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       # taz.de -- Feministisches Rachedrama in Göttingen: Ein Kuss für die Ewigkeit
       
       > Ivana Sokola schickt am Deutschen Theater Vergewaltigungsopfer auf die
       > „Pirsch“. Das artifizielle Rachedrama der Hamburger Autorin gelingt gut.
       
   IMG Bild: Im Wortsinn und symbolisch: Immer wieder verheddert sich jemand in diesen Gummiband-Sichtblenden
       
       Lodernde Illumination der Bühne und Ansprache ans Publikum. Hier brenne ein
       Vulkan, heißt es am DT Göttingen, „es muss das Tor zur Hölle sein“. Vor dem
       kommen Jahr für Jahr die Bewohner eines Dorfes zusammen und lassen, so
       schützenfesttrunken wie karnevalistisch aufgekratzt, ihre Hemmungen fahren.
       Eine brodelnde Atmosphäre für Übergriffe aller Art.
       
       Womit die Uraufführung von Ivana Sokolas „Pirsch“ – 2022 mit dem
       [1][„Autor*innenpreis“ des Heidelberger Stückemarkts] ausgezeichnet –
       sogleich bei ihrem explosiven Thema wäre: Triebabfuhr als strukturelle
       männliche Gewalt.
       
       Marinka ist eines der ungezählten Opfer. Hinter einer Jahrmarktsbude wurde
       sie vor 15 Jahren vergewaltigt, was im Text mit „KUSS“ umschrieben wird.
       Vor lauter Scham-, Schuld- und Ohnmachtsgefühlen sowie alkoholisiert
       unscharfer Erinnerung versuchte sie damals nicht den Weg des Rechts mit
       einer Anzeige zu gehen, sondern verließ ihre Heimat. „Die Grammatik der
       Wunde“ sei ihr bis heute fremd. „Es sitzt mir im Nacken, das Tier“, seither
       – all die Zeit.
       
       Die in Hamburg gebürtige Autorin, an der UdK Berlin im szenischen Schreiben
       ausgebildet, lässt Marinka an den Ort des Verbrechens zurückkehren: „Ich
       sehe / Die Witze sind dieselben geblieben. / Die alten Perücken passen noch
       / Die Fratzen grinsen hinter den Spitzengardinen. / Ich hingegen bin
       durchsichtig geworden / Fast weiß, verblassend vor den Buden / Eine Frau
       aus Zucker: / Angeleckt / Und liegengelassen“.
       
       Aber sie sagt auch: „Ich habe Zähne / Mittlerweile“ und „Ich bin hier /
       Wegen der Nacht / Und der Gerechtigkeit“. Sprich: Selbstjustiz. Dafür
       animiert sie einen animalischen Chor, „die Hunde“, zur Jagd. Sie
       jubilieren: „Du willst ihn / Den einen? / Warum so bescheiden? / Sie alle /
       Die küssen / Wir fassen“. Die drei „Hunde“-Darsteller geben in Kampfanzügen
       aber auch diejenigen, die gefasst werden sollen: schwankende Gestalten mit
       Tiermasken, die zum Fest aus dem Käfig sozial gebändigter Männlichkeit
       ausbrechen: „Eine Bestie tut, / was eine Bestie will“.
       
       Nachdem das Theater Münster mit Antje Rávik Strubels „Blaue Frau“ und das
       St.-Pauli-Theater mit [2][Neil LaButes „Die Antwort auf alles“] kürzlich
       ihre Diskursanregungen zum Mord an Vergewaltigern mit psychologischem
       Realismus auf die Bühne geholt hatten, folgt nun Regisseurin Christina
       Gegenbauer dem radikalen Ansatz mit der poetisch gemeinten, rhythmisierten
       Sprache Sokolas in entsprechend künstlichen Arrangements.
       
       Die Bühnentiefe ist gestaffelt durch Sichtblenden aus Gummibändern. In
       denen verheddern sich die Darsteller:innen mit Trachten zitierenden
       Kostümen immer wieder – sowohl im Wortsinn als natürlich auch symbolisch.
       
       Während Polizistin Lena erst mal nur beobachtet, agieren Marinka und ihr
       Bruder Jan anfangs wie Marionetten, kreiseln im Rausch des Festes, kieksen,
       glucksen, übersetzen onomatopoetisch das optisch servierte Feuerwerk in
       Klang und stellen mit überbetontem Sprechduktus ihre Sicht der Dinge vor.
       
       Marinkas Lidschatten verschmiert, als sie nach Formulierungen für das
       sucht, was ihr passiert ist. Ernst genommen aber wird sie nicht. Jan
       wiegelt ab, „der KUSS gehörte zum FEST. / Es war nur ein Spaß“. Oder
       vielleicht sogar nur ein Traum. Er will sich und den anderen das Fest nicht
       vermiesen lassen, rät zum fortgesetzten Verschweigen. Auch aus Angst,
       Anteile seiner Persönlichkeit in der Tat zu entdecken.
       
       Letztlich ist er ein Lobbyist der [3][Rape Culture], in der sexuelle Gewalt
       stillschweigend geduldet ist und kaum strafrechtliche Folgen hat. Auch in
       der bundesdeutschen Wirklichkeit werden die meisten Taten nicht angezeigt,
       andererseits sind die Gerichte kaum am Schutz der weiblichen Opfer, auch
       nicht an Wahrheit und Gerechtigkeit interessiert, sondern nur am Bedienen
       von Gesetzestexten.
       
       Dafür brauchen sie Beweise – und die fehlen meist bei den unter Ausschluss
       der Öffentlichkeit stattfindenden Verbrechen.
       
       So steht nachher Aussage gegen Aussage, woraufhin Angeklagte in
       Vergewaltigungsprozessen überproportional häufig mit gar nicht erst
       eröffnetem Hauptverfahren, Verfahrenseinstellungen oder einem Freispruch
       davonkommen. Eine solch unbefriedigende Sanktionierungspraxis antizipiert
       wohl auch Mirjam Rasts Marinka.
       
       Sie ist weniger eiskalter Engel aus einem Rape-and-Revenge-Thriller, denn
       eine furienhaft geladene Frau, und gerade dann überzeugend, wenn Wut aus
       ihr hervorbricht und das Spiel ungeheuer körperlich wird. Lukas Beelers Jan
       und Judith Strößenreuters Lene haben eine feinere, emotional unterfütterte
       Diktion und deuten mit zurückhaltenderen Auftritten mehrere Facetten ihrer
       Figuren an.
       
       Sich aus der Opferrolle zu befreien, dafür bietet das Stück zwei Ansätze.
       Marinka hat nur noch olfaktorische Erinnerungen an ihren Peiniger, daher
       sollen die Hunde schnüffeln „nach einem bestimmten Geruch. / Nach / Sowas
       wie / Alten Männern, Hühnersuppe / Rauch / Primeln / Diesem Shampoo, das
       nach Kiefern riecht“. So wird die Hatz erst mal eröffnet als eine Art
       Massaker gegen alle Macker als mögliche Vergewaltiger.
       
       Lena, die sich ebenfalls als Missbrauchsopfer zu erkennen gibt, geht
       hingegen gezielt auf die Pirsch nach dem einen, findet und stranguliert
       ihn. Die Autorin behauptet einfach mal Rache als möglichen Umgang mit
       Traumata.
       
       Aber die Bühnenaktion verharrt recht abgezirkelt in einer choreografischen
       Personenführung und die hochgetunte Sprache feiert sich selbst. Gut sieht
       die Inszenierung aus, hört sich gut an, bleibt aber eher intellektuell und
       formverliebt, sodass die Ausgangsfrage apart verhallt: Wie umgehen mit
       übergriffiger Männlichkeit?
       
       18 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.die-deutsche-buehne.de/aktuelles/heidelberger-stueckemarkt/
   DIR [2] https://www.st-pauli-theater.de/programm/die-antwort-auf-alles/
   DIR [3] /Rape-Culture/!t5013883
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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