URI: 
       # taz.de -- Wahlkampf in Nigeria: Kleine Partei im Höhenflug
       
       > Am 25. Februar wird in Nigeria gewählt. Das Land steckt in einer tiefen
       > Krise. Nun mischt Peter Obi den Wahlkampf auf.
       
   IMG Bild: Eunice Atuejide will für die Labour Party ins Parlament einziehen: Wahlrally in Lagos am Samstag
       
       Lagos taz | Eunice Atuejide ist seit sieben Uhr morgens auf dem Tafawa
       Balewa Square (TBS) in Lagos unterwegs. Die 43-jährige Rechtsanwältin
       begrüßt Mitglieder der Labour Party (LP), telefoniert, verschickt
       Kurznachrichten und hofft, dass alles funktioniert, wenn Peter Obi hier
       seinen großen Auftritt hat. Der große Platz im Zentrum von Afrikas größter
       Stadt, auf dem vor 50 Jahren Pferderennen stattfanden, fasst 50.000
       Menschen.
       
       Seit Tagen betonen LP-Funktionäre: Selbstverständlich werde man TBS füllen
       und es damit dem omnipräsenten All Progressives Congress (APC) – die Partei
       von Präsident Muhammadu Buhari, die bei der Wahl am 25. Februar mit dem
       ehemaligen Gouverneur von Lagos, Bola Tinubu, ins Rennen geht – zeigen.
       Nigerias Jugend habe die alten Männer und etablierten Parteien satt, Obi
       sei ihr Kandidat.
       
       Peter Obi ist 61 Jahre alt und selbst Teil des Establishments. Er leitete
       eine Bank, war von 2007 bis 2014 Gouverneur des Bundesstaates Anambra und
       kandidierte bei der letzten Wahl in Nigeria 2019 für die People’s
       Democratic Party (PDP), die das Land von 1999 bis 2015 regierte, als Vize
       ihres Spitzenkandidaten Atiku Abubakar. Als PDP vergangenes Jahr den
       mittlerweile 76-jährigen Atiku erneut zum Spitzenkandidaten kürte,
       wechselte Obi zur kleinen Labor Party, die nun einen nie dagewesenen
       Höhenflug erlebt.
       
       Daran arbeitet Eunice Atuejide, die für die LP ins Parlament einziehen
       will. Seit Wochen ist sie mitten im Wahlkampf, Tag und Nacht, sie schläft
       manchmal gerade einmal zwei Stunden pro Nacht. In ihrem Wahlkreis Apapa
       liegen Teile des Hafens von Lagos, einer der größten Afrikas, aber die
       Straßen dorthin sind wegen des Schwerlastverkehrs voller großer
       Schlaglöcher. „Die Menschen haben nicht einmal Wasser“, berichtet sie. „Ich
       habe schon abgepacktes gekauft und verteilen lassen. Es gibt so viel zu
       tun.“
       
       120.000 Euro hat sie bereits für ihren Wahlkampf ausgegeben, selbst
       finanziert, mindestens 100.000 Euro seien bis zur Wahl noch notwendig.
       „Mich unterstützen viele Menschen, die in England oder Dubai leben“, sagt
       Eunice Atuejide und betont: Es gehe nicht darum, Stimmen zu kaufen, sondern
       Wahlhelfer*innen zu bezahlen, die Haustürwahlkampf betreiben und
       Plakate kleben, welche ebenfalls bezahlt werden müssen.
       
       ## Benzin- und Bargeldmangel
       
       Atuejide ging als 19-Jährige zum Studium nach Frankreich und lernte dort
       ihren ersten Mann kennen, einen Deutschen. Viele Jahre lebte sie im
       westfälischen Siegen und später in Würzburg, sie ist Mutter von fünf
       Kindern und Großmutter eines Enkels, alle leben in England. 2016 hörte sie
       eine Rede von Peter Obi und war fasziniert: „In einem Land, in dem
       Politiker eigentlich Diebe sind, gibt es trotzdem eine Chance für jene, die
       auf anderen Wegen etwas erreichen wollen. Eine Karriere in der Politik ist
       möglich.“
       
       Ein Jahr später fasste die Juristin den Entschluss, nach Nigeria
       zurückzugehen, und zog nach Lagos. Zunächst gründete sie ihre eigene
       Partei, die National Interest Party (NIP), wechselte dann aber zu Labour.
       „Ich bin glücklich, dass ich hier bin. Nigeria muss dringend geholfen
       werden. Sonst wird es gefährlich.“
       
       Afrikas Riesenstaat mit 220 Millionen Einwohner*innen ist angespannt
       wie selten, die Wirtschaftskrise und die Sicherheitslage sind desaströs.
       [1][Aktuell kommen Benzin- und Bargeldmangel hinzu.] Viele Menschen wissen
       nicht, wie sie das nächste Essen bezahlen sollen. Generell ist die Stimmung
       rund um Wahlen in Nigeria ohnehin aufgeheizt. Politische Ämter bringen
       Einfluss und viel Geld, der Kampf um die Macht ist hart und gnadenlos.
       
       Tafawa Balewa Square will sich an diesem Samstagmittag einfach nicht
       füllen. Nur wenige „Obidiants,“ wie der Spitzname der
       Obi-Unterstützer*innen lautet, sind schon gekommen und haben sich einen
       Platz im Schatten gesucht. Die Tribünen bleiben leer. Die
       Organisator*innen kritisieren, Leute würden daran gehindert,
       überhaupt nach Lagos Island zu kommen. Die Straßen seien dicht.
       
       Ben Iyoha hat es geschafft. An Stirn und Knie des 30-Jährigen kleben
       Pflaster. Das Auto, mit dem er gekommen ist, steht wie ein Mahnmal in der
       Nähe der Tribüne: Die Scheiben sind zersprungen, die Spiegel abgebrochen.
       Das sei auf dem Weg von Ajah hierher passiert, erzählt Iyoha.
       
       „In einem Autokorso wollten wir Anhänger von Obi herfahren. Doch dann kamen
       plötzlich zwei Busse auf uns zugerast und stoppten uns. Menschen sprangen
       heraus, sie hatten Macheten und Waffen und zerschlugen die Scheiben.“ Iyoha
       wurde aus dem Auto gezerrt und getreten. „Wenn die Polizei nicht gekommen
       wäre, würde ich vielleicht gar nicht mehr leben.“ Die Polizeibehörde von
       Lagos hat den Überfall bestätigt.
       
       ## „Viele sind müde“
       
       Solche politischen Gewalttaten erleben junge Menschen in Lagos nicht zum
       ersten Mal. Als sie landesweit im Oktober 2020 gegen die Brutalität der
       Polizei-Sondereinheit SARS demonstrierten, starben allein in einer Nacht an
       der Mautstelle Lekki zwölf Menschen durch das Vorgehen der Polizei. Obi
       verurteilte damals die Polizeigewalt. Heute unterstützen ihn eine Reihe
       bekannter Demonstrant*innen aus dieser Bewegung.
       
       Für Ben Iyoha ist Obi ein Hoffnungsträger. „Viele sind müde, wollen nur
       noch das Land verlassen und üben viel Druck auf europäische Staaten, die
       USA und Kanada aus. Das ist nicht gut“, findet er. Mit den
       Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien, Bola Tinubu (APC) und Atiku
       Abubakar (PDP), träten zwei wohlhabende Über-70-Jährige an, die seit
       Jahrzehnten zur politischen Elite gehören. Obi sei anders: „Er hat uns
       versprochen, kein Geld zu stehlen und aus Nigeria eine Wirtschaft zu
       machen, die produziert und nicht bloß konsumiert.“ Denn es fehlt an
       Arbeitsplätzen. Schätzungsweise jede*r zweite junge Erwachsene unter 30
       Jahren hat keine bezahlte Arbeit.
       
       Mittlerweile ist es 15 Uhr. Ganz voll ist der Platz noch immer nicht, aber
       für die Kundgebung reicht es. Nach mehreren Eingangsreden ist Obi an der
       Reihe. „Das, was dieses Land in den vergangenen 20 Jahren hervorgebracht
       hat, ist Arbeitslosigkeit, Hochschulstreiks, Benzinknappheit“, ruft er den
       Leuten zu. „Ich verspreche euch: Wir arbeiten hart daran, Menschen aus der
       Armut zu holen.“ Auch wolle er das ethnisch und religiös gespaltene Nigeria
       einen.
       
       Wahlen werden in afrikanischen Staaten häufig auf dem Land gewonnen. In
       großen Städten wie Lagos wird zwar eifrig debattiert, letztendlich gehen
       viele Menschen aber nicht zur Wahl. In den Dörfern haben APC und PDP
       stärkere Netzwerke als LP. Ist Obis Höhenflug also ein Strohfeuer?
       
       „Dieses Mal ist alles anders“, ist Eunice Atuejide sicher. Sie steht auf
       der Ehrentribüne, fotografiert mit ihrem Smartphone und lässt sich
       fotografieren. Die Wahl am 25. Februar hält sie für eine einmalige Chance.
       „Wenn wir die verpassen, müssen wir wieder vier Jahre warten.“
       
       12 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bargeld--und-Benzinknappheit-in-Nigeria/!5914969
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Gänsler
       
       ## TAGS
       
   DIR Nigeria
   DIR Nigeria
   DIR Nigeria
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Muhammadu Buhari
   DIR Nigeria
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Umweltaktivist über Wahlen in Nigeria: „Diese Wahl wird vieles klären“
       
       Am Samstag findet die Präsidentschaftswahl in Nigeria statt. Der bekannte
       Umweltaktivist Nnimmo Bassey äußert sich dazu und zum Klimawandel.
       
   DIR Enviromental activist about elections in Nigeria: „Many Nigerians are tired“
       
       Nigeria's foremost environmental activist Nnimmo Bassey talks about the
       upcoming elections. He also speaks about the need for change and the
       climate issue.
       
   DIR Queere Selbstsuche auf der Berlinale: Mal im Geheimen, mal in Freiheit
       
       Queere Selbstsuche in konträren Realitäten: „All the Colours of the World
       Are Between Black and White“ aus Nigeria und der Berlin-Film „Drifter“.
       
   DIR Bargeld- und Benzinknappheit in Nigeria: Kämpfen um den letzten Schein
       
       In Nigeria gelten die alten Geldscheine nur noch bis Mitternacht. Neue gibt
       kaum. Menschen können keine Lebensmittel mehr kaufen.
       
   DIR Präsidentschaftswahlen in Nigeria: Schlammschlacht auf Nigerianisch
       
       Einen Monat vor den Wahlen treibt der Wahlkampf bizarre Blüten. Der
       Dachverband der politischen Parteien fordert den Rückzug der beiden
       Spitzenreiter.