# taz.de -- US-Projekt zu Songs gegen Sklaverei: Musik, die fordert und nicht fleht
> Mat Callahan veröffentlicht mit „Songs of Slavery and Emancipation“ eine
> Recherche über Traditionals. Sie riefen zur Revolte gegen die
> US-Sklaverei.
IMG Bild: Historische Darstellung der Gefangennahme des aufständischen Sklaven Nat Turner
Lieder, die von Schwarzen im Süden der USA auf den Baumwollfeldern geprägt
und gesungen wurden, werden kanonischerweise meist mit Motiven wie
Leidensfähigkeit und zwar bewegenden, aber doch Duldsamkeit versprechenden
Texten verbunden. Oft auch verknüpft mit religiösen Metaphoriken und
Bitten: „Oh, let us all from bondage flee / Let My people go / And let us
all in Christ be free / Let My people go“.
Beim Stöbern in einem Antiquariat in San Francisco findet der US-Musiker
und Autor Mat Callahan ein Buch des US-Historikers Herbert Aptheker, das
in seinen Augen die gängige Geschichtsschreibung über Musik von
Sklav:innen in den USA grundlegend infrage stellt. Apthekers 1939
erschienenes Werk „Negro Slave Revolts in the United States, 1526–1860“
verfährt dementgegen anders.
Es rekonstruiert die Geschichte der Sklaverei entlang von Revolten
[1][gegen das Unrecht der Sklaverei]. Aptheker zitiert in seiner
Darstellung den 1813 von einem Sklaven komponierten Song „Hymn of Freedom“:
„Arise! Arise! shake off your chains! / Your cause is just, so Heaven
ordains / To you shall freedom be proclaimed!“ Und der Refrain: „Firm,
united let us be / Resolved on death or liberty! / As a band of patriots
joined / Peace and plenty we shall find“.
## Poetische Kraft
Für Mat Callahan war dieses Zitat ein Anstoß, jenseits von Apthekers Buch
eigene musikhistorische Forschungen zum musikalischen Erbe des Kampfes
gegen die Sklaverei anzustellen. „Ich bin mit dem Singen von ‚Go Down,
Moses‘ aufgewachsen. ‚Deep River‘, ‚Many Thousands Gone‘ und zahlreiche
andere Songs, deren Schönheit an melodischer und poetischer Kraft
unübertroffen ist“, schreibt der 71-jährige Callahan, in den 1980ern mit
der Band The Looters und dem Künstlerkollektiv Komotion International Teil
der DiY-Punkszene von San Francisco, in der Einleitung zu seinem vor Kurzem
erschienenen Buch „Songs of Slavery and Emancipation“.
Aber so etwas habe er bis dahin noch nie gehört. Beziehungsweise gelesen,
denn mehr als der Text von „Hymn of Freedom“ lag zu diesem Zeitpunkt noch
nicht vor.
## Musikhistorisches Erweckungserlebnis
Dieser Songtext nämlich, schreibt Callahan, verwende keine verschlüsselten
oder religiösen Begriffe, sondern revolutionäre. Ein musikhistorisches
Erweckungserlebnis sozusagen, von dem aus sich das Bild, das von der Musik
der leidenden Sklavinnen und Sklaven in den USA bis dahin existiert hat,
erweitern und neu schreiben lässt.
Die Ergebnisse von Callahans Recherchen liegen nicht nur in Buchform vor,
sondern auch als üppig gestaltetes Doppelalbum mit 31 Songs und einem
Dokumentarfilm. Zu entdecken gibt es in diesem Materialberg viel. Die
Sklavenrevolten, die der 2003 verstorbene Historiker Aptheker, der bis 1991
dem Nationalkomitee der Kommunistischen Partei der USA angehörte und
zahlreiche Bücher zur Geschichte des US-Rassismus verfasste, wurden von
Musik befeuert und weitergetragen, die noch lückenhafter dokumentiert ist
als die Musik der Slav:innen sonst.
Das hat zum einen damit zu tun, dass die afroamerikanische Geschichte vor
allem eine oral history ist und kaum Originalaufnahmen von Traditionals
existieren. Zum anderen, schreibt Callahan, weil die Geschichtsschreibung
[2][seit der Ära der reconstruction, also die Zeit nach dem US-Bürgerkrieg
von 1865–1877], in weiten Teilen nach wie vor darauf insistiert, dass die
Sklavinnen und Sklaven ihr Schicksal erduldet hätten.
Dokumente, die Mat Callahan während seiner Forschungen ausgegraben hat,
sind Zeugnisse, die diesem Bild widersprechen. Die zum Buch erschienene
Compilation enthält insgesamt 31 Songs: 16, die von Sklav:innen
geschrieben und gesungen worden sind, und 15, die als „Abolitionist Songs“
firmieren. Von den Betroffenen wie auch von den über das Unrecht Empörten
wird die Sklaverei nicht mehr nur als Quell des Leidens angeprangert.
## Neu eingespielt
Es geht um ihre Abschaffung, auch mit Gewalt. „We want no cowards in our
band / That from their colors fly / We call for valiant hearted men / That
are not afraid to die“, heißt es in dem Lied „Children, We Shall All Be
Free“.Die Stücke wurden für „Songs of Slavery and Emancipation“ neu
eingespielt. Mat Callahan hat anhand von Quellen – Textblätter, Tabulaturen
und mündliche Überlieferungen – die Musik neu zusammengesetzt, im Versuch,
ein historisch möglichst genaues Arrangement zu ermöglichen.
Auf der Basis seiner Recherchen wurden die Stücke dann von einem Ensemble
plus Chor in einer Kirche in Kentucky neu aufgenommen. Spiel und Gesang von
über 50 Musiker:innen wurde mit nur einem Mikrofon aufgezeichnet.
Dieser reduzierte Klang sei, meint Callahan, so authentisch wie nur irgend
möglich.
## Kollektive Befreiung
Ob das damals wirklich so klang, man kann es nicht mit Sicherheit sagen,
aber es ist auch nicht entscheidend. Eine einschneidende Korrektur der
US-Musikgeschichtsschreibung ist Callahan und seinen Mitstreiter:innen
so oder so gelungen. Schließlich liegt in diesen Songs ein Beginn der
afroamerikanischen Musiktradition, also von Blues, Jazz und Soul bis zum
HipHop. Und Buch, Sampler und Film machen plausibel, dass von Beginn an
Bilder [3][einer kollektiven Befreiung selbstverständlicher Teil dieser
Tradition waren].
„Power to the People“, in dem Sinne, dass es offensichtlich viel Musik gab,
die nicht nur Trost spenden wollte und die Freiheit als schönen Traum
besang, sondern offensiv dazu aufforderte, sie mit der Waffe zu erobern:
„We shall not always weep and groan / And were these slavish chains of woe
/ There’s a better day that’s coming / Come and go along with me“, heißt in
der „African Hymn“. Matt Callahans Hauptkriterium bei der Suche: Songs, die
fordern, unmissverständlich, und nicht flehen. Auch in der in diesen
Liedern immer wieder aufscheinenden religiösen Metaphorik steckt ein Aufruf
zur Revolte: „We’ll join the armies in the skies! We’ll ruin Satan’s
kingdom“.
Auf „Songs of Slavery and Emancipation“ gibt es auch einen
[4][Solidaritätsmarsch für Revolutionär:innen auf Haiti] zu hören
(„Recognition March of the Independence of Hayiti“) und eine Hommage an Nat
Turner, der im August 1831 mit seinen Mitstreitern im Sklavenhalterstaat
Virginia Plantagenbesitzer und in der Folge über 50 Amerikaner:innen
umbrachte. 100 Sklav:innen wurden zur Vergeltung jener „Nat Turner
Revolt“ getötet, ihr Anführer wurde hingerichtet.
In dem Song „Nat Turner“ fungiert der Titelheld als Vorzeichen der
unabwendbaren Befreiung: „You can’t keep the world from moverin’ round, nor
Nat Turner from gainin’ ground“, gesungen von einem Gospelchor. Die
Gesangsmelodie zeigt auch, welche Freiheiten sich Mat Callahan bei den
Aufnahmen zwangsläufig nehmen musste.
## Where Have All The Flowers Gone?
Der Song „Nat Turner“ taucht bereits an verschiedenen Stellen in der
Literatur zur US-Folkmusik auf, zum Beispiel in Pete Seegers Buch „Where
Have All the Flowers Gone?“, unter dem Titel „Gaining Ground“. Seeger hatte
Songtext und Musik wiederum von dem Folklore- und Musikforscher Lawrence
Gellert bekommen, fand aber, dass die Musik nicht passte und komponierte
eine neue. Eine Aufnahme des Songs ist laut Callahan allerdings nicht zu
finden, die originale Notation wohl auch nicht, und Seegers Tabulatur habe
nicht zum Songtext gepasst.
Deswegen habe er, Callahan, eine neue Melodie komponiert, „im Stil der
damaligen Zeit“. Damit verweist der Song „Nat Turner“, so wie wir ihn heute
zu hören bekommen, darauf, dass jede Geschichtsschreibung von der Gegenwart
ausgeht und ein authentischer Zugang, wie immer der auch aussähe, verbaut
sein muss.
Das Projekt „Songs of Slavery and Emancipation“ will mehr sein als nur eine
Ergänzung zum bestehenden Kanon der Musik von US-Sklaverei. Eher geht es
darum, einen historisch fundierten Gegenkanon zu etablieren, der die eigene
Konstruktionsarbeit nicht verbirgt und in dem die Versklavten als
handelnde, bewusste und kämpferische Subjekte erscheinen, die ihren
Peinigern moralisch und am Ende auch politisch überlegen waren. Vor allem
aber klingt die von Mat Callahan konstruierte und rekonstruierte Musik
unmittelbar beeindruckend.
19 Jan 2023
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## AUTOREN
DIR Benjamin Moldenhauer
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