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       # taz.de -- Straftaten von Kids in Schweden steigen: Cooler Typ oder Sonderschule
       
       > In Schweden verüben verstärkt Kinder Gewalt. Manche werden von Banden
       > angeworben, die ihnen Ruhm versprechen. Was kann man tun?
       
   IMG Bild: Zwei Polizisten suchen einen Tatort nach einer Schießerei ab
       
       Stockholm taz | Er ist 14 Jahre alt, als er im Zug nach Malmö sitzt. Ismail
       hat Stockholm noch nie verlassen, war kaum einmal außerhalb des eigenen
       Viertels. Jetzt wartet auch noch eine Nacht mit anschließendem
       Frühstücksbuffet in einem luxuriösem Hotel auf ihn.
       
       Gebucht haben ihm das die, für die er einen „Job“ machen soll. Neben sich
       auf dem Sitz hat er eine Tasche. In die darf er nicht hineinschauen, haben
       sie ihm gesagt. Er soll damit zu einer bestimmten Tankstelle gehen und dort
       auf ein Auto warten, dessen Kennzeichen sie ihm aufgeschrieben haben. Wenn
       das Auto anhält, soll er dem Fahrer die Tasche geben.
       
       Zurück in Stockholm bekommt er 25.000 Kronen für den „Job“, umgerechnet
       rund 2.500 Euro. Von dem Geld lädt er alle seine Freunde zum Abendessen ein
       und kauft sich ein Paar Inlineskates. „Aber natürlich konnte ich nicht mit
       neuen Inlines nach Hause kommen. Deshalb habe ich sie auf dem Asphalt
       gründlich zerkratzt, damit sie gebraucht aussehen. Ich habe meinen Eltern
       gesagt, dass ich sie von einem Freund bekommen habe.“ Die Lüge
       funktionierte.
       
       Ismail, der in Wirklichkeit anders heißt, hat diese Geschichte, wie er als
       Kind von einem kriminellen Netzwerk rekrutiert wurde, kürzlich der
       Stockholmer Tageszeitung Svenska Dagbladet geschildert. Als Schüler sei er
       immer schnell aggressiv geworden. Geld sei knapp und eng sei es zu Hause
       gewesen: Neun Personen in einer Dreizimmerwohnung.
       
       ## Nur brav nicken
       
       Er habe sich viel im Stadtzentrum herumgetrieben, Kontakt mit Älteren
       gesucht. Und dort bekommen, was er vermisste: Bestärkung und Kameradschaft.
       Nach dem Taschentransport nach Malmö habe man ihm vertraut, er bekam
       weitere Aufträge.
       
       Zwar hätten Polizei und Sozialdienst ihn bald auf dem Radar gehabt. Doch
       wenn die ältere Sozialarbeiterin ihn bei Saft und Keksen davor gewarnt
       habe, kriminell zu werden, habe er nur brav nicken und versprechen müssen,
       damit wirklich aufzuhören. Post von der Polizei an seine Eltern habe er
       abgefangen.
       
       Skogås ist ein Ort mit knapp 13.000 EinwohnerInnen, eine halbe Autostunde
       südlich von Stockholm gelegen. Am vergangenen Freitagmittag steht Schwedens
       Justizminister Gunnar Strömmer von den konservativen Moderaten vor einem
       Sushirestaurant. Schweigend betrachtet er ein Meer aus Kerzen und Blumen.
       
       ## Fast 400 Schusswaffentaten in 2022
       
       „Immer geliebt, nie vergessen“, steht handschriftlich auf einem Papier
       neben der eingerahmten Fotografie eines Jungen. Vor einigen Tagen wurde
       hier im Restaurant ein Fünfzehnjähriger erschossen. Zwei Tatverdächtige
       sind festgenommen worden: Ein ebenfalls 15-Jähriger und ein 17-Jähriger.
       „Es ist erschütternd, einfach schrecklich“, sagt der Minister.
       
       Fast 400 Schusswaffentaten habe es [1][2022 in Schweden] gegeben, zählt er
       dann auf einer Pressekonferenz die allseits bekannten Zahlen noch einmal
       auf. 62 Menschen seien dabei getötet worden: „In Norwegen waren es vier, in
       Dänemark vier und in Finnland zwei. Auch im internationalen Vergleich nimmt
       Schweden [2][eine Ausnahmestellung] ein.“
       
       Das neue Jahr hat in Schweden gleich mit einer Welle von Gewalttaten
       begonnen. Ausgelöst wurde diese offenbar von der Ermordung eines
       27-Jährigen, der eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung
       [3][konkurrierender Banden] um die Verteilung des Drogenmarkts gehabt haben
       soll. Er war am Weihnachtstag auf einem Parkplatz im Stockholmer Vorort
       Rinkeby erschossen worden.
       
       ## 2021 wurden 9 Jungs wegen Mordes verurteilt
       
       In den darauf folgenden Wochen gab es im Raum Stockholm über 20 schwere
       Gewalttaten, darunter fünf Morde, ein Dutzend Sprengstoffanschläge und eine
       Serie von Schießereien. Die Hälfte aller Tatverdächtigen dieser Gewaltwelle
       seit den Weihnachtstagen sind Minderjährige. Polizei und Sozialdienste
       warnen davor, dass schwere Straftaten bereits von 13-jährigen Kindern
       begangen werden.
       
       2021 wurden neun Jungen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren wegen Mordes
       oder versuchten Mordes verurteilt, im Jahr zuvor war es nur einer gewesen.
       Mehrere minderjährige Jungen werden derzeit des Mordes und versuchten
       Mordes verdächtigt. Ein 15-Jähriger hat die Erschießung eines 31-jährigen
       Bandenführers in einem Einkaufszentrum in Malmö gestanden. Ein 16-Jähriger
       ist wegen Mord in einem Fitnessstudio und einer Explosion in einem
       Restaurant angeklagt. Drei Teenager werden der Erschießung eines
       24-jährigen Bandenkriminellen in Gävle verdächtigt.
       
       In Schwedens moderner Geschichte wurden noch nie so viele Kinder
       verdächtigt, verhaftet und/oder wegen schwerer Gewaltverbrechen verurteilt
       wie derzeit. 2021 schätzte die Polizei, dass etwa 15 Prozent der
       Bandenkriminellen in Wohngebieten mit „schwachem sozioökonomischem Status“
       unter 18 Jahren alt waren. Mittlerweile geht man davon aus, dass der Anteil
       auf ein Drittel angewachsen sein könnte. Mindestens.
       
       ## „Sie sind wie Haie“
       
       Wie man in eine solche Spirale der Bandenkriminalität hineingezogen werden
       kann, habe er selbst erlebt, sagt Ismail. „Sie sind wie Haie. Haben sie nur
       die geringste Spur von Blut gewittert, krallen sie dich und lassen dich
       nicht mehr los.“ Werde man als 15-Jähriger mit einem Kilo Haschisch
       erwischt, das die Polizei beschlagnahme, habe man Schulden. „Die kann man
       nicht bezahlen, man muss was dafür tun.“
       
       Wenn man es erst einmal auf ein volles Konto an Gewalttaten gebracht habe,
       müsse man weitermachen. Sei man nicht bereit, „das ganze Spektrum zu
       durchlaufen, besteht die Gefahr, selbst Opfer von anderen Kriminellen zu
       werden“.
       
       Es sei schwer, aus dieser Spirale herauszukommen: „Du musst hart sein,
       damit sie morgen oder übermorgen nicht zu mir kommen, dachte ich. Du musst
       ein Zeichen setzen. ‚Hey, ich bin nicht der Typ, mit dem du dich anlegen
       kannst.‘ Es war die Angst, die mich antrieb. Und du willst, dass die Leute
       Angst vor dir haben.“
       
       ## Optimale Kindersoldaten
       
       Bei den 14- bis 15-Jährigen sei es bei vielen regelrecht „in“, sich zu
       rühmen, wie man mit Schusswaffen umgehen kann: „Etwa, wie wenn man in einer
       Fußballmannschaft der beste Stürmer ist. Es sind Kinder, die raffen das gar
       nicht.“ Kinderpsychologen sehen das ähnlich. In Bandenkriegen seien
       Jugendliche optimale Kindersoldaten.
       
       Oft hätten sie einen noch ungenügend ausgebildeten Maßstab für Moral, ein
       mangelndes Konsequenzdenken und seien anfälliger für Gruppenzwang.
       Besonders, wenn sie schon früh traumatische Erfahrungen gemacht hätten,
       sagt die Psychotherapeutin Malin Kan. „Sie kann man ideal ausnutzen“,
       bestätigt der Kriminologe Jerzy Sarnecki.
       
       „Für Menschen in diesem Alter ist es eine Priorität, zu einer Gruppe zu
       gehören und akzeptiert zu werden“, sagt der Psychologe Jonathan Eliasson,
       der in einer sozialtherapeuthischen Institution viel Erfahrung mit
       jugendlichen Gewalttätern gesammelt hat.
       
       ## Auch Thema im Wahlkampf
       
       Für manche, die im sozialen Abseits lebten, habe die „Wahl“ einer
       kriminellen Laufbahn auch eine gewisse Logik: „Entweder konnte ich ein
       cooler Typ mit Geld und Mädchen sein, den andere bewundern, oder auf die
       Sonderschule gehen, sagte mir ein jugendlicher Gangkrimineller einmal: Was
       hättest du gemacht?“
       
       Die Frage, wie diese Entwicklung gestoppt werden könnte, war ein
       beherrschendes Thema im schwedischen Wahlkampf des letzten Jahres und
       vermutlich mitentscheidend für den Wahlsieg der blau-braunen
       Parlamentsmehrheit. Mehr Ressourcen für die Polizei, gar deren mögliche
       Unterstützung durch das Militär, strengere Strafen, eine Senkung des
       Strafmündigkeitsalters sind Rezepte seiner Regierung, die Justizminister
       Strömmer auch in Skogås wiederholte.
       
       Bloße Symbolpolitik lautet eine häufige Kritik, zumal die Regierung
       gleichzeitig mehr Ressourcen für die kriminalitätsvorbeugende Arbeit der
       Sozialdienste und für das Schulwesen verweigere.
       
       ## Forderung nach individueller Sozialarbeit
       
       Vielleicht bedürfe es ja auch längerer Freiheitsstrafen, meint Kriminologe
       Sarnecki, „aber wenn dann eben nur zusammen mit guten
       Behandlungsmaßnahmen“. Es gebe „ganz einfach keine Beweise dafür, dass
       erweiterte Zwangsbetreuung und Jugendgefängnisse wirksame Maßnahmen sind“,
       heißt es auch in einem kürzlich veröffentlichtem Appell von mehreren
       Kriminologen und Soziologen. Darin fordern sie, es müsse eine „individuelle
       Sozialarbeit zur Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen mit
       kriminellem Verhalten geben.
       
       Es sei „naiv zu glauben“, dass mehr Repression „die Frage der
       Schwerstkriminalität einer begrenzten Zahl von Jugendlichen lösen wird, die
       eher als Folge einer verfehlten Integrations- und Verteilungspolitik der
       letzten Jahrzehnte zu sehen ist“.
       
       In keinem nordischen Land ist die Einkommensverteilung mittlerweile so
       ungleich wie in Schweden. Die Schere der Einkommen zwischen Arm und Reich
       klafft hier nun so weit auseinander wie seit Beginn der statistischen
       Erhebung vor 50 Jahren.
       
       14 Feb 2023
       
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