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       # taz.de -- Verwaltungschaos in Spanien: Zona Cero – Ground Zero
       
       > Bei Madrid sackt die Erde durch einen unverantwortlichen U-Bahn-Bau ab.
       > Nun begehren gefährdete und empörte Menschen auf gegen die
       > Regionalverwaltung.
       
   IMG Bild: Der U-Bahn Bau verursacht bedrohliche Risse an einer Hauswand in San Fernando de Henares in Madrid
       
       Madrid taz | Den 3. Januar wird Nines Garoz so schnell nicht vergessen. Die
       65-Jährige, die im Speisesaal einer Grundschule arbeitet, genoss ihren
       Feierabend. Es war gegen 16 Uhr, Garoz saß vor dem Fernseher: „Die
       Mittagsnachrichten waren gerade um, da hörte ich einen fürchterlichen Lärm,
       der Boden bebte.“ So schnell wie möglich versuchte sie, ihre
       Souterrainwohnung zu verlassen, doch die Tür ließ sich nicht bewegen,
       „alles war verzogen“. Zum Glück kam eine Nachbarin ihr zur Hilfe: „Sie
       drückte von außen, ich zog von innen.“ Irgendwann ging die Wohnungstür von
       Garoz auf. Das gesamte Gebäude, in dem 52 Menschen östlich von Madrid an
       der Plaza del Trebol in San Fernando de Henares leben, hatte sich 20
       Millimeter gesenkt.
       
       Es war der bisher letzte schwere Zwischenfall, seit hier am 5. Mai 2007 die
       aus der [1][Hauptstadt Madrid] kommende Linie 7 der U-Bahn mit einer
       Station eingeweiht wurde. Immer wieder senkt sich seitdem der Boden. Laut
       Gemeindeverwaltung sind mittlerweile mehr als 600 Wohnungen in San Fernando
       beschädigt worden. 88 Familien mussten bereits ihr Heim verlassen, 27
       Wohnungen wurden bislang abgerissen. Weitere 27 stehen kurz vor dem Abriss.
       
       Seit dem 3. Januar nun gehört auch Nines Garoz, die sich ihre
       68-Quadratmeter-Wohnung mit ihrem 31-jährigen Sohn und dessen schwangerer
       Partnerin teilt, dieser Statistik an. Überall in ihrer Wohnung hatten sich
       bis zu drei Zentimeter breite Risse aufgetan, an manchen Stellen waren die
       Fußleisten abgeplatzt, ein Heizkörper hing schief. Türen und Fenster waren
       aus dem Winkel geraten. „Zwar ist jetzt alles repariert, aber im Bad ist
       der Boden ständig leicht feucht“, berichtet Garoz. Sie vermutet, dass die
       Grundplatte und die Fundamente des Gebäudes beschädigt sind und so
       Feuchtigkeit zu ihr in das Souterrain durchlassen.
       
       Nines Garoz, die vor sechs Jahren aus einem Nachbarort hierher kam, zahlt
       weiterhin ihre monatlichen Raten an die Bank. „Für eine Eigentumswohnung,
       die eigentlich nichts mehr wert ist“, sagt die hagere Frau enttäuscht und
       mit leiser Stimme. Von offizieller Seite entschädigt wurde keiner und keine
       der Betroffenen bisher. Was Garoz am meisten beunruhigt: „Ich habe Angst,
       es könnte noch schlimmer kommen.“
       
       David Casado pflichtet ihr bei. „Das ist wie ein Tsunami“, sagt der wegen
       Rückenproblemen frühverrentete Lagerarbeiter, der mit Frau und kleiner
       Tochter gleich bei Garoz um die Ecke wohnt, in der Calle Virgen del Templo.
       Von seinem Balkon im dritten Stock beobachtete er schon lange die fatale,
       sich zuspitzende Situation. „Ohne auf die Idee zu kommen, dass es auch mich
       betreffen könnte“, sagt er lakonisch.
       
       Nach und nach wurden in San Fernando Häuser abgerissen; auf der
       entstandenen Freifläche stehen nun Baumaschinen, lagern Rohre. Die Arbeiter
       pumpen, im Auftrag der städtischen U-Bahn-Gesellschaft und der Madrider
       Regionalregierung, Mörtel in den Untergrund. „Sie wollen so das Gelände
       stabilisieren. Doch das funktioniert ganz offensichtlich nicht“, sagt
       Casado.
       
       Vor seiner Wohnungstür liegt ein Fußabstreifer mit dem Aufdruck: „Das Glück
       ist drinnen“ – das galt zumindest bis zu jenem Tag, als er die ersten
       Haarrisse in Wohnung und Treppenhaus ausmachte. Der Frührentner sitzt in
       seinem Wohnzimmer, das mit Familienfotos und Fanartikeln des Fußballklubs
       Atlético de Madrid geschmückt ist. Er kramt sein Handy hervor, öffnet eine
       Messenger-App. „Schauen Sie, am 7. Juli 2021 habe ich erstmals die ‚Gruppe
       der von der Metro Betroffenen‘ kontaktiert.“ Die Risse in seiner Wohnung
       nahmen unaufhörlich zu, wurden größer. Plötzlich begann der Aufzug an der
       Schachtwand zu streifen. Spätestens jetzt war Casado klar, dass auch sein
       Wohnblock zu den betroffenen Gebäuden gehörte.
       
       Mittlerweile sind überall rund um Casados Straße metallene Bauzäune
       aufgestellt worden. Sie sperren die Bohr- und Injektionsarbeiten ab und
       verhindern, dass die Bewohner von außerhalb der betroffenen Zone sehen, wie
       prekär es tatsächlich um diesen Teil von San Fernando steht. Casado und
       Garoz gehören zu den 150 Familien, die durch [2][die Bauarbeiten] immer
       wieder unter Strom-, Wasser- und Gasausfällen leiden.
       
       Wer die von der Absenkung betroffenen Straßen aufmerksam entlang blickt,
       merkt schnell, dass in den Fluchten etwas nicht stimmt. Die Vertikalen sind
       nicht parallel, die horizontalen Linien weisen leichte Kurven auf, manche
       Balkone hängen etwas nach unten. Und dann Risse, überall Risse. Zona Cero –
       Ground Zero – nennen die Anwohner das Gebiet.
       
       Der Aufhänger für das Desaster liegt in einer Schicht Grundwasser, die vom
       nahen Jarama-Fluss gespeist ist. Wie bei U-Bahn-Stationen üblich, hat auch
       die von San Fernando einen Schacht, in dem sich das Wasser, das in den 40
       Meter unter der Oberfläche verlaufenden Tunnel eindringt, sammelt. Es wird
       entsprechend von dort abgepumpt. Das Problem: Der U-Bahn-Tunnel verläuft
       entlang einer salzhaltigen Erdschicht. Das Wasser löst das Salz, das
       Volumen der Erde nimmt ab.
       
       Die Folge: Das gesamte umliegende Gelände senkt sich. 2008 stellte man die
       ersten Schäden an Gebäuden fest – nur ein Jahr nach der Einweihung der
       U-Bahn-Station von San Fernando. Je länger die U-Bahn hier seitdem in
       Betrieb ist (die Stationen nach San Fernando sind seit Sommer 2022
       geschlossen), umso mehr Wasser mit aufgelösten Salzen wird abgepumpt. Und
       das Gebiet, das sich senkt, breitet sich dementsprechend aus.
       
       „Unser Haus und das von Nines Garoz seien wieder stabil, hat uns ein
       Ingenieur gesagt“, berichtet Casado. Glauben kann er das nicht. Denn
       schließlich sollen rings herum weitere Gebäude abgerissen werden. „Selbst
       wenn du irgendwann entschädigt wirst, verlierst du alles, deine
       Wohlfühlzone, dein Leben“, sagt er. Besorgt beobachtet Casado, wie viele
       seiner Nachbarn auch, Tag für Tag die Messpunkte im Treppenhaus und an den
       Fassaden der umliegenden Gebäude. Sie zeigen, ob sich Risse und Fugen
       bewegen. „Das hört nicht auf“, ist sich Casado sicher.
       
       „Im Sommer, wenn ich die Fenster auf hatte, hörte ich früher Flamencomusik,
       statt wie jetzt den Lärm der Baumaschinen.“ Casado erinnert sich an die
       Zeit, bevor die Erde nachgab. Die Musik kam aus der Tanzschule von Nieves
       Jiménez – dort unten, wo sich jetzt der Lagerplatz der Bautrupps befindet.
       „Mein Elternhaus war eines der ersten, das abgerissen werden musste“,
       erinnert sich die 52-jährige Lehrerin für klassischen spanischen Tanz. Am
       4. Juni 2021 wurde es für unbewohnbar erklärt, am 7. Februar kamen letztes
       Jahr die Bagger, machten es dem Erdboden gleich. Auf dem Handy bewahrt sie
       ein Video von jenem traurigen Moment auf.
       
       „Mein Vater wohnt seither in einer kleinen Mietwohnung und ich, ich habe
       meine Existenz verloren“, sagt Jiménez, Tochter einer Arbeiterfamilie, die
       mit 18 anfing im Erdgeschoss des Elternhauses Tanzunterricht zu geben. „Ich
       war immer eine selbstständige Frau, verdiente mein Geld. Jetzt muss ich vom
       Geld meines Mannes leben. Das tut weh.“
       
       Jiménez erinnert sich noch gut an die Jahre, als die U-Bahn-Linie 7 gebaut
       wurde. „Die Älteren in San Fernando redeten viel über den wenig stabilen,
       sehr grundwasserhaltigen Untergrund“, sagt Jiménez und verweist auf den
       Namen der Straße in der sie aufgewachsen ist: „Calle de la Presa“ – Straße
       des Stauwehrs. Es war Anfang der 2000er Jahre, die Jahre des spanischen
       Baubooms.
       
       Überall schossen rund um Madrid neue Stadtteile wie Pilze aus dem Boden.
       Die konservative Regionalregierung brüstete sich damit, so viele
       U-Bahn-Kilometer zu verlegen, wie sonst niemand in Europa. Den
       Linienverlauf der U7, auf der auch die Station von San Fernando liegt,
       änderte man im letzten Augenblick. Anfang Mai 2007 und nur drei Wochen vor
       den Regional- und Kommunalwahlen, weihte die damalige konservative
       Regionalpräsidentin Aguirre genau jene Teilstrecke ein, die jetzt die
       Häuser absinken lässt.
       
       „Ich verstehe nicht, wie angesichts einer solch schlimmen Situation die
       Regierung der Autonomen Region Madrid nicht mit uns zusammenarbeitet“,
       beschwert sich der Bürgermeister von San Fernando, Javier Corpa, bei einer
       Pressekonferenz vor einem der Bauzäune. „Nichts wird mit uns abgesprochen.“
       Der 42-jährige Corpa war, bevor er in die Kommunalpolitik ging, Arbeiter in
       der Lkw-Fabrik Iveco unweit von San Fernando. Er gehört der Gewerkschaft
       UGT und der sozialistischen Partei an. Sein Industriestädtchen ist einer
       der wenigen roten Flecken in dieser konservativen Region.
       
       ## Kein gemeinsamer Aktionsplan
       
       Die Regionalverwaltung ihrerseits erkennt nur diejenigen Gebäude als vom
       U-Bahn-Bau betroffen an, die abgerissen wurden. Bürgermeister Corpa fordert
       nun einen gemeinsamen Aktionsplan, der Entschädigungen für alle Betroffenen
       vorsieht – egal ob die Wohnung abgerissen oder „nur“ beschädigt wurde. Und
       er will Absprachen im Vorfeld, was die Bautrupps wann und wo unternehmen.
       
       Vergebens. Für Isabel Díaz Ayuso, die konservative Präsidentin der
       Regionalregierung, sind [3][die Proteste] der Geschädigten „aggressive
       Aktionen“ und „politisch motiviert“. Es ginge der Linken nur darum, mit
       Hilfe des Leidens der Menschen, Wahlen zu gewinnen.
       
       Und die Regionalregierung behauptet sogar, die Schuld am Verlauf der Linie
       7 habe die Gemeindeverwaltung von San Fernando selbst. Das empört den
       Bürgermeister. „Ayuso will die Bürger für dumm verkaufen“, beschwert er
       sich. „Ein Bürgermeister kann doch verlangen, was er will: Eine U-Bahn wird
       von der Regionalregierung geplant, gebaut und betrieben.“
       
       Hier an der Calle Nazario Calonge, wo Corpa mit der Presse spricht, wird
       wohl das vorläufig letzte Kapitel der Katastrophe geschrieben. Die
       Regionalbehörden wollen in den kommenden Tagen eine weitere Sichtschutzwand
       aus Metall aufstellen – einmal mehr ohne Absprache mit dem Rathaus. Ein
       Großteil der Gebäude auf der rechten Straßenseite soll dann abgerissen
       werden.
       
       „Niemand hat uns informiert. Sie lassen uns völlig im Ungewissen“,
       beschwert sich Mar Martínez, deren Friseursalon auf der anderen
       Straßenseite liegt. Ihr Geschäft wird dann nur noch über einen etwas mehr
       als einen Meter breiten Weg zwischen Zaun und Häuserfront zu erreichen
       sein. „Dann kommen, wenn überhaupt, nur noch Stammkunden. Laufkundschaft
       werde ich keine mehr haben“, sagt die 54-Jährige.
       
       „Zerstörte Leben“ steht auf einem Plakat am Schaufenster ihres
       Friseursalons. Martínez ist gleich dreifach vom Desaster rund um die U-Bahn
       betroffen. Ihr Geschäft befand sich einst genau neben dem Tanzstudio von
       Nieves Jiménez. „Anders als ihr Haus, steht das unsrige noch. Mein Vater
       wohnt weiterhin dort, umgeben von Baustellen“, erzählt sie. Martínez musste
       gehen, wenn sie nicht alle Kundschaft verlieren wollte.
       
       Offiziell wurde sie nie als Opfer der U-Bahn-Linie anerkannt, zahlte Umzug
       und Renovierung des neuen Ladenlokals selbst. Anders als zuvor im
       Erdgeschoss des Elternhauses fällt jetzt eine monatliche Miete an. Der
       Umzug war im April 2022. Nur ein Viertel Jahr später tauchten auch im neuen
       Laden die ersten feinen Risse auf. „Sie wurden größer und größer“, sagt
       Martínez. Sie zeigt auf die Decke und die Wand über dem Fenster im
       Nebenraum des Friseursalons. Dort platzt die Farbe ab, der Putz ist
       gerissen.
       
       Auch ihre Wohnung in der Nähe ist nun beschädigt. „Der halbe Block soll
       jetzt abgerissen werden. Unsere Ecke bleibt davon aber erst einmal wohl
       verschont“, sagt sie. Das Leben, es werde sich dennoch verändern. Martínez
       lebt in einem der teuersten Wohnviertel im Zentrum von San Fernando. „Was
       wird aus dem Parkhaus, dem Schwimmbad und den Rasenflächen hier – niemand
       hat uns darüber aufgeklärt“, meint sie ungehalten. Ganz zu schweigen davon,
       dass ihre Wohnung eben einfach nichts mehr wert sei. Denn wer will auch
       schon eine Immobilie, die langsam im Boden von San Fernando de Henares
       versinkt?
       
       Es fällt Mar Martínez sichtlich schwer, über all das zu reden. „Jetzt
       schaue ich mich wieder um nach einem neuen Ladenlokal“, sagt sie betrübt.
       Wieder von vorne anfangen, nur ein paar Straßen weiter: „Auf sicherem
       Boden.“
       
       Doch das hat sie letztes Mal auch geglaubt. „Brutal schnell geht das hier“,
       meint Martínez mit gedrückter Stimme und hofft, dass sie die Entwicklung in
       San Fernando de Henares nicht abermals einholt.
       
       14 Feb 2023
       
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