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       # taz.de -- Neuseelands Premierministerin geht: Jacinda Ardern tritt zurück
       
       > Mit nur 37 Jahren wurde sie 2017 gewählt, jetzt tritt Jacinda Ardern als
       > Premierministerin Neuseelands zurück. Sie habe einfach nicht mehr die
       > Kraft.
       
   IMG Bild: Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern mit ihrem Partner Clarke Gayford am 19. Januar
       
       Sydney taz | [1][Jacinda Ardern] standen die Tränen in den Augen, als sie
       am Donnerstag eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens bekannt gab.
       Nach fünfeinhalb von Krisen und Katastrophen geprägten Jahren hat sie
       genug. Bereits in zweieinhalb Wochen, am 7. Februar, werde sie ihr Amt
       aufgeben, sagte die 42-Jährige.
       
       „Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht
       mehr genug im Tank habe. So einfach ist das“, begründete sie ihre
       Entscheidung bei ihrer ersten Pressekonferenz in diesem Jahr. „Wir alle
       geben, solange wir geben können, und dann ist es vorbei. Und für mich ist
       es nun an der Zeit.“
       
       Ihr Rücktritt tritt mit der Ernennung eines Nachfolgers in Kraft. Schon am
       Sonntag soll ein neuer Vorsitzender der Labour-Partei gewählt werden.
       Gleichzeitig gab Ardern das Datum für die nächste Parlamentswahl bekannt:
       Der Pazifikstaat geht am 14. Oktober an die Urnen.
       
       Die meisten Beobachter und viele ihrer Kollegen und Kolleginnen hatten
       keine Ahnung von ihrer bevorstehenden Entscheidung. Auch ihrer fünfjährigen
       Tochter Neve habe sie nichts gesagt, so Ardern. Denn kleine Kinder seien
       dafür bekannt, „dass sie gerne plaudern“.
       
       ## Mit 37 die jüngste Ministerpräsidentin der Welt
       
       Es ist kein Zufall, dass die Regierungschefin ihre Tochter erwähnte. Neve
       war ein wesentlicher Grund für Ardern, den Schritt aus dem höchsten
       politischen Amt zu wagen. Sie wolle dabei sein, wenn das Kind seinen ersten
       Tag in der Schule erlebe. Und ihrem langjährigen Partner Clark Gayford
       versprach sie: „Lass uns heiraten“.
       
       Emotionen. Sie zeichneten den Weg der Polizistentochter durch die Politik.
       Als Jungsozialistin und Mitarbeiterin der neuseeländischen
       Premierministerin Helen Clark, und schließlich als Regierungschefin. Es war
       ein Posten, zu dem sie fast nur per Zufall gekommen war. Nachdem ihr
       Vorgänger an der Spitze der Labour-Partei wegen miserabler Umfragewerte
       zurückgetreten war, trat sie als seine Stellvertreterin an die Spitze. Kurz
       darauf wurde sie gewählt – und war 2017 mit damals 37 Jahren die jüngste
       Ministerpräsidentin der Welt.
       
       Es gab nicht wenige Skeptiker, auch in einem Land, in dem starke Frauen in
       der Politik nicht unbekannt sind – Helen Clark ist nur ein Beispiel. Ardern
       sei zu jung, meinten einige. Zu unerfahren, sagten andere. Und sie sei eine
       Frau.
       
       Doch Jacinda Ardern zeigte bald, dass die Skeptiker unrecht hatten.
       
       ## Führung und Trost spenden
       
       Es waren mehrere Schicksalsschläge, die den Namen Ardern weit über die
       Grenzen bekannt machten und ihr zu Hause größtes Ansehen verschafften –
       oftmals auch unter politischen Gegnern. Die Medien erfanden für die
       kollektive Begeisterung ein Wort: Jacindamania.
       
       Die Welt lernte Jacinda Ardern zum ersten Mal kennen, als sie 2019 die
       Angehörigen von Opfern eines rassistisch motivierten Terrorattentats auf
       zwei Moscheen in [2][Christchurch] tröstete. Statt die Tragödie politisch
       auszunützen, spendete sie Trost – mit einem muslimischen Kopftuch
       bekleidet.
       
       Trost zu spenden, wurde auf tragische Weise zu einer Art Markenzeichen der
       jungen Politikerin. Nur Monate später wurde Neuseeland erneut von einer
       Katastrophe erschüttert. Bei einem Ausbruch des Vulkans White Island
       starben 22 Menschen. Ardern war dort, umarmte die Überlebenden und tröstete
       jene, die ihre Liebsten in heißer Asche und glühender Lava verloren hatten.
       
       Doch Ardens Erfolg im Volk auf eine Reihe publizitätswirksamer Tragödien zu
       reduzieren, wäre falsch. Die Politikerin war eine sehr effektive und
       effiziente Führungsperson. Beobachter rund um den Globus bewunderten die
       Entschlossenheit, mit der sie eine praktisch komplette Abdichtung der
       Grenzen durchsetzte, um den Ausbruch von Covid-19 zu verhindern. Zur
       Verblüffung vieler ausländischer Beobachter machten die „Kiwis“, wie sich
       Neuseeländer gerne selbst nennen, mehr oder weniger bereitwillig mit.
       
       ## Für das Problem des Wohnungsmangels blieb keine Zeit
       
       Zwar hatte die wirtschaftlich fundamental wichtige [3][Tourismusindustrie]
       ein Nahtoderlebnis. Doch gleichzeitig lebten die Neuseeländer in einem fast
       parallelen Universum, in dem der Alltag fast normal weiterging. Erst Ende
       2021 wurde die strikte Strategie der Komplettverhinderung von
       Covid-Infektionen aufgehoben. Experten meinen heute, die Grenzschließung
       habe Tausende von Menschenleben gerettet in dem Land von nur fünf Millionen
       Einwohnern.
       
       Es dürfte in den kommenden Tagen darüber spekuliert werden, ob Ardern wegen
       schlechter Umfragezahlen der Labour-Partei vor den Wahlen im Oktober den
       Notfallschirm gezogen habe. Tatsächlich ist das Ansehen ihrer Partei und
       Arderns in den letzten Monaten deutlich gesunken. Eine massive Erhöhung der
       Lebenshaltungskosten – nicht zuletzt als Folge von Covid und dem
       Ukrainekrieg – haben das Leben vieler Menschen im Antipodenstaat
       verschlechtert.
       
       Kein Problem aber ist so groß und für viele Kiwis entmutigend und
       frustrierend wie das, was Ardern von der konservativen Vorgängerregierung
       geerbt hatte: ein katastrophaler Mangel an Wohnraum. Für viele Neuseeländer
       ist selbst das Mieten einer Wohnung zu teuer geworden – falls sie überhaupt
       eine finden. Der Traum vom Eigenheim ist für die meisten schon lange
       gestorben.
       
       Die monumentale Aufgabe der Linderung der Wohnungsnot war ein Problem, für
       das Jacinda Ardern zu wenig Zeit hatte. Ob Terror, Vulkan oder Covid – „Ich
       hatte nie wirklich das Gefühl, dass wir nur regieren“, meinte sie. Und
       jetzt hat sie auch keine Kraft mehr.
       
       19 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Urs Wälterlin
       
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