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       # taz.de -- Filmreihe „Perspektive Deutsches Kino“: Riecher für Talente
       
       > Jenni Zylka übernimmt in diesem Jahr die Leitung für „Perspektive
       > Deutsches Kino“. Zu sehen sind Filme von Menschen, deren Geschichte über
       > die hiesige Landesgrenzen reicht.
       
   IMG Bild: Bayan Leyla in „Elaha“ von Milena Aboyan
       
       Ob der deutsche Film eine Perspektive hat, darüber wird seit Jahren
       diskutiert, während die Branche dank vieler Millionen Euro staatlicher
       Fördergelder munter Filme produziert, die größtenteils ohne Beachtung ins
       Kino kommen. Um die Präsenz des deutschen Kinos auf der Berlinale zu
       erhöhen, [1][wurde die Berlinale-Reihe Perspektive Deutsches Kino] vor über
       20 Jahren gegründet, anfangs geleitet von Alfred Holighaus, anschließend
       von Linda Söffker.
       
       In diesem Jahr zeichnet zum ersten Mal die auch für die taz schreibende
       Journalistin, Schriftstellerin und langjährige Berlinale-Mitarbeiterin
       Jenni Zylka für die Leistungsschau des deutschen Filmnachwuchses
       verantwortlich, wobei dieser Begriff dehnbar ist: Etliche der
       Regisseur:innen sind um die 40 und würden wohl in kaum einer anderen
       Branche als Nachwuchs durchgehen. Aber die Strukturen des deutschen Films
       sind zäh, auch deswegen wird gespannt der [2][Auftritt der Staatsministerin
       für Kultur und Medien Claudia Roth] erwartet, die während der Berlinale
       einen Vorschlag zur Neustrukturierung der Filmförderung vorlegen will.
       
       Zumindest zahlenmäßig gibt es im deutschen Filmnachwuchs jedenfalls keinen
       Mangel, die Filmhochschulen sind gut besucht und haben auch bei
       Student:innen aus dem Ausland regen Zuspruch, wie die diesjährige
       Auswahl der Perspektive Deutsches Kino deutlich zeigt.
       
       Schon in den letzten Jahren fanden sich in der Perspektive immer häufiger
       Filme, die ihre Geschichte in der Ferne erzählten und damit der Entwicklung
       Rechnung tragen, dass sich Deutschland ganz ohne Frage zu einem
       Einwanderungsland entwickelt hat. Menschen mit unterschiedlichen
       Migrationserfahrungen leben inzwischen in Deutschland, die hier oder in den
       Ländern ihrer Herkunft oder der ihrer Eltern ihre Geschichten erzählen,
       Geschichten, die am Ende im besten Fall aber doch einen universellen Kern
       haben.
       
       ## Erwartungen der Eltern
       
       Vom schwierigen Umgang mit den Erwartungen der Eltern erzählen etwa gleich
       mehrere Filme. Der deutsch-türkische Regisseur Engin Kundag siedelt sein
       minimalistisches Drama „Ararat“ an der Grenze der Türkei zu Armenien an, wo
       die Eltern der jungen Frau Zeynep leben und arbeiten. Die wohnte in Berlin,
       dort hat sie einen Unfall verursacht, um ihrem Freund zu schaden. Nun ist
       sie in die Heimat ihrer Eltern geflohen und sieht sich mit archaischen
       Konventionen konfrontiert.
       
       Klassisches, betont sprödes, langsames Arthouse-Kino ist „Ararat“, ganz im
       Gegensatz zu „Elaha“, einem der stärksten Filme der diesjährigen
       Perspektive. Milena Aboyan siedelt ihren Film in der deutsch-kurdischen
       Gemeinschaft an, wo die 22-jährige Elaha kurz vor der Heirat steht. Die
       konservativen Eltern ihres zukünftigen Manns bestehen auf dem Nachweis der
       Jungfräulichkeit, doch Elaha hatte schon Sex und damit nun ein Problem: Das
       Hymen zu rekonstruieren kostet Geld, Alternativen erscheinen wenig
       vertrauenswürdig.
       
       Vor allem aber beginnt die junge Frau die Regeln und Traditionen, denen sie
       sich ausgesetzt sieht, infrage zu stellen. Stilistisch bewegt sich „Elaha“
       zwar in konventionellen Bahnen, überzeugt dafür aber mit authentisch
       wirkenden Figuren, pointierten Dialogen und vor allem einem differenzierten
       Blick auf seine Thematik.
       
       Wenn man bei den Filmen der Perspektive etwas vermisst, dann ist das
       stilistischer und erzählerischer Wagemut, ein Ausbrechen aus den
       Konventionen. Allzu glatt muten viele der Filme an, bewegen sich in den
       Bahnen ihrer jeweiligen Genres und Sujets, zeigen schon jene
       Stromlinienförmigkeit, die das deutsche Kino meist hat, in der es aber oft
       auch feststeckt, ja, es sich allzu gemütlich eingerichtet hat.
       
       Die größte Ausnahme ist der 30 Minuten kurze „Ash Wednesday“, der im
       Kurzfilmprogramm „Küsse und Kämpfe“ zu sehen ist. Das aus Brasilien
       stammende Regieduo Bárbara Santos und João Pedro Prado hat hierfür eine
       Favela nachgebaut, in der sich in den letzten Tagen des Karnevals von Rio
       eine Geschichte abspielt, die Formen des strukturellen Rassismus und der
       Misogynie, Polizeigewalt und Sexismus verhandelt – und zwar als in Reimen
       gesprochenes, gesungenes und getanztes Kurzmusical.
       
       Selbst wer des Portugiesischen nicht mächtig ist, wird begeistert sein vom
       Rhythmus der Reime ebenso wie von den Trommeln und Klängen. Ein
       spektakuläres filmisches Experiment, das auf ganz eigene Weise Inhalt und
       Stil zu einer Einheit formt.
       
       Ob es dieses Duo in einigen Jahren auch in die größeren Sektionen der
       Berlinale schafft, ins Panorama oder gar in den Wettbewerb „aufsteigt“?
       Schlecht stehen die Chancen nicht, denn seit seiner Gründung haben die
       Leiter:innen der Perspektive Deutsches Kino immer wieder einen guten
       Riecher für Talente bewiesen: In diesem Jahr eröffnet zum Beispiel der neue
       Film von Perspektive-Alumna Sonja Heiss, „Wann wird es endlich wieder so,
       wie es nie war?“, die Sektion Generation 14+, während Robert Schwentke mit
       „Seneca“ im Berlinale Special vertreten ist. Das lässt für den verstärkt
       internationalen deutschen Filmnachwuchs hoffen.
       
       19 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlinale.de/de/festival/sektionen/perspektive-deutsches-kino.html
   DIR [2] /Pressekonferenz-der-Berlinale/!5916627
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Meyns
       
       ## TAGS
       
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