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       # taz.de -- Chris Hipkins neuer Premier in Neuseeland: Auf Ardern folgt „Kampfhund“
       
       > Nach dem Rücktritt der neuseeländischen Premierministerin Ardern
       > bestätigt die Labourpartei Hipkins als neuen Regierungschef.
       
   IMG Bild: Freundliche Übergabe: Hipkins und Ardern in Wellington am 22. Januar
       
       Canberra taz | Chris Hipkins war am Wochenende der einzige Kandidat für die
       Nachfolge von Jacinda Ardern, die das Land fast sechs Jahre lang regiert
       hatte. Er wurde am Sonntag von der Labourpartei zum neuen Regierungschef
       erklärt und soll am Mittwoch vereidigt werden.
       
       Der in der Hutt-Region in der Nähe der Hauptstadt Wellington aufgewachsene
       44-jährige Politologe und Kriminologe ist den Neuseeländern wohl bekannt.
       Er war im Kabinett von Premierministerin Jacinda Ardern für die
       [1][Umsetzung und Durchsetzung der strikten Anti-Covid-Maßnahmen]
       verantwortlich. Die Quasi-Abriegelung des Inselstaates von der Außenwelt
       sowie harte Ausganssperren werden von Experten für eine vergleichsweise
       niedrige Opferrate verantwortlich gemacht.
       
       Seine Stellvertreterin wird die 46-jährige Carmel Sepuloni. Die zukünftige
       Vize-Premierministerin hat samoanisch-tongaische Wurzeln.
       
       Hipkins war 2008 ins Parlament gekommen – zur selben Zeit wie Ardern. Unter
       ihrer Führung hielt er Ministerämter in den Bereichen Bildung, Polizei und
       öffentlicher Dienst und war zeitweise Parlamentsvorsitzender.
       
       ## „Zuverlässig und intelligent“
       
       Der Soziologe Grant Duncan von der Massey Universität in Wellington meinte
       am Sonntag, der einstige Studentenaktivist, der sogar einmal bei einem
       Protest verhaftet worden war, habe sich während der Pandemie „als fleißige
       und kompetente Führungspersönlichkeit ausgezeichnet, die eine dringend
       benötigte Klarheit und gesunden Menschenverstand einbrachte. Er ist ein
       zuverlässiger und intelligenter Politiker, dem es nichts ausmacht, ein
       Kampfhund zu sein, wenn es nötig ist.“
       
       [2][Ardern] hatte vergangene Woche für den 14. Oktober Neuwahlen
       ausgerufen. In den Meinungsumfragen steht die Laborpartei hinter der
       oppositionellen konservativen Nationalpartei, die von Christopher Luxon
       geführt wird, einem ehemaligen Führungsmitglied des Industriekonzerns
       Unilever und späteren Unternehmenschefs der Fluglinie Air New Zealand.
       
       Hipkins muss nun die Öffentlichkeit davon überzeugen, Lösungen für eine
       Vielzahl von Problemen finden zu können, unter denen das Land leidet –
       insbesondere deutlich gestiegene Lebenshaltungskosten, ein extremer Mangel
       an bezahlbarem Wohnraum, Kinderarmut, Ungleichheit und die eskalierende
       Klimakrise.
       
       Laut Duncan stehe dem Politiker ein „schwerer Kampf“ bevor. Nicht zuletzt,
       weil ihm das Charisma seiner Vorgängerin fehle, die vor allem im Ausland
       als Vorreitern für Frauen in der Politik gefeiert wurde.
       
       ## „Jacindamania“-Effekt fehlt Hipkins
       
       Ardern wurde 2017 mit 37 Jahren jüngste Premierministerin der Geschichte.
       „Als sie damals den Parteivorsitz übernahm, gab es einen sofortigen
       „Jacindamania“-Effekt, und die Umfragewerte von Labour stiegen in die Höhe.
       Eine „Chris-Manie“ kann man sich jedoch nicht vorstellen“, so der
       Politologe.
       
       Seit Ardens Ankündigung ihres Rücktritts wurde in verschiedenen Medien die
       Behauptung lauter, die Premierministerin habe nicht aus familiären Gründen
       den Entscheid getroffen, sondern aus Angst vor einer bevorstehenden
       Wahlschlappe. Der konservative australische Fernsehsender Sky News meinte,
       die Politikerin sei ein „Aushängeschild“ für „Linke und Feministinnen auf
       der ganzen Welt gewesen“, habe aber die nötige Leistung nicht gebracht,
       wenn es darauf ankam.
       
       Nicht zuletzt für ihre wirtschaftlichen Leistungen erhält Ardern aber auch
       von unerwarteter Seite Unterstützung. Die konservative Tageszeitung
       [3][Australian Financial Revue ] lobt ihren Umgang mit dem
       Haupthandelspartner China. So habe sie sich nicht der populistischen
       Politik ihres früheren konservativen australischen Amtskollegen [4][Scott
       Morrison] angeschlossen und Peking quasi vorgeworfen, es habe Corona in
       einem Labor entwickelt. China reagierte auf diesen Affront mit
       Handelsboykotten gegen australische Produkte. „Wieso wegen eines unlösbaren
       Problems ohne offensichtlichen strategischen Nutzen Milliarden in
       jährlichen Exporten an ihren engsten Handelspartner riskieren?“, schreibt
       die Zeitung.
       
       Auch sei der neuseeländische Aktienmarkt während Ardens Amtszeit um 70
       Prozent gestiegen, während der australische im selben Zeitraum nur um 28
       Prozent zulegte.
       
       ## Herausforderungen und Beschimpfungen
       
       Der neuseeländische Politologe Richard Shaw meint, Ardern habe zwar vieles
       nicht erreicht. „Sie kam mit dem Versprechen an die Macht, das Land zu
       verändern, aber Ungleichheit und Armut sind nach wie vor wunde Punkte in
       der Politik.“ In ihrer fünfjährigen Amtszeit habe sie aber „mehr als genug
       mit Herausforderungen zu kämpfen gehabt: einem [5][Terroranschlag in
       Christchurch], einem Vulkanausbruch auf White Island, einer globalen
       Pandemie und zuletzt einer Lebenshaltungskostenkrise“.
       
       Gleichzeitig sei sie wie andere Politikerinnen auch „einer ständigen Flut
       von Beschimpfungen im Internet und persönlich ausgesetzt gewesen – von
       Anti-Vaxxern, Frauenhassern und anderen, die sie einfach nicht mögen“.
       Ardern habe die letzten zwei Jahre „an vorderster Front mit dieser Art von
       Toxizität verbracht“. Das habe seinen Tribut gefordert, so Shaw, „bei ihr,
       ihrer Familie und den Menschen, die ihr nahestehen“. Dies habe eine Rolle
       bei ihrer Entscheidung gespielt, vom Amt zurückzutreten.
       
       Am meisten in Erinnerung bleiben werde den Menschen jedoch die Art und
       Weise, wie Ardern auf schwere Krisen reagiert hatte, meint Shaw. „In den
       meisten Fällen mit Ruhe, Würde und Klarheit.“ Ihre Weigerung, sich auf die
       Rhetorik der Beschimpfung oder Verunglimpfung einzulassen, die zum
       Handwerkszeug allzu vieler gewählter Vertreter geworden sei, habe sie
       hervorgehoben in einer Welt, in der Beschimpfungen in der Politik normal
       geworden seien. Nur einmal, stellt Shaw fest, habe sie das Prinzip der
       Höflichkeit gebrochen – als sie kürzlich im Parlament einen Abgeordneten
       der Opposition als „arrogantes Arschloch“ bezeichnete.
       
       22 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Coronapolitik-in-Neuseeland/!5791255
   DIR [2] /Neuseelands-Premierministerin-geht/!5909909
   DIR [3] https://www.afr.com
   DIR [4] /Coronapandemie-in-Australien/!5871892
   DIR [5] /Untersuchung-in-Neuseeland/!5737006
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Urs Wälterlin
       
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