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       # taz.de -- Wirtschaftskrise in Ägypten: Leere Bäuche, volle Häfen
       
       > Ägypten gehen die Dollardevisen aus: Importe können nicht mehr bezahlt
       > werden, die Preise steigen rasant. Hilfe erhofft sich Kairo von den
       > Golfstaaten.
       
   IMG Bild: Nahrungsmittel werden immer teurer, die Situation vieler Ägypter und Ägypterinnen wird immer prekärer
       
       Kairo taz | Hassan Ahmad, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung
       sehen will, arbeitet als Lieferbote in Kairo. Er ist verzweifelt. Er und
       seine vierköpfige Familie gehören zu jenem Drittel der ägyptischen
       Bevölkerung, das nach offiziellen Zahlen mit weniger als einem Euro am Tag
       unter der Armutsgrenze lebt. Auf Facebook, erzählt er sichtlich schockiert,
       habe er ein Video von einem mehrfachen Vater gesehen, der sich den Balkon
       herunterstürzte, weil er seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Bei
       vielen Familien gebe es nur noch eine Mahlzeit pro Tag, sagt Hassan. Auf
       jedem Markt, auf den er gehe, gebe es Streit wegen der Preise.
       
       Hassan ist kein Einzelfall in Ägypten. Seit Mitte Januar, als die
       ägyptische Währung um weitere 13 Prozent gegenüber dem US-Dollar abgewertet
       wurde, gibt es in der Hauptstadt Kairo nur ein Thema: die
       Preissteigerungen.
       
       Die [1][katastrophale wirtschaftliche Lage im Libanon] hat es in letzter
       Zeit immer wieder in die Schlagzeilen geschafft, manchmal auch [2][die
       leeren Supermarktregale in Tunesien]. Doch nun steht mit Ägypten das
       bevölkerungsreichste arabische Land mit seinen über 100 Millionen
       Einwohnern vor enormen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen.
       
       Die ägyptische Währung hat seit vergangenem März die Hälfte ihres Wertes
       verloren. Die Menschen kämpfen mit einer Inflationsrate von über 20
       Prozent. Für das erste Quartal 2023 haben einige Ökonomen sogar 25 Prozent
       prognostiziert.
       
       ## Ägypten hat 155 Milliarden Dollar Schulden
       
       Besonders dramatisch sind die Preissteigerungen bei Lebensmitteln. Die sind
       im letzten Jahr im Schnitt um mehr als ein Drittel teurer geworden – bei
       anhaltend niedrigen Löhnen für die Mehrheit der Ägypter. Der Grund für die
       Entwertung des Pfundes: Dem ägyptischen Staat gehen die Dollar aus.
       
       Auf 155 Milliarden Dollar belaufen sich dessen Schulden und Zinsdienste im
       laufenden Finanzjahr, berichtet die arabische Bloomberg-Publikation Asharq.
       Linderung sollte ein mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf 46
       Monate verteilter Kredit geben, dessen erste Tranche von über 300 Millionen
       Dollar allerdings fast von den Schulden aufgefressen wurde.
       
       Die negative Handelsbilanz trägt das ihre dazu bei. Laut der Tageszeitung
       Al-Shoruk sitzen derzeit in ägyptischen Häfen Waren im Wert zwischen 6 und
       7,7 Milliarden Dollar fest. Da es im Bankensystem nicht genug Dollar gibt,
       können die Waren nicht ausgelöst werden. Die Entwertung des Pfundes sorgt
       hier aber für etwas Erleichterung. Laut der Zentralbank sind seitdem 925
       Millionen Dollar auf den Markt geflossen.
       
       Der ehemalige Militärchef und heutige Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat
       die Schuld immer wieder von sich gewiesen und den [3][Ukrainekrieg] und die
       Coronapandemie für die wirtschaftliche Misere verantwortlich gemacht. Er
       ruft sein Volk auf, nicht in Panik zu verfallen. „Schwätzt nicht so viel
       Unsinn“, forderte er in einer Rede von seinen Landsleuten. Stattdessen
       sollten die Ägypter auf ihn und seine Minister hören, führte er weiter aus.
       
       ## Immer lautere Kritik an al-Sisi
       
       Doch die Kritik im Land wird immer lauter, selbst im Parlament, das dem
       Präsidenten gegenüber als hörig gilt. „Seit Jahren haben wir davor gewarnt:
       Wenn ihr so weitermacht, werden wir am Ende mit dem Rücken zur Wand stehen
       und genau das passiert jetzt“, erklärte die stellvertretende Sprecherin
       Maha Abdel Nasser in einer Rede im Parlament.
       
       Auch so manche Aussage von Regierungsvertretern, die versuchen, die Lage
       schönzureden, lässt sie nicht gelten. „Als würden viele sich nur
       vorstellen, dass sie nicht mehr genug Essen kaufen können, als ob der
       Dollar nur in ihrer Fantasie in den Himmel geschossen ist“, sagte Abdel
       Nasser.
       
       Auch wenn die Regierung die Krise auf äußere Faktoren schiebt: Viele
       Ökonomen sehen das Ganze als hausgemachte Krise. [4][Teure
       Prestigeprojekte] wie der noch nicht fertige Bau einer neuen Hauptstadt
       haben die Dollarreserven des Landes zusammenschmelzen lassen.
       
       Und selbst wenn Hilfe aus dem Ausland kommt, ist sie inzwischen [5][an
       härtere Bedingungen] geknüpft. Der IWF etwa fordert „kritische strukturelle
       Veränderungen“. Für weitere Kredite verlangt er erstmals, dass sich das
       Militär aus der Wirtschaft zurückzieht. Denn in den letzten Jahren ist die
       Armee zu einem der größten Unternehmer im Land in zahlreichen Sektoren der
       Wirtschaft avanciert und hat den Privatsektor zurückgedrängt. Es dürfte
       al-Sisi nicht leichtfallen, hier zum Rückzug zu blasen, da das die
       Institution angreift, die seine wichtigste Machtbasis darstellt.
       
       ## Auch aus dem Golf ist frisches Geld nicht garantiert
       
       Bleibt die Hoffnung auf Hilfe aus den reichen Golfstaaten, die fürchten,
       dass Instabilität im bevölkerungsreichsten arabischen Land auch ihre
       autokratischen politischen Systeme gefährden könnte. Die haben zumindest
       klargemacht, dass sie ihre Einlagen in der ägyptischen Zentralbank in Höhe
       von 7,7 Milliarden Dollar verlängern.
       
       Aber frisches Geld vom Golf ist alles andere als garantiert. Die
       Golfstaaten kaufen derzeit lieber profitable ägyptische Unternehmen auf,
       als ihr Geld in das schwarze Loch des Staates zu stecken. Inzwischen wird
       auch öffentlich diskutiert, ob es weise ist, Ägypten mit mehr Geld zu
       versorgen. Osama al-Schahin etwa, ein kuwaitischer Parlamentarier, warnte
       seine Regierung, blind weiteres Geld in die ägyptische Wirtschaft zu
       stecken, und forderte, dass die dort eingelegten öffentlichen kuwaitischen
       Gelder wieder abgezogen werden.
       
       Für die Regierenden in Ägypten bedeutet das alles eine Gratwanderung. Nach
       innen müssen sie die Probleme herunterspielen und beruhigen, nach außen,
       vor allem in Richtung der Golfstaaten, aber auch gegenüber internationalen
       Institutionen müssen sie die Dramatik der Lage betonen – in der Hoffnung,
       dass diese Ägypten als zu groß erachten, um es wirtschaftlich abstürzen zu
       lassen.
       
       23 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Getreidemangel-im-Libanon/!5844719
   DIR [2] /Zehn-Jahre-Arabische-Revolution/!5734107
   DIR [3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [4] https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/aegypten-wirtschaftskrise-101.html
   DIR [5] https://www.imf.org/en/Countries/EGY/Egypt-qandas
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
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