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       # taz.de -- Wie das Wetter am Nordpol mit dem Hochwasser im Ahrtal zusammenhängt
       
       > Der Nordpol ist die Wetterküche der Nordhalbkugel. Die Veränderungen dort
       > erhöhen über den Jetstream die Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen
       > auch in Mitteleuropa
       
   IMG Bild: Eisbohrkerne ermöglichen die Erhebung einer Vielzahl von Klimadaten
       
       Von Nick Reimer
       
       Mehr als 220 Tote bei der Flutkatastrophe in Westeuropa 2021, schon wieder
       ein Dürrejahr 2022 in Deutschland nach 2018 und 2019 oder das wärmste
       Silvester aller Zeiten: Die Extreme häufen sich – und das liegt auch an den
       Veränderungen des Klimas in der Arktis. Was die Wissenschaft über den
       Einfluss der nördlichen Hemisphäre auf unser Wetter herausgefunden hat.
       
       Wie sieht es aktuell am Nordpol aus? 
       
       Derzeit ist es dort rund um die Uhr dunkel und bitterkalt. Das Meer friert
       langsam wieder zu. [1][Knapp 14 Millionen Quadratkilometer Ozean] waren
       zuletzt von arktischem Eis bedeckt. Das ergab eine Messung des
       Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung. Im März aber, wenn
       die Sonne wieder von den Randzonen des Arktischen Ozeans grüßt, beginnt ein
       Teil des Eises zu schmelzen. Das setzt sich monatelang fort, im arktischen
       Sommer ist es 24 Stunden am Tag hell.
       
       Dieser natürliche Vorgang wiederholt sich Jahr für Jahr. Doch der
       Klimawandel hat neuen Untersuchungen zufolge dafür gesorgt, dass sich die
       Arktis in den vergangenen 40 Jahren fast viermal so stark erwärmt hat wie
       die Welt im globalen Durchschnitt. Herausgefunden haben das
       [2][Forscher:innen aus Norwegen und Finnland]. Sie werteten
       Temperatur-Datensätze aus, nach denen sich die Arktis durchschnittlich um
       0,75 Grad pro Jahrzehnt erwärmte. Insgesamt ist das also bereits ein Plus
       von 3 Grad. Das wiederum führt dazu, dass jedes Jahr mehr und mehr Meereis
       taut. Dadurch heizt sich der Ozean immer weiter auf.
       
       Warum heizt sich der Ozean durch tauendes Meereis weiter auf? 
       
       Wegen des sogenannten Albedo-Effekts. Wie ein Spiegel reflektiert die helle
       Eisoberfläche Sonnenlicht – und damit auch die Strahlungsenergie. Dort
       aber, wo das Eis weggetaut ist, kommt die dunklere Wasseroberfläche zum
       Vorschein. Diese absorbiert die Strahlungsenergie stärker. Sehr helles Eis
       weist einen Albedo-Wert von 0,8 auf; es werden also 80 Prozent
       Strahlungsenergie in die Atmosphäre zurückgestrahlt. Wasser besitzt dagegen
       den Albedo-Wert 0,1; bedeutet: 90 Prozent der Energie gehen in den Ozean.
       
       Und so erwärmt sich die Arktis immer stärker, was einen immer stärkeren
       Rückgang des Meereises zur Folge hat. An der Messkurve kann man diese
       Entwicklung seit Jahren verfolgen. Waren Anfang der 90er Jahre am Ende des
       arktischen Sommers noch mehr als 7,5 Millionen Quadratkilometer mit Eis
       bedeckt, so sank die Fläche 2012 auf gerade noch 3,5 Millionen
       Quadratkilometer.
       
       Wann ist die Arktis eisfrei, wenn das so weitergeht? 
       
       Darüber gibt es in der Wissenschaft noch keine Klarheit. Einige
       Untersuchungen sehen den Nordpol [3][vor dem Jahr 2050] eisfrei, allerdings
       noch nicht dauerhaft, sondern mal einen Sommer lang. Eine Studie der
       Universität Cambridge kommt in Zusammenarbeit mit dem britischen National
       Meteorological Service dagegen zu dem Ergebnis, dass der Nordpol
       [4][bereits 2035] im Sommer eisfrei sein könnte. Unstrittig ist: Wird die
       Klimaerhitzung auf global durchschnittlich 1,5 Grad begrenzt, ist ein
       zeitweise eisfreier Nordpol rund alle 40 Jahre zu erwarten. Bei 2 Grad mehr
       wird das jedoch schon alle drei bis fünf Jahre der Fall sein.
       
       Warum ist der Nordpol für uns wichtig? 
       
       Weil er unsere Wetterküche ist. Die Größe der Meereisfläche beeinflusst
       nicht nur den Strahlungshaushalt, sondern auch die atmosphärische Dynamik.
       Niedrige Temperaturen über dem Eis sorgen für ein Absinken von Luftmassen,
       wodurch sich hier Tiefdruckgebiete bilden.
       
       Wichtig ist außerdem die Temperaturdifferenz der Arktis zu den Tropen.
       Diese treibt den Jetstream an, einen Höhenwind, der Hoch- und
       Tiefdruckgebiete von West nach Ost über die Nordhalbkugel bläst und so
       unser Wetter bestimmt. Weil es am Nordpol aber immer wärmer wird, verliert
       dieser Jetstream seine Kraft und bewegt sich nicht mehr in gleichmäßigen
       Wellenbewegungen über die Nordhalbkugel.
       
       Ende Juli 2021 registrierten die Forscher:innen eine besonders extreme
       Auswirkung des Klimawandels. An einer Station in Nordost-Grönland, in einem
       Gebiet, wo die Temperatur allenfalls stundenweise über die Null-Grad-Marke
       klettert, zeigten die Messgeräte 23,4 Grad Celsius. Ein neuer
       Temperaturrekord. Normalerweise sorgt der Jetstream dafür, dass kalte und
       warme Luftmassen verwirbelt werden. In diesem Juli 2021 war es auf Grönland
       aber fast so warm wie in den Tropen. Wenn dem Jetstream die Kraft fehlt,
       weil die Temperaturdifferenz zu den Tropen sinkt, kommt es bei uns in
       Mitteleuropa zu Wetterextremen. So schreiben Meteorologen die Trockenheit
       im Frühjahr 2018, die Hitze im Sommer 2019 und das Hochwasser an Ahr und
       Erft 2021 dem lahmenden Jetstream zu.
       
       Ist der Zusammenhang wissenschaftlich erwiesen? 
       
       Gewissermaßen ja. Die Attributionsforschung untersucht, wie wahrscheinlich
       ein Wetterereignis eintritt, einmal mit und einmal ohne den bisherigen
       Klimawandel. Für das verheerende Hochwasser 2021 kam sie zu dem Ergebnis,
       dass die Wahrscheinlichkeit für ein solches Wetterextrem durch den
       Klimawandel um das [5][1,2- bis 9-Fache gestiegen ist]. Anders formuliert:
       Ein Hochwasser wie an Ahr und Erft, das als „HQ 100“ eingestuft wurde,
       kommt ohne Klimawandel statistisch alle 100 Jahre vor. Nimmt man jedoch den
       wahrscheinlichen Mittelwert der Attributionsforschung, geschieht solch eine
       Naturkatastrophe mittlerweile alle 20 Jahre.
       
       Auch die Trockenheit im Frühjahr 2018 sowie die Hitze im Sommer 2019
       schreiben Meteorologen dem Jetstream zu. Damals bewegte er sich wochenlang
       so um Mitteleuropa herum, dass kühlende, regenreiche Tiefdruckgebiete von
       der Region ferngehalten wurden.
       
       Lässt sich der Jetstream wieder stabilisieren? 
       
       Nur theoretisch. In der Praxis müssen dafür die Temperaturen rund um den
       Nordpol stark sinken, damit die Temperaturdifferenz zum Äquator wieder
       ansteigt und sich stabilisiert. Das setzt voraus, das weniger Sonnenenergie
       in den Arktischen Ozean eindringen kann. Dafür muss aber die
       Meereisbedeckung stark zunehmen. Leider passiert genau das Gegenteil.
       
       27 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://data.meereisportal.de/maps/latest/extent_long_n.png
   DIR [2] https://www.nature.com/articles/s43247-022-00498-3
   DIR [3] https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1029/2019GL086749
   DIR [4] https://www.nature.com/articles/s41558-020-0865-2.epdf
   DIR [5] https://www.worldweatherattribution.org/wp-content/uploads/Scientific-report-Western-Europe-floods-2021-attribution.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nick Reimer
       
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