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       # taz.de -- Wahlwiederholung in Berlin: Entscheidend ist die Mobilisierung
       
       > Umfragen können trügerisch sein. Denn es kommt darauf an, dass die
       > eigenen Anhänger wirklich wählen gehen. Das gilt gerade bei geringer
       > Beteiligung.
       
   IMG Bild: Wahlplakate sind ein wichtiger Punkt bei der Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft
       
       23 Prozent CDU, 21 Prozent Grüne, 18 Prozent SPD: Guckt man sich [1][die
       jüngste seriöse Umfrage] an, könnte man meinen, die wiederholte Wahl am 12.
       Februar sei bereits entschieden: Kai Wegner von der CDU als Wahlsieger,
       aber weiter in der Opposition, weil das bisherige links-grüne Bündnis
       erneut die Hälfte der Stimmen und damit ausreichend Sitze für eine Mehrheit
       im Parlament bekommt. Und neue Regierungschefin wird die Grüne Bettina
       Jarasch. Alles klar also schon Wochen vor der eigentlichen Entscheidung?
       
       Eben nicht. Und das liegt nicht nur daran, dass die Umfrageinstitute
       mögliche Unschärfen ihrer Befragungen meist auf plus minus 3 Prozentpunkte
       beziffern. Viel wichtiger ist der Fakt, dass Rückhalt in einer Umfrage noch
       längst nicht bedeutet, dass die dortigen Unterstützer sich auch tatsächlich
       zum Wahllokal bewegen oder alternativ mit dem Briefwahlumschlag zum
       Postkasten.
       
       Mit Blick auf die Wahlbeteiligung ist nun über Parteigrenzen hinweg immer
       wieder zu hören: „Das ist wie bei einer Europawahl.“ Die hat
       klassischerweise die geringste Beteiligung, nur 60,6 Prozent nahmen zuletzt
       2019 teil. Bei der Bundestagswahl und der parallelen Abgeordnetenhaus 2021
       waren es hingegen starke 75,2 Prozent.
       
       Je geringer aber die Wahlbeteiligung, umso mehr wirkt sich aus, wie stark
       eine Partei ihre eigenen Anhänger an die Wahlurne bekommt. Wenn eine Partei
       beispielsweise 10 Prozent der rund 2,5 Millionen Berliner Wahlberechtigten
       fest hinter sich stehen hat und an die Wahlurne bringt, entspricht bei 100
       Prozent Wahlbeteiligung auch 10 Prozent der Stimmen. Wenn aber wie [2][bei
       der jüngsten Europawahl] insgesamt nur 60 Prozent mitstimmen, macht dieser
       feste Unterstützerblock plötzlich 16 Prozent aus.
       
       Leute mit Wahlplakaten, Auftritten oder TV-Spot von sich zu begeistern, ist
       also das eine – sie an die Wahlurne zu bringen, das andere. In
       Großbritannien hieß es früher, die Konservativen seien an einem
       regnerischen Wahltag im Vorteil: Sie hätten mehr Autos als die
       Labour-Partei, um ältere, den Gang nach draußen scheuende Wähler ins
       Wahllokal zu bringen.
       
       ## Taktieren geht über Studieren
       
       Für diese Mobilisierung – der Begriff lässt ein wenig schlucken, weil
       zeitlich in Russland eine Mobilmachung in ganz anderer Weise laufen soll,
       aber wir sprechen ja auch von Wahlkampf – können sogar aktuell schlechte
       Umfragewerte hilfreich sein. Dass die eigene Partei hinten liegt, bringt
       den einen oder anderen zuvor Wahlmüden am Ende vielleicht doch dazu, die
       Ausgangssituation mit der eigenen Stimme ändern zu wollen.
       
       Liegt sie aber sehr weit hinten, wie gerade die SPD, kann die Idee
       auftauchen: Meine eigentliche Partei kann ich nicht mehr nach vorn bringen,
       aber wenn ich grün wähle, kann ich einen CDU-Wahlsieg verhindern.
       
       Eine Führung in Umfragen wiederum kann ähnlich entgegengesetzte Reaktionen
       auslösen. Zum einen könnte sie Wahlkämpfer und Wähler einlullen und
       vermitteln – siehe oben –, dass die Sache schon gelaufen sei und keiner
       großen weiteren Anstrengung bedarf. Solche eine Führung kann aber auch
       einen Bandwaggon- oder Mitläufer-Effekt auslösen: Wer zuvor noch
       unentschieden war, könnte nun allein deshalb bei der Wahl für die aktuell
       führende CDU stimmen, weil er oder sie bei den Siegern sein will, egal wer
       das ist.
       
       Die größte Unwägbarkeit bleibt zudem: Schafft die SPD – [3][jüngst beim
       Grünen-Parteitag] gar nicht mehr als Gegner wahrgenommen – wie 2021 doch
       noch eine Aufholjagd? Denn bei einer Direktwahl der Regierungschefin oder
       des Regierungschef läge Franziska Giffey der Umfrage zufolge weit vorne: 34
       würden sie wählen, 20 Prozent Kai Wegner und nur 15 Prozent Bettina
       Jarasch. Wenn Giffey und ihre Partei das noch ummünzen können in
       SPD-Stimmen, sieht die Sache wieder ganz anders aus.
       
       Kurzum: Es bleibt spannend – entschieden ist noch nichts.
       
       28 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/01/berlin-trend-wahl-abgeordnettenhaus-sonntagsfrage-grafiken-umfragewerte.html
   DIR [2] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/EU2019/AFSPRAES/index.html
   DIR [3] /Landesparteitag-der-Berliner-Gruenen/!5910194
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
       ## TAGS
       
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