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       # taz.de -- Begleitprogramm zur Berlinale: Die Welt aus der Sicht eines Pilzes
       
       > Die Woche der Kritik verbindet zum achten Mal Kino und Diskurs in Berlin.
       > Im Programm sind erfreulich viele Genrefilme und historische
       > Entdeckungen.
       
   IMG Bild: Künstlerische Pornografie: Szene aus „Café Flesh“ von Stephen Sayadin
       
       Unter dem Motto „Cinema of Care – Wer kümmert sich um das Kino?“ steht die
       achte Ausgabe der Woche der Kritik, die parallel zur Berlinale vom Verband
       der deutschen Filmkritik veranstaltet wird. Eine ebenso wichtige wie
       relevante Frage, denn gerade in Kultur und Film arbeiten viele Menschen
       unter mehr als prekären Bedingungen, während gleichzeitig verlangt und
       erwartet wird, gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden und somit
       Diversität und Achtsamkeit großzuschreiben.
       
       „Welche Verantwortung tragen heute Institutionen und Filmschaffende
       füreinander, und welche Arbeitsverhältnisse sind überholt?“, lautet eine
       der Fragen, die sich zum Auftakt des Filmprogramms am 17. Februar die
       Diskutierenden stellen, die in der von der Woche der Kritik gewohnten Form
       abläuft: Zwei oder drei, an diesem Abend sogar vier, allerdings kürzere
       Filme eröffnen den Abend, im Anschluss diskutieren mehrere Gäste. Zum
       Auftakt sind geladen: die Regisseur*innen Leonor Noivo und Brieuc
       Schieb sowie die Filmproduzentin Caroline Kirberg.
       
       In den folgenden Tagen erweist sich das Programm erfreulich reich an
       Genrefilmen, zum Beispiel am 19. Februar im Programm „Gentle Giants“. Der
       japanische Monster-Film „Shin Ultraman“ ist zu sehen, vordergründig eine
       typische Variation eines Kaiju-Films, bei dem ein überdimensioniertes
       Monster ganze Städte verwüstet, was in diesem Fall jedoch nur den
       Ausgangspunkt bildet für eine Reflexion über das Superheldengenre und
       Männerbilder im Kino, ein Aspekt, der auch Thema der anschließenden
       Diskussion sein wird.
       
       ## Seltsames und Postapokalyptisches
       
       Auch im Programm „Midnight Metabolism“ am Samstag, sind drei ganz
       unterschiedliche Genrefilme zu sehen: In „Mission to Mars“ beschreibt Amat
       Vallmajor del Pozo eine in Schwarzweiß und auf 16-mm-Material gedrehte
       Reise durch das karge Baskenland, die mal an die Irrwege Don Quijotes
       erinnert, mal an eine minimalistische Version der aktuell so beliebten
       postapokalyptischen Filme und Serien.
       
       Im überaus seltsamen „The Fifth Thoracic Vertebra“ zeigt Syeyoung Park die
       Welt aus Sicht eines mutierenden Pilzes, der aus Matratzen auf menschliche
       Wirte überspringt. Und schließlich der 1982 entstandene „Café Flesh“ von
       Stephen Sayadin, einem späten Vertreter des künstlerisch anspruchsvollen
       pornografischen Films, der in einer postapokalyptischen Welt Sex-negative
       und Sex-positive Menschen zeigt, Begriffe, die damals noch ganz anders
       konnotiert waren als heute.
       
       Die Programmierung dieses 40 Jahre alten Films weist auf eine erfreuliche
       Änderung der Programmpolitik der Woche der Kritik hin, die nicht mehr nur
       zeitgenössische Filme zeigt, sondern die Diskussionen auch mit historischen
       Filmbeispielen erweitert und vertieft. Hierzu zählt eine spannende
       Ausgrabung, die am 21. Februar als Special Screening gezeigt wird: „AKA
       Serial Killer“, ein 1969 entstandener Dokumentarfilm von Masao Adachi, in
       dem es um den Teenager Norio Nagayama geht, der vier Menschen ermordet
       hatte, was 1968 einen Schock für die sich selbst als pazifistisch
       wahrnehmende japanische Nachkriegsgesellschaft bedeutete.
       
       ## Ein Coup der Woche der Kritik
       
       Ebenfalls als Sondervorführung wird ein Film gezeigt, dessen Programmierung
       durchaus als Coup der Woche der Kritik bezeichnet werden kann, denn die
       Berlinale selbst hatte es tatsächlich abgelehnt, ihn zu zeigen. Die Rede
       ist von „Jeder schreibt für sich allein“, einem essayistischen
       Dokumentarfilm von [1][Dominik Graf, einem der renommiertesten deutschen
       Regisseure], der trotz aller Erfolge nie so ganz im deutschen
       Filmestablishment angekommen zu sein scheint.
       
       Vielleicht auch, weil er in Interviews und Filmen gerne und bewusst den
       Finger in die Wunden legt, Missstände des deutschen Kinos, aber auch der
       deutschen Gesellschaft aufzeigt. Das tut er auch in diesem mit 167 Minuten
       zwar etwas überlangen, aber unbedingt sehenswerten Film, der auf dem
       gleichnamigen Buch von Anatol Regnier basiert.
       
       Um das Verhalten von Schriftstellern im Nationalsozialismus geht es, um
       Gottfried Benn, Hans Fallada oder Erich Kästner, die sich auf
       unterschiedliche Weise mit dem Nazi-Regime arrangierten und zumindest
       opportunistisch agierten, um die Jahre zwischen 1933 und 1945 unbehelligt
       zu überstehen.
       
       Wie aktuell diese Thematik ist, zeigt nicht zuletzt die Figur von Will
       Vesper, von dem Regnier und Graf einen Bogen zum Sohn Bernward Vesper
       schlagen, der mit dem 1968 geschriebenen, erst 1977, nach dem Suizid
       seines Autors, erschienenen [2][„Die Reise“ einen Schlüsselroman zum
       Verhältnis der Nazi- und der RAF-Generation geschrieben] hat.
       
       Schade, dass ausgerechnet nach diesem Film, der so viele auch für die
       Gegenwart relevante Fragen aufwirft – von der Notwendigkeit von Protest bis
       zu duckmäuserischem Verhalten –, die ansonsten so diskussionsfreudige Woche
       der Kritik auf eine Diskussion verzichtet.
       
       15 Feb 2023
       
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