versuche sie mir vorzustellen wie ein
       gigantisches Bücherregal, eine Weltbibliothek wie in Alexandria.
       
       Was passiert, wenn das Archiv verschwindet, wie meine Erinnerung gestern?
       Während die nach und nach zurückkehrt, wird das Gletscherarchiv für immer
       verloren sein.
       
       Der Dichter Craig Santos Perez schreibt:
       
       Among starving polar bears, / the only moving thing / was the edge of a
       glacier.
       
       We are of one ecology / like a planet / in which there were once 200.000
       glaciers.
       
       Inmitten von hungernden Eisbären / war das einzig sich bewegende Ding / der
       Rand eines Gletschers.
       
       Wir sind geschaffen aus einer Umwelt / gleich einem Planeten / auf dem
       einst 200.000 Gletscher lebten.
       
       -
       
       Anne-Sophie Balzer, 34, ist freie Journalistin, Literaturwissenschaftlerin
       und Dichterin. 2020 ging sie für anderthalb Jahre nach Norwegen und
       arbeitete auf Bauernhöfen. Die Reportage ist im Rahmen eines Stipendiums
       der Internationalen Journalisten-Programme (IJP) entstanden. 
       
       Übersetzung der zeitgenössischen Gedichte: Anne-Sophie Balzer; Übersetzung
       „Mont Blanc“ von Percy Shelley: Julius Seybt.
       
       2 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abo1324
   DIR [2] https://deutsch.bre.museum.no/ber-fjrland
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Sverre_Fehn
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne-Sophie Balzer
       
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       Brisant – denn so gerät das Weltklimasystem in Gefahr.
       
   DIR Klimakrise im Hochgebirge: Das gar nicht so ewige Eis
       
       In den Alpen ist die Klimakrise extrem sichtbar. André Baumeister zeigt
       Jugendlichen, wo Gletscher schmelzen – und was das mit uns zu tun hat.