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       # taz.de -- „Die Besessenen“ in Hamburg: Theater der Gedanken
       
       > Liberalismus, Nihilismus, Anarchismus, Konservativismus, Sozialismus:
       > Jette Steckel inszeniert „Die Besessenen“ am Thalia Theater Hamburg.
       
   IMG Bild: Im endzeitlichen Debattierclub der „Besessenen“ im Thalia Theater Hamburg
       
       Brav hocken sie auf Sitzwürfeln wie in einem Uniseminar. Vergeblich
       versucht die agile Lehrmeisterin (Barbara Nüsse) den Austausch der Ideen zu
       dirigieren. Eine zersplitternde Gedankenwelt bringt existenzielle
       Verunsicherung. Hitzig bis explosiv ist bald die Atmosphäre in der
       Vorderbühnen-Enge des Thalia Theaters.
       
       Wohin das alles führt, zeigt ein großes Gemälde, das den Blick in die Tiefe
       des Raumes versperrt und von einem Maler um immer neue schaurige
       Fantasiegeschöpfe und groteske Szenen aus Hieronymus Boschs Werken
       bereichert wird, diesen mit diabolischer Lust und moralischer Warnung am
       enthemmten Menschsein sich abarbeitenden Wimmelbildern der Apokalypse.
       
       ## Ein endzeitliches Heute
       
       Angesichts gegenwärtiger Verwüstungen und Verheerungen durch Krieg,
       Klimawandel und Umweltzerstörung sowie einer sich zur letzten Generation
       hochstilisierenden Jugend könnte das heißen: In diesem von [1][Regisseurin
       Jette Steckel] und Nadin Schumacher gestalteten Bühnenbild geht es um ein
       endzeitliches Heute.
       
       Der Text dazu stammt aus „Die Besessenen“ von Albert Camus, einer recht
       vorlagentreuen Dramatisierung des „Dämonen“-Romans von Dostojewski. Der
       hatte 1873 ein Sittenbild Russlands an der Schwelle zur Industrialisierung
       entworfen, als die Zarendiktatur schwächelte und revolutionäre Regungen
       muskulöser wurden. Dostojewski hetzte die politischen und intellektuellen
       Bewegungen der Zeit aufeinander – mit dem Verweis, dass uneingeschränkte
       Radikalisierung nicht uneingeschränkte Freiheit, sondern uneingeschränkten
       Despotismus zur Folge hat.
       
       Er selbst redete einem religiös aufgeladenen Nationalismus das Wort. Aber
       diese und andere Verweise auf mögliche giftige Wurzeln der heutigen
       Kreml-Politik arbeitet Steckel nicht heraus.
       
       ## Ein Theater der Gedanken
       
       Statt Russland verstehen oder die russische Seele sezieren zu wollen, gilt
       es in dieser Inszenierung grundsätzlich, Menschen in einem Sinnvakuum zu
       zeigen, die sich an einem Überangebot von Denk-, Handlungs-,
       Welterklärungsmöglichkeiten bedienen. Auf der Bühne zu erleben sind
       Vertreter von Liberalismus, Nihilismus, Atheismus, Anarchismus,
       Konservativismus, Sozialismus und so weiter.
       
       Das fabelhafte Ensemble entwickelt sprachlich und körperlich Haltungen zu
       den Ideologien, deutet Mikrodramen zwischen den Personen an, bekommt vor
       lauter Redenschwingen aber kaum Chancen, komplexe, von widersprüchlichen
       Empfindungen getriebene Charaktere zu entwickeln. Steckel setzt auf ein
       Theater der Gedanken.
       
       ## Sie reden und jammern
       
       Natürlich suchen alle Figuren die „Wahrheit“. Einerseits aus Langeweile,
       andererseits aus Not, sich in einer Umbruchszeit neu in der Welt
       orientieren zu müssen. Sie reden und reden und jammern und schimpfen –
       betonen aber auch, lieber handeln zu wollen. Darüber, wie es weitergehen
       könnte, kollidieren unterschiedliche Versionen. Die einen schlagen
       vorsichtig Reformen vor, andere fordern, alles müsse für einen Neuanfang
       zerschlagen werden.
       
       Auch die Frage kursiert, warum Menschen nicht der Vernunft gehorchen und
       sich angesichts der Weltlage für den Suizid entscheiden, um so auch Gott zu
       beweisen, dass es ihn nicht gibt. Aber wenn das so ist, wie kann dann mit
       den Potenzialen des Bösen umgegangen werden, die in jedem stecken? Denn
       ohne Gott bindet uns kein moralisches Gesetz mehr, sodass Tod, Zerstörung
       und Chaos folgen?
       
       Die Aufführung mäandert durch solche etwas angestaubten Exkurse und stellt
       Behauptung neben Behauptung. Das ist anstrengend. Auf der Bühne erklingt da
       schon mal der Ruf nach einem großen Cognac. Irgendwann stopft die verrückte
       Marja (Lisa Hagemeister) allen das Maul – mit Brötchen.
       
       ## Wie Andreas Baader
       
       Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Debattierclubs steht der
       geheimnisvolle Nikolai Stawrogin (Jirka Zett). Lässig distanziert, ermüdet
       vom „ironischen Leben“ ist er und scheint mit all den geäußerten Thesen
       längst abgeschlossen zu haben. Was ihn aber nicht vollends haltlos macht.
       Erst spät wird sein Geheimnis offenbart, immerhin noch Schuld zu empfinden,
       also begrenzende Werte der gottlosen Handlungsfreiheit in seinem Wesen
       entdeckt zu haben. Bis dahin pflegt er sein charismatisch cooles Image.
       Weswegen ihn die anderen als messianische Gallionsfigur für ihre Ideen
       anheuern wollen.
       
       Treibend dabei ist Pjotr Werchowenski (Sebastian Zimmler), ein brutaler
       Mensch ohne Bindung. Als zynischen Spaß predigt er Terror und sieht mit
       Sonnenbrille aus wie Andreas Baader. Sein Ziel ist, mit einem kollektiven
       Verbrechen die Dämonen zu wecken, die eine Masse, ein Volk und eben auch
       das Stückpersonal packen und zu einer verschworenen Gemeinschaft
       verschweißen können. Wobei Werchowenski nicht der richtige Weg in eine
       lebenswerte Zukunft antreibt, sondern machtgeile Verführung durch
       Demagogie.
       
       ## Das Tor zur Apokalypse
       
       Schon geht die Inszenierung ästhetisch wie dramaturgisch völlig aus dem
       Leim – und mutiert nicht zum ersten Mal bei Steckel zur Disco. Werchowenski
       gibt den DJ für uniformes Tanzen des gleichgeschalteten Wahnsinns. Das
       revolutionär verbrämte Morden öffnet das Tor zur Apokalypse. Werchowenski
       flieht, Stawrogin gesteht die Vergewaltigung eines Mädchens und bringt sich
       um. Alle anderen gehen ab.
       
       In ihrer empathisch sanften Präsenz verbleibt auf der Bühne nur Barbara
       Nüsse mit dem Schlussappell ans Publikum: „Leben Sie mehr.“ Das ist
       weniger, als nach zweieinhalb pausenlosen Denktheaterstunden an Erkenntnis
       erwartet werden darf. Zu einer aktuellen Lesart des philosophischen Kerns
       des Stoffes hat sich der Abend leider nicht vorgearbeitet.
       
       30 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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