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       # taz.de -- Generalstreik in Frankreich: Die Rotwesten kommen
       
       > Die Proteste sind groß, aber die Gewerkschaften seit Jahren schwach. Der
       > Widerstand gegen die Rentenreform holt sie aus dem Ruhestand.
       
   IMG Bild: „Rente mit 64“ ist für viele Franzosen eine Zumutung. Protest am 31. Januar in Paris
       
       Paris taz | Ganz am Ende der Gleise in einem unauffälligen Büro befindet
       sich im Pariser Bahnhof Montparnasse das Lokal der CGT-Bahngewerkschaft. Es
       ist Montag, der Vorabend des zweiten Generalstreiks gegen die Erhöhung des
       gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. Hier laufen gerade die
       letzten Vorbereitungen. „Nachgeben kommt dieses Mal nicht in Frage“, sagt
       der Lokomotivführer Stéphane*.
       
       Den letzten Konflikt um die Renten haben die Festangestellten bei der
       staatlichen Bahn SNCF verloren. Dass alle Gewerkschaftsverbände dieses Mal
       geeint sind im [1][Widerstand gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel
       Macron], macht einen Unterschied. Stéphane und seine Kollegen sind
       zuversichtlich. Auf einem Tisch im CGT-Büro stehen bereits eine ganze
       Batterie Flaschen bereit, um den erhofften Sieg zu feiern.
       
       Wie man ihre Proteste im Ausland sieht, ist den CGT-Leuten nicht ganz egal.
       „In Deutschland denkt ihr vielleicht, wir sollten uns in Frankreich
       glücklich schätzen, [2][mit 64 in Rente] gehen zu dürfen“, sagt etwa
       Philippe, ein anderer Eisenbahner. „Aber das ist die falsche Perspektive:
       Ihr habt Pech, erst mit 67 in den Ruhestand gehen zu können. Und man muss
       die Rechte und Sozialstandards in Europa nicht immer nach unten anpassen.“
       
       Die Eisenbahner wären von Macrons Reform besonders betroffen. Bei der SNCF
       würde die bisher eigenständige Rentenkasse abgeschafft, für die
       Neueingestellten der bisherige Sonderstatus mit einem möglichen Ruhestand
       ab 55. Alle übrigen französischen Arbeitnehmer*innen, die nach 1961
       geboren sind, trifft es indes härter als die SNCF-Staatsangestellten: In
       Zukunft sollen 43 Beitragsjahre für eine Vollrente nötig sein.
       
       Die Streiks im öffentlichen Verkehr sind ein effizientes Druckmittel. Vor
       allem, wenn wie am 19. Januar und erneut am vergangenen Dienstag der
       Pariser Metro-Betrieb praktisch lahmgelegt wird, nur einer von zehn
       Vorortzügen und nur einer von drei TGVs auf internationalen Verbindungen
       verkehrt.
       
       ## Nach zwölf Jahren wiedervereint
       
       Die Bahnangestellten wissen, dass sie als Avantgarde kämpfen müssen. „Wenn
       Verkäuferinnen in Einkaufszentren oder Leute in Büros von Versicherungen
       streiken, merkt das fast niemand, und es ist für sie auch viel riskanter“,
       sagt Stéphane. Denn im Unterschied zum öffentlichen Dienst mit fast 19
       Prozent Gewerkschaftsmitgliedern ist in der Privatwirtschaft der
       gewerkschaftliche Organisationsgrad mit weniger als 8 Prozent sehr gering.
       Diese historische Schwäche der Gewerkschaften macht es ihnen nicht leicht,
       mit einer starken Position zu verhandeln oder überhaupt als
       Gesprächspartner ernst genommen zu werden.
       
       Ein Teil der Gewerkschaftsverbände (namentlich die CGT) versucht, diese
       Schwäche mit radikalen Phrasen und kämpferischen Aktionen auszugleichen.
       Das hat in Frankreich eine lange Tradition. Zuerst werden [3][auf der
       Straße die Kräfte gemessen], danach erst wird (vielleicht) verhandelt. Dass
       nun die acht gewerkschaftlichen Dachverbände zum ersten Mal seit 12 Jahren
       vereint gegen die Regierung demonstrieren und streiken, ist bemerkenswert.
       
       Das ist ein „Verdienst“ der Staatsführung. Sie machte den
       Arbeitnehmerorganisationen bei einer nur halbherzigen Konzertierten Aktion
       keinerlei Konzessionen und forderte sie damit heraus. Noch vor der
       Parlamentsdebatte über die Rentenreform am 6. Februar teilte
       Premierministerin Elisabeth Borne in mit, die Erhöhung auf 64 Jahre sei
       „kein Verhandlungsgegenstand“. Das weckt Erinnerungen: „Ich stehe senkrecht
       in meinen Stiefeln“, hatte 1995 Premier Alain Juppé scheinbar unnachgiebig
       gesagt, bevor er nach mehrwöchigen Protesten gegen seine Rentenreform
       kapitulieren musste.
       
       Die linke Opposition hat ihrerseits Tausende von Änderungsanträgen
       angemeldet, um die Debatte hinauszuzögern. Und auch bei den konservativen
       Abgeordneten von Les Républicains und selbst in den Fraktionen der
       Regierungspartei Renaissance (vormals La République en marche) wachsen
       Zweifel an der Vorlage. Nicht allen gefällt, wie die Regierung die
       „Buchhalterlogik“ über die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit stellt.
       
       ## Besser organisiert als die Gelbwesten
       
       Es ist nicht sicher, dass die Reform eine Mehrheit in der
       Nationalversammlung und im Senat bekommt. Premierministerin Borne hat
       bereits angekündigt, dass sie die Debatte nach maximal 50 Tagen in beiden
       Kammern schlicht abbrechen und die Vorlage für verabschiedet erklären
       könne. Jurist*innen diskutieren derzeit, ob dieses Vorgehen tatsächlich
       verfassungskonform wäre.
       
       Selbst wenn die Regierung ihr Projekt am Ende durchsetzen sollte, könnten
       die Gewerkschaften am Ende als Gewinner des Konflikts dastehen: weil es
       ihnen gelungen ist, zusätzlich zur eigenen Basis die Lohnabhängigen in
       bisher schlecht organisierten Sektoren und weitere Bevölkerungskreise in
       den Kampf gegen die Rentenreform einzubeziehen.
       
       Der Soziologe Michel Wieviorka erklärt in Libération, wie heute
       verschiedenste Motive die Dynamik der Demonstrationen gegen die
       Rentenreform, aber auch gegen Premierministerin Borne und Präsident Macron
       verstärken: die Krise der Gesundheitsversorgung, der Mangel an öffentlichen
       Dienstleistungen, die strukturelle Vernachlässigung der ländlichen Gebiete,
       die rasante Verteuerung der Energie und der Lebensmittel oder der
       Überlebenskampf vieler Landwirte und Gewerbetreibenden. Diesmal,
       unterstreicht Wieviorka, seien „Stadt und Land im gemeinsamen Kampf gegen
       die Rentenreform vereint“.
       
       Im Unterschied zu den Protesten der Gelbwesten im Spätherbst 2018 ist die
       Bewegung dieses Mal deutlich besser organisiert. Die Gewerkschaften, die
       damals aus Misstrauen gegenüber den unkontrollierbaren Aktionen der
       Gelbwesten auf Distanz geblieben waren, geben nun den Ton an. Die
       Staatsführung gerät unter Druck. Beruhigung kann sie allerdings darin
       finden, dass die Gewerkschaften in der Vergangenheit – beispielsweise im
       Mai 1968 – immer verantwortungsvoll bremsten, wenn Gefahr bestand, dass
       eine Revolte „zu weit“ gehen und die Ordnung tatsächlich gefährden könnte.
       
       Am Dienstag gingen wieder über 1 Million Menschen auf die Straße, die
       Gewerkschaft CGT sprach sogar von 2,8 Millionen Teilnehmer*innen. Ab dem
       7. Februar sind weitere Streiks geplant. Stéphane und seine Gewerkschaft
       machen weiter.
       
       *Die Protagonisten wollen nicht mit Familiennamen zitiert werden.
       
       4 Feb 2023
       
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   DIR Rudolf Balmer
       
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