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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Das Moment von Russlands Nachbarn
       
       > Ob schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden oder nicht, ist für
       > eine eventuelle Eskalation irrelevant. Darüber entscheidet allein Putin.
       
   IMG Bild: Soldaten in Bakhmut
       
       Gibt es ein „polnisches Moment“ in Europa? Bei der Debatte diese Woche in
       der Berliner Zentrale der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
       ging es um diese Frage. Anlass war das neue Buch des langjährigen deutschen
       Botschafters in Warschau, Rolf Nikel. Dieses interessante Buch kommt genau
       zum richtigen Zeitpunkt.
       
       Polen, als größtes Land unter den östlichen EU-Mitgliedern, als Land, das
       Hunderte von Waffen in die Ukraine schickt, könnte in der Tat eine neue
       Führungsrolle in Europa übernehmen. Wären da nicht die Probleme mit der
       Rechtsstaatlichkeit und der erbitterte Streit mit Brüssel.
       
       Vielleicht wäre richtiger, nicht von der polnischen, sondern von der
       mitteleuropäischen Stunde zu sprechen. In wenigen Wochen jährt sich der
       Beginn des russischen [1][Angriffskrieges gegen die Ukraine] zum ersten
       Mal. 12 Monate schaffen eine gewisse Distanz – wenn man sie angesichts
       Tausender sterbender Soldaten und unschuldiger Zivilisten überhaupt haben
       kann.
       
       Die letzten 12 Monate markieren auch eine Zeit, in der Mittel- und
       Osteuropa einen tiefgreifenden Wandel erlebt hat. Die Region, die früher
       als ein Monolith angesehen wurde, scheint jetzt geteilt zu sein, wobei
       andere Länder als in der Vergangenheit den Großteil der Aufmerksamkeit auf
       sich ziehen. So denkt beispielsweise heute kaum noch jemand an die ehemals
       modische [2][Visegrád-Gruppe], sondern man guckt auf die unmittelbaren
       Nachbarn Russlands – Polen und die baltischen Staaten.
       
       ## Wie Deutschland 1945
       
       Auf sie rückt die Hauptaufmerksamkeit der westlichen Welt. Warum sind die
       unmittelbaren Nachbarn Russlands so wichtig? Die Antwort ist einfach: Wegen
       ihrer besonderen Herangehensweise an die Frage der Eskalation in der
       Ukraine. Die Nachbarn Russlands, die Ukraine inklusive, teilen die Haltung
       Moskau gegenüber. Dieser Ansatz ist von grundlegender Bedeutung für die
       Definition der Ziele der aktuellen Auseinandersetzung mit Präsident
       Wladimir Putin.
       
       Es ist auch ein Ansatz, der in der westlichen Welt nicht ausreichend
       anerkannt wird. [3][Bundeskanzler Olaf Scholz] ist in den letzten Monaten
       wegen seiner Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert
       worden. Glaubt man jedoch den Umfragen, so ist seine Zurückhaltung nicht
       nur in der Bundesrepublik, sondern auch in weiten Teilen der westlichen
       Welt weit verbreitet.
       
       Der Grund dafür ist, dass der Westen die Sorge hat, ein falscher Schritt
       werde zu einer Eskalation des gegenwärtigen Konflikts und möglicherweise in
       einen Atomkrieg führen. Russlands unmittelbare Nachbarn vertreten hingegen
       eine völlig andere Auffassung. Nach Ansicht von Warschau, Riga und Kiew
       kann die Eskalation des aktuellen Konflikts allein von Wladimir Putin
       entschieden werden. Dieser Konflikt eskaliert von selbst, ohne dass die
       Länder westlich von Moskau dafür verantwortlich wären.
       
       Das Einzige, was wir entscheiden können, ist das Ausmaß der
       Entschlossenheit als Reaktion auf das Verhalten des Kremls. Die Nachbarn
       Russlands sind überzeugt, dass man entschlossener reagieren muss, weil man
       nur so gewinnen kann. Ziel ist es, Russland bis ins Jahr 1991 oder sogar
       bis zur völligen Niederlage und Zerstörung zurückzubefördern – ins Jahr
       Null, wie 1945 Deutschland.
       
       Das osteuropäische Moment liegt darin, dass die Definition des Krieges und
       die zu erwartenden Ergebnisse mit einem für die Region ungewöhnlichen
       Selbstbewusstsein verbunden sind, das aus wichtigen historischen
       Erfahrungen mit Russland resultiert. Doch nur wenn es dem Westen und dem
       Osten gelingt, einander mit Empathie und Verständnis zu begegnen, kann
       dieses Moment zu einem gesamteuropäischen werden.
       
       11 Feb 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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