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       # taz.de -- Investorenpraxen auf dem Vormarsch: Ohne App kein Hausarzt
       
       > Termine nur per App, keine Hausarztbesuche: Die Investorengruppe Avi
       > Medical betreibt inzwischen fünf solcher Praxen in Hamburg. Die Kritik
       > wächst.
       
   IMG Bild: Stressiger Job, den viele nicht mehr alleine machen wollen: Hausarzt
       
       Hamburg taz | Nachdem im vergangenen Jahr in Hamburg eine weitere
       Hausarztpraxis vom Startup-Unternehmen Avi Medical übernommen wurde, regen
       sich zunehmend Bedenken gegenüber deren Praxismodell. Gudrun Schittek, die
       gesundheitspolitische Sprecherin der grünen Bürgerschaftsfraktion, sagt,
       sie sehe die Praxisübernahmen durch Avi Medical „kritisch“.
       
       Denn deren Konzept richtet sich vor allem an junge, gesunde Versicherte. In
       den Praxen des Startups werden Termine nur über eine App vergeben, außerdem
       machen die dort angestellten Ärzt:innen keine Hausbesuche.
       
       Das schließt weniger mobile Menschen, viele Ältere mit Einschränkungen und
       chronischen Krankheiten, solche ohne Internetzugang oder mit
       Sprachbarrieren aus – genau diese sind in der ärztlichen Versorgung oft
       zeitaufwendig und damit weniger lukrativ.
       
       Zudem ist auffällig, dass sich drei der vier von Avi Medical betriebenen
       Praxen in eher wohlhabenden Stadtteilen befinden und damit das Gefälle in
       der medizinischen Versorgung weiter vertiefen: In den einkommensschwachen
       Teilen Hamburgs gibt es zu wenig Haus- und Kinderarztpraxen.
       
       ## Diskriminierung befürchtet
       
       Auch Deniz Celik, der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion der
       Linken, sieht den [1][Vormarsch der Investoren in den Arztpraxen] mit
       Sorge. Die Anmeldung ausschließlich per App sei „diskriminierend für alle
       Menschen, die nicht die entsprechende digitale Kompetenz haben“.
       
       Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) ist ebenfalls skeptisch. Die
       Terminvergabe des Startups widerspricht allerdings nicht den Vorgaben des
       Vertragsarztrechts. Laut dem Sprecher der KVH, Jochens Kriens, gibt es auch
       keine Überlegungen, diese Vorgaben zu verändern.
       
       Von Avi Medical selbst kam auf taz-Anfrage lediglich folgende Mitteilung:
       „Zu Ihren Fragen möchten wir uns nicht äußern, wofür Sie sicher Verständnis
       haben.“ Das 2020 gegründete Unternehmen hat laut businessinsider.de bis
       2022 rund 50 Millionen Euro Kapital eingeworben und betreibt 14 Praxen in
       Berlin, München, Stuttgart und Hamburg. In den nächsten drei Jahren sollen
       es 100 in ganz Europa werden.
       
       In Hamburg sind es derzeit fünf Praxen, wobei ausgerechnet die im weniger
       betuchten Fischbek „temporär geschlossen“ ist, wie es auf der Internetseite
       von Avi Medical heißt.
       
       Das Unternehmen wirbt für sich als „moderne Hausarztpraxis“ mit „kurzen
       Wartezeiten“ und „Behandlungen in unserer Praxis oder per Video“. Die
       gefällig ausgeleuchteten Fotos zeigen Praxen, die so eingerichtet sind,
       „dass Sie fast vergessen, dass Sie gerade beim Arzt sind“.
       
       Für Patient:innen ist nicht notwendigerweise ersichtlich, ob die von
       ihnen besuchte Praxis einem Finanzinvestor wie Avi Medical gehört. Bislang
       ist ein Hinweis etwa im Eingangsbereich oder im Impressum der Internetseite
       freiwillig. Ein Verpflichtung dazu kann nur auf Bundesebene verfügt werden.
       „Leider liegt fast alles in der Kompetenz des Bundes“, sagt Deniz Celik –
       womit sich die Frage stellt, welche Handlungsspielräume es vor Ort
       überhaupt gibt.
       
       [2][Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat angekündigt, im
       ersten Quartal 2023 einen Gesetzentwurf vorzulegen, „der den Einstieg
       dieser Heuschrecken in Arztpraxen unterbinde]t“. Avi Medical ist nicht der
       einzige Finanzinvestor, der in Hamburg Arztpraxen aufkauft. Der Trend ist
       ein bundesweiter und richtet sich ebenso auf andere medizinische
       Fachrichtungen.
       
       Ob sich mit einer Gesetzgebung gegen den Vormarsch der Investoren das
       Problem der medizinischen Unterversorgung in den armen Stadtteile löst, ist
       allerdings fraglich. In Hamburg ist das Problem lange bekannt. Über die
       richtige Gegenstrategie herrscht Uneinigkeit, ebenso wie über die
       Bereitschaft der Beteiligten, tatsächlich etwas zu verändern.
       
       ## Ungleich verteilte Arztsitze
       
       SPD und Grüne haben im vergangenen Jahr einen Antrag in die Bürgerschaft
       eingebracht, nach dem der Senat prüfen soll, ob bei der Arztsitzplanung
       kleinere Einheiten zugrunde gelegt werden können. Davon verspricht man sich
       mehr Praxen in den unterversorgten Stadtteilen. Dieses Vorgehen, das in
       Berlin bereits praktiziert wird, haben in der Vergangenheit auch
       Vertreter:innen der Poliklinik auf der Veddel eingefordert, die sich
       schon lange für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen einsetzen.
       
       Auch Deniz Celik von der Linken ist dafür, er fordert aber eine schnelle
       Umsetzung statt langwieriger Prüfung. Doch inzwischen ist die Skepsis
       gegenüber dem Modell gewachsen. Laut Gudrun Schittek hat es in Berlin nicht
       zu der erhofften flächendeckend besseren Versorgung geführt.
       
       Die Stadt Hamburg will in Stadtteilen mit besonders schlechter sozialer
       Lage die Gründung von insgesamt sieben [3][lokalen Gesundheitszentren]
       fördern, mit einer haus- und oder kinderärztlichen Praxis, einer modernen
       Form der „Gemeindeschwester“ und einer Sozialberatung. Gemeinnützige Träger
       können pro Zentrum eine Förderung von 100.000 Euro jährlich für drei Jahre
       erhalten. Bislang hat sich jedoch nur die Poliklinik auf der Veddel als
       lokales Gesundheitszentrum etabliert.
       
       Schittek zufolge scheitert die Gründung zum Teil an Räumen, vor allem aber
       an Ärzt*innen, die einen Kassensitz übernehmen könnten. Zum einen ist der
       Verdienst in der Allgemein- und Kindermedizin geringer als in anderen
       Fachrichtungen, zum anderen arbeiten junge Kolleg*innen zunächst lieber
       angestellt in Praxen, als selbst eine zu eröffnen oder zu übernehmen. Viele
       davon sind Frauen in der Zeit der Familiengründung, die den Wunsch nach
       festen und planbaren Arbeitszeiten haben und die hohen Kosten für eine
       Praxisübernahme scheuen.
       
       ## Berlin macht es vor
       
       [4][Es fehlt den lokalen Gesundheitszentren aber auch die Unterstützung
       durch die kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH)]. Die sieht in dem
       Modell der lokalen Gesundheitszentren durch die finanzielle Unterstützung
       eine Wettbewerbsverzerrung – deshalb kooperierten die niedergelassenen
       Ärzt:innen aus der Umgebung auch nicht mit den Zentren.
       
       Gudrun Schittek will nun die KVH stärker in die Lösung des Problems
       einbinden. In einem gemeinsamen Antrag von SPD und Grünen hat sie den Senat
       aufgefordert zu prüfen, welche rechtlichen Möglichkeiten für die KVH
       bestehen, eigene Einrichtungen zu gründen und auf Bundesebene gegen
       mögliche Hindernisse vorzugehen.
       
       Und die KVH selbst? Der Sprecher der KVH, Jochen Kriens, hält es angesichts
       der Tatsache, dass Hamburg ein einheitliches Planungsgebiet ist, für
       „unsachgemäß“ von über- oder unterversorgten Stadtteilen zu sprechen. Aber
       er verweist auf ein Maßnahmenpapier, das vorsieht, dass Sitze aus
       schlechter versorgten Regionen nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen
       in besser versorgte Regionen verlegt werden dürfen. Das mag eine
       Verschlechterung verhindern – aber wie ließe sich die Situation verbessern?
       
       Jochen Kriens schreibt, dass „KV-Eigeneinrichtungen denkbar wären“ – das
       würde allerdings voraussetzen, dass die kassenärztliche Vereinigung eigene
       Zulassungen halten könne, was derzeit gesetzlich nicht möglich sei. Ein
       Blick nach Berlin zeigt, dass dort die kassenärztliche Vereinigung nach
       langem Sträuben im letzten Jahr eine Hausarztpraxis gegründet hat.
       
       Die Hamburger Gesundheitsbehörde hat die Anfrage der taz zu den neuen
       Avi-Medical-Praxen und dem Fortschritt bei der Einrichtung der lokalen
       Gesundheitszentren unbeantwortet gelassen.
       
       6 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Krankenhauskonzerne-kaufen-Arztpraxen/!5538109
   DIR [2] /Aufkauf-von-Arztpraxen/!5904628
   DIR [3] /Sozialarbeiter-ueber-Gesundheitszentren/!5768194
   DIR [4] https://www.kvhh.net/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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