URI: 
       # taz.de -- Debatte um Paragraf 218: Bis zur Geburt oder gar nicht
       
       > Wer sachlich auf die Debatte guckt, kommt zum Schluss: Abtreibungen auf
       > Wunsch der Schwangeren müssen ganz verboten – oder komplett erlaubt
       > werden.
       
   IMG Bild: Der Paragraph 218 bisher zwischen zwischen Abbrüchen vor und nach der 12. Woche
       
       Der [1][Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe] stellt,
       soll abgeschafft werden. Das wollen SPD und Grüne, die FDP ist strikt
       dagegen. Einigen konnte sich die Ampel deshalb nur auf eine Kommission, die
       eine Regelung außerhalb des Strafgesetzes prüfen soll. Vor Ostern, das hat
       Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am Freitag gesagt, werde diese
       ihre Arbeit aufnehmen.
       
       Diese Kommission muss sich nun auch mit einem Thema beschäftigen, das im
       öffentlichen Diskurs bislang fehlt. Denn darin geht es nur um
       Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche nach Empfängnis*, die 96,7
       Prozent aller Abbrüche ausmachen. Dabei sind die vom Paragrafen 218
       verursachten Versorgungslücken nach diesem Zeitpunkt sehr viel größer.
       
       Gegner:innen eines liberalen Abtreibungsrechts werfen SPD und Grünen
       zwar vor, die Entscheidung über Schwangerschaftsabbrüche „bis zum letzten
       Tag“ vor der Geburt Frauen selbst überlassen zu wollen. So die
       rechtspolitische Sprecherin der FDP, Katrin Helling-Plahr, [2][in einer
       Bundestagsdebatte im März 2021] zu einem Antrag der Linken, der von SPD und
       Grünen unterstützt worden war. Darin geht es aber lediglich um die
       Entkriminalisierung von Abtreibungen. Zu späten Abbrüchen äußern sich die
       beiden Parteien nicht. Erst recht nicht über die nach der 21. Woche, wenn
       die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig
       wären und deshalb vor der Geburt mit einer Kaliumchloridspritze ins Herz
       getötet werden.
       
       Über solche Fetozide redet niemand gern, Wahlen gewinnt man damit nicht.
       Als 2009 das Gesetz zu Spätabbrüchen verschärft wurde, geschah dies mit
       Stimmen von SPD und Grünen. [3][Selbst die taz fragte in einem Leitartikel]
       vor zwei Jahren, ob man nicht „zwischen Abbrüchen im Frühstadium und
       Spätabbrüchen“ unterscheiden müsse.
       
       ## Eine willkürliche Frist?
       
       Eine schlüssige Begründung fehlt sowohl in dem Text als auch in der
       Argumentation derjenigen, die den Paragrafen 218 verteidigen – der bereits
       zwischen Abbrüchen vor und nach der 12. Woche unterscheidet. Es ist eine
       willkürliche Frist, der Unterschied ein gefühlter. Wer sich sachlich mit
       dem Thema auseinandersetzt, kommt zu dem Schluss: Abtreibungen auf Wunsch
       der Schwangeren müssen ganz verboten – oder ganz erlaubt werden, so wie es
       in Kanada seit 1988 der Fall ist.
       
       Es ist wahrscheinlich, dass die Zahlen dann leicht ansteigen – allein, weil
       nicht mehr jährlich 1.200 Deutsche in die Niederlande fahren müssen, [4][wo
       nach taz-Recherchen jede dritte bis vierte Schwangerschaft] zwischen der
       12. und 22. Woche abgebrochen wird. Aber Frauen werden die Entscheidung wie
       bisher nicht leichtfertig treffen und Mediziner:innen werden weiter
       verantwortungsvoll handeln. Dafür spricht: In Kanada liegt seit 2007 die
       Zahl der dokumentierten Abtreibungen nach der 19. Woche stabil [5][zwischen
       500 und 700 Fällen im Jahr]. 2021 waren es in Deutschland 728 nach der 22.
       Woche, Tendenz stetig steigend.
       
       Wie viele Schwangerschaften im letzten Trimenon abgebrochen werden, lässt
       sich aus den offiziellen Statistiken beider Länder nicht erkennen. Nach
       Untersuchungen der [6][Universitätskliniken Gießen] und Leipzig handelt es
       sich um Einzelfälle. Sie zeigen auch, dass Abbrüche nach der 22. Woche so
       gut wie immer aufgrund einer schweren Behinderung des Fötus geschehen. Das
       ist der Grund, warum selbst Feminist:innen das Selbstbestimmungsrecht
       der Frau einschränken wollen, wenn es um späte Abbrüche geht. Alles andere
       wäre behindertenfeindlich, in Deutschland nach der NS-Euthanasie ein No-Go,
       sagen sie.
       
       Nur: Deutschland wird immer behindertenfreundlicher – und trotzdem trauen
       sich weniger Frauen die Pflege eines schwerstbehinderten Kindes zu. Soll
       man sie zwingen, die Kinder zu bekommen, so wie es „Lebensschützer:innen“
       fordern? Treibt das die Inklusion voran? Wie? Eignen sich aus
       feministischer Perspektive Frauenkörper wirklich als anti-ableistische
       Barriere?
       
       Zudem sind weitere medizinische Fortschritte bei der Versorgung von
       Frühgeborenen nicht ausgeschlossen. Was passiert, wenn die Grenze zur
       Überlebensfähigkeit außerhalb des Uterus nicht mehr bei 21, sondern bei 16
       oder 10 Wochen liegt? Und warum sollte es akzeptabel sein, wenn ein Fötus
       stirbt, weil er aus der Gebärmutter entfernt wird, nicht aber, wenn er
       darin getötet wird? Wer dem Fötus nach der 21. Woche Rechte zuspricht,
       bestätigt letztlich die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts. Das
       hatte vor 30 Jahren die Rechte von Frau und Fötus für gleichwertig erklärt.
       
       ## Es braucht eine offene Diskussion
       
       Befürworter:innen eines liberalen Abtreibungsrechts betonen, dass
       Frauen, die eine Schwangerschaft nicht wollen, sie außerhalb des
       medizinischen Systems abbrechen – unter lebensgefährlichen Umständen. Ist
       diese Gefahr zumutbar, wenn der Abbruch im zweiten oder dritten Trimenon
       stattfindet und das Komplikationsrisiko um ein Vielfaches höher ist?
       
       Das sind alles keine einfachen Fragen. Aber sie müssen offen diskutiert
       werden. Sonst lässt man die Menschen alleine, die solch existenzielle
       Lebenserfahrungen machen und lädt das Problem bei den wenigen Ärzt:innen
       ab, die ihnen helfen.
       
       Denn, das hat eine weitere taz-Recherche gezeigt, wer derzeit in
       Deutschland nach der 12. Woche eine Schwangerschaft abbrechen will,
       [7][trifft auf intransparente Strukturen], willkürliche Entscheidungen von
       Mediziner:innen, muss oft weite Reisen in Kauf nehmen, sich vor Fremden
       rechtfertigen, wochenlang auf einen Termin warten.
       
       In Extremfällen verweigern Kliniken in Deutschland Frauen mit totem Fötus
       im Bauch eine Geburt. Dabei bleibt die vom Grundgesetz geschützte
       Menschenwürde auf der Strecke. Letztlich auch die des Fötus.
       
       * In diesem Artikel wird die Schwangerschaftsdauer – wie im Gesetz – ab der
       Empfängnis gezählt – nicht ab der letzten Menstruation.
       
       13 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Frauenrechte-in-Deutschland/!5866465
   DIR [2] https://dserver.bundestag.de/btp/19/19215.pdf#P.27154
   DIR [3] /Schwangerschaftsabbruch-nach--218/!5751368
   DIR [4] /Spaetabtreibungen-in-Deutschland/!5681768
   DIR [5] https://www.arcc-cdac.ca/media/2020/07/statistics-abortion-in-canada.pdf
   DIR [6] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5406231/
   DIR [7] /Spaete-Schwangerschaftsabbrueche/!5886892
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eiken Bruhn
       
       ## TAGS
       
   DIR Ableismus
   DIR Frauen
   DIR Menschenwürde
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Inklusion
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Paragraf 218
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Frauenpolitik
   DIR Paragraf 218
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Pränataltests auf Downsyndrom: Es geht nicht um Behindertenrechte
       
       Abgeordnete wollen die Folgen der Kassenzulassung des Trisomien-Bluttests
       untersuchen lassen. Sie glauben, es fehle an Beratung. Das ist falsch.
       
   DIR Paragraf 218: Reine Betroffenheitsprosa
       
       Die Ampel-Regierung folgt nicht dem Rat einer Kommission, Abtreibungen zu
       legalisieren. Damit verweigert sie sich dem Willen der Wähler:innen.
       
   DIR Paragraf 218: Nachhilfe für Marco
       
       Der Paragraf 218 StGB regelt, dass Schwangerschaftsabbrüche eine Straftat
       sind. Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung fordert eine Neuregelung.
       
   DIR CSU-Politikerin Bär zu Abtreibungen: Kein Grund für Paragraf 218
       
       CSU-Politikerin Dorothee Bär ist klar gegen eine Legalisierung von
       Schwangerschaftsabbrüchen. Auf die Frage, warum am §218 festhalten, hat sie
       keine Antwort.
       
   DIR Sachbuch zum Thema Abtreibung: Nichts falsch gemacht
       
       Laura Dornheim klärt empathisch darüber auf, wie alltäglich
       Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland sind. Und was hilft, wenn man
       selbst betroffen ist.
       
   DIR Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland: Bundesregierung beruft Kommission
       
       Das Abtreibungsrecht ist eines der heikelsten politischen Themen. Eine
       Kommission soll prüfen, ob es Regelungen außerhalb des Strafrechts geben
       soll.
       
   DIR Frauenrechte in Deutschland: Paragraf 218-Kommission verzögert
       
       Eigentlich sollte im Bundestag längst eine Kommission darüber diskutieren,
       ob der Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden kann.
       
   DIR Späte Schwangerschaftsabbrüche: Drei Komma drei Prozent
       
       Ralf Schild nimmt späte Schwangerschaftsbbrüche vor. Damit ist er ziemlich
       allein, denn viele Mediziner:innen ducken sich weg.
       
   DIR Spätabtreibungen in Deutschland: Letzter Ausweg Holland
       
       Jede dritte bis vierte Frau, die eine Schwangerschaft im zweiten Trimester
       abbricht, fährt in die Niederlande.