URI: 
       # taz.de -- Wahlkampf in Berlin: Kann man kleine Parteien wählen?
       
       > Am 12. Februar bieten sich viele kleine Parteien als Wahlalternative an.
       > Nur: Den Sprung ins Parlament wird wohl keine schaffen. Ein Pro und
       > Contra
       
   IMG Bild: Werden sie jemals wieder ihre Flagge hissen? Die Piraten saßen schon mal im Parlament
       
       Ja. 
       
       33 Parteien treten [1][am 12. Februar an], und schon diese Zahl zeigt: Das
       politische Spektrum endet nicht bei den sechs Parteien, die bislang im
       Abgeordnetenhaus sitzen. Die Berliner*innen haben viel mehr Optionen,
       wo sie ihre Kreuze machen können. Nur: Können sie damit etwas bewirken?
       Schließlich gilt es [2][laut Umfragen derzeit als unwahrscheinlich,] dass
       noch eine siebte Partei Vertreter*innen ins Abgeordnetenhaus schickt.
       
       Doch „verloren“ oder „verschenkt“ sind Stimmen für die
       Außenseiter*innen auf keinen Fall. Vielmehr äußert sich in dieser
       Wortwahl eine gewisse Verachtung für das demokratische System, für das die
       Möglichkeit von Veränderungen eine Grundbedingung ist: Wozu sollte mensch
       sonst wählen?
       
       Dass es diese Veränderungen gegeben hat, ist offensichtlich. Bis Anfang der
       1980er Jahre hatte die Bundesrepublik ein sogenanntes
       Zweieinhalbparteiensystem aus SPD, CDU und einer FDP, die ab und an ihren
       Koalitionspartner wechselte. Inzwischen sind es sechs Parteien, die als
       etabliert gelten können: Aus dem Schwarz-Weiß-Spektrum wurde eine
       vielfarbiges Portfolio, weil weder SPD noch CDU verhindern konnten, dass
       sie Konkurrenz an ihren Rändern bekommen haben.
       
       Für die Arbeit im Parlament ist das bisweilen schwierig, weil die Bildung
       von Koalition mehr Verhandlungen als früher verlangen. Aber letzten Endes
       bildet diese Vielfalt nur die Veränderungen in der Gesellschaft ab, die
       eben immer pluralistischer wird.
       
       Wenn nun am Ende dieses Wahlkampfs vor allem die Grünen an ihre
       Kernklientel appellieren, auf keinen Fall für kleinere Parteien zu stimmen,
       etwa aus [3][Frust über die Räumung von Lützerath], dann entbehrt das nicht
       einer gewissen Ironie: Es würde die Grünen schlicht nicht geben, wenn ihre
       Wähler*innen in den 1980ern diesen Rat befolgt hätten. Damals war das
       ein Zeichen, dass die bis dahin etablierten Parteien nicht mehr alle
       politisch relevanten Themen – in diesem Fall die Ökologie – abbildeten. Die
       Klimakrise und der Umgang damit könnte sich ähnlich im Parteiensystem
       abbilden.
       
       In Berlin gelang es 2021 [4][der Tierschutzpartei, mit 2,2 Prozent der
       Zweitstimmen zur größten der kleinen Parteien] zu werden; dank eines noch
       besseren Ergebnisses auf Bezirksebene zog sie in vier
       Bezirksverordnetenversammlungen ein. Weitere gut zehn Prozent entfielen auf
       die anderen „sonstigen“ Parteien, die damit zusammen fast so viel Stimmen
       auf sich vereinigen konnten wie die Linkspartei insgesamt.
       
       Daher ist nicht auszuschließen, dass absehbar ein oder zwei weitere
       Parteien eine Stammwähler*innenschaft um sich scharen können. Vor ein
       paar Jahren wäre es mit den Piraten fast so weit gewesen; auch sie
       „fischten“ unter anderen bei den Grünen. Statt eine „vernünftige“
       Entscheidung der Wähler*innen einzufordern, müssen die Parteien ihre
       inhaltliche Defizite erkennen, beheben und so den Wähler*innen
       entgegenkommen – damit diese sich nicht verabschieden. Bert Schulz
       
       ## Nein.
       
       Eine Stimme für Kleinstparteien ist eine verschenkte Stimme. Klingt hart?
       Mag sein. Aber wer als Wähler*in seine Stimme begreift, als die
       Möglichkeit mitzugestalten, der wählt eine Partei, die tatsächlich Politik
       macht: die den Neubau von Sozialwohnungen organisiert,
       Autobahnverlängerungen verhindert, und die um Geld für Schulsanierungen im
       nächsten Doppelhaushalt ringt, auch wenn enteignete Wohnkonzerne
       entschädigt werden müssen.
       
       Ob die Partei dabei in einer Regierungskoalition sitzt oder in der
       Opposition im Parlament, ist egal. Aber: Wer als eine Stimme des
       Volkssouveräns mitgestalten will, wählt die Möglichkeit zur Einflussnahme.
       
       Natürlich, eine Stimme für die Mieterpartei kann auch eine Stimme dagegen
       sein. Gegen [5][die Linke zum Beispiel], die in einer rot-grün-roten
       Koalition mit verantworten muss, dass der erfolgreiche Volksentscheid für
       die Enteignung großer Wohnkonzerne vielleicht nie in Gesetzesform gegossen
       wird.
       
       Man kann für die Klimaliste stimmen, wenn man gegen die Grünen ist, mit
       ihrer von vielen Klimabewegten als zu lasch empfundenen Klimaneutralpolitik
       und der nur schleppend in Gang kommenden Verkehrswende – insbesondere beim
       Ausbau der Radwegkilometer. Gerade die Grünen betonen ja gerne, wie sehr
       sie den „Druck von der Straße“, aus der Bewegung heraus bräuchten. Weil sie
       eigentlich gerne viel radikaler ausfallende Klimapolitik machen würden,
       wenn nur die störrischen Koalitionspartner nicht wären.
       
       Man kann den aktivistischen Impuls des Dagegen-Seins aber auch auf die
       Straße verlegen statt in die Wahlkabine. Da ist er nämlich wirksamer, oder
       anders gesagt: Da ist er weniger verschenkt. Man muss sich auch nicht
       gleich auf dem Asphalt festkleben. Der Berliner Demo-Kalender ist ein gut
       bestückter Gemischtwarenladen, da ist für jedes Level etwas dabei.
       
       Auf die Mieterpartei entfielen bei der Wahl 2021 0,2 Prozent der
       Zweitstimmen, die Klimaliste kam auf 0,4 Prozent. Vielleicht treibt aktuell
       die von den NRW-Grünen mitverantwortete Räumung von Lützerath [6][der
       Klimaliste nochmal ein paar mehr verärgerte Grünen-Wähler*innen in die
       Arme]. Aber für die 5-Prozent-Hürde wird es kaum reichen.
       
       Wenn es schlecht läuft, ist die Stimme für die Klimaliste eine Stimme für
       die CDU. Die will die A100 weiterbauen. Man kann sich natürlich immer noch
       auf der Baustelle festkleben, wenn es so weit ist. Aber man kann seine
       Stimme auch schon vorher sinnvoll nutzen. Anna Klöpper
       
       3 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Entscheidung-des-Verfassungsgerichts/!5912191
   DIR [2] /Wahlkampf-in-Berlin/!5913394
   DIR [3] /Die-Gruenen-und-der-Luetzerath-Protest/!5905434
   DIR [4] /Tierschutzpartei-im-Berliner-Wahlkampf/!5911373
   DIR [5] /Kipping-ueber-Berlin-und-die-Linke/!5910197
   DIR [6] /Klimaliste-Spitzenkandidat-im-Interview/!5910239
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
   DIR Bert Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Kleine Parteien
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
   DIR Tierschutz
   DIR Fünf-Prozent-Hürde
   DIR Schwerpunkt Bürgerschaftswahl Bremen 2023
   DIR Kleinparteien
   DIR Wochenvorschau
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
   DIR Kleinparteien
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
   DIR Grüne Berlin
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bürgerschaftswahl in Bremen: AfD unwählbar
       
       Von drei Listen bleibt keine übrig: Der Landeswahlausschuss streicht die
       AfD vom Wahlzettel für die Bremer Bürgerschaftswahl im Mai.
       
   DIR Volt-Partei im Berliner Wahlkampf: „Politik ist kein Elitenprojekt“
       
       Eine Stimme für Volt sei keine verschenkte Stimme, sagt Landeschefin Cara
       Seeberg. Man will den etablierten Parteien mehr auf die Finger hauen.
       
   DIR Die Wochenvorschau: Wo geht's hier zum Marathon?
       
       In der Woche vor der Wahl rennen die Politiker*innen von Termin zu
       Termin. Auch Initiativen versuchen noch mal, mit ihren Themen
       durchzudringen.
       
   DIR Wahlklage vor Verfassungsgericht Hamburg: Keine Berliner Verhältnisse
       
       Ein FDP-Politiker klagte gegen die Bürgerschaftswahl 2020 und wollte sie
       wiederholen lassen. Doch das Verfassungsgericht hat nichts zu bemängeln.
       
   DIR Tierschutzpartei im Berliner Wahlkampf: „Wir sind keine Ein-Thema-Partei“
       
       Aida Spiegeler Castañeda führt die Landesliste der Partei für Mensch,
       Umwelt, Tierschutz an. Im Wahlprogramm geht es auch um die soziale Frage.
       
   DIR Kai Wegner (CDU) zur Wahlwiederholung: „Die Berliner sind leidensfähig“
       
       CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner liegt in Umfragen vorn, könnte trotzdem nach
       der Wahl am 12. Februar in der Opposition bleiben. Er sieht das anders.
       
   DIR Klimaliste-Spitzenkandidat im Interview: „Auf die Grünen ist kein Verlass“
       
       Antonio Rohrßen glaubt, dass seine Partei vom Imageverlust der Grünen durch
       Lützerath profitiert. Einzug in die BVV Friedrichshain-Kreuzberg als Ziel.
       
   DIR Wahlwiederholung in Berlin: Kaum Geld für Plakate übrig
       
       Der zweite Wahlkampf in anderthalb Jahren ist für Kleinparteien
       herausfordernd. Ihnen fehlt es an Ressourcen und Kraft. Wie gehen sie damit
       um?