URI: 
       # taz.de -- Replik auf CDU-Gastbeitrag in „FAZ“: Die üblichen Verdächtigen
       
       > Einige CDUler haben in einem Gastbeitrag der „Frankfurter Allgemeinen
       > Zeitung“ in der berüchtigten Anti-Political-Correctness-Kiste gewühlt.
       > Eine Replik.
       
   IMG Bild: Nach dem Tod des Amerikaners George Floyd 2020 zeigen Menschen am Berliner Alexanderplatz ihre Anteilnahme
       
       Seien Sie gewarnt, es droht eine dramatische Veränderung unserer
       Demokratie! Jedenfalls verkünden dies Caroline Bosbach (Vorsitzende des
       Jungen Wirtschaftsrates der CDU), Christoph Ploß (Vorsitzender der
       Hamburger CDU), Kristina Schröder (ehemalige Familienministerin, CDU) und
       Andreas Rödder (Historiker, CDU-Mitglied) in der FAZ. In [1][ihrem
       Gastbeitrag „Wie Identitätspolitik die Demokratie verändert“] nutzen sie
       routiniert den altbewährten Anti-Political Correctness-Textbaukasten und
       formulieren ein Bekenntnis zum Kulturkampf.
       
       Die Fülle an verkürzten und falschen Behauptungen in dem Text machen eine
       Richtigstellung notwendig. Bosbach, Ploß, Schröder und Rödder schreiben
       davon, dass eine „Verletzung der Grundlagen unserer Demokratie“ vonstatten
       gehe. Verantwortlich dafür: die Identitätspolitik. Denn folgten wir der
       identitätspolitischen Logik, wäre „die Demokratie am Ende“.
       
       Zur Stützung ihrer Aussage zählen die Autor*innen Vorwürfe auf, wie man
       sie aus Texten dieser Art zur Genüge kennt: Identitätspolitik bedeute, dass
       Menschen nach äußeren Merkmalen (Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, etc.)
       eingeteilt werden sollen; Identitätspolitik führe zu einer Spaltung der
       Gesellschaft; Minderheiten drangsalierten die Mehrheit; die Linke sei
       schuld am Rechtsruck; konträre Positionen würden aus dem „Spektrum des
       Sagbaren“ ausgeschlossen – aka: [2][„Nichts darf man mehr sagen!“]
       
       Im Folgenden eine Punkt-für-Punkt-Kritik des FAZ-Gastbeitrags:
       
       Identitätspolitik ist links: Folgt man den Ausführungen von Bosbach, Ploß,
       Schröder und Rödder, erscheint Identitätspolitik als exklusiv linkes
       Phänomen. Dass Gruppen ihre kollektive Identität zum Gegenstand der Politik
       machen, ist jedoch über das gesamte politische Spektrum verteilt. Wenn
       Markus Söder erlässt, [3][dass in jeder bayrischen Amtsstube ein Kreuz zu
       hängen hat], ist das Identitätspolitik. Ebenso wenn der von Rödder
       geschätzte Thilo Sarrazin („belesen, klug, leidenschaftlich“) Deutschland
       wegen zu vieler Muslime untergehen sieht. De facto fällt jedes Bestreben
       der Rechten, Menschen aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Religion etc. als
       nicht-zugehörig zu kategorisieren, unter
       Identitätspolitik.Selbstverständlich kann ein Text in erster Linie die
       Ausprägungen linker Identitätspolitik besprechen. Doch die Vorgehensweise
       im vorliegenden Beitrag lässt eine deutliche Schlagseite der Autor*innen
       erkennen.
       
       ## „Nur als das wehren, als was er angegriffen wird“
       
       Spaltung der Gesellschaft: Die Klage über die gesellschaftliche Spaltung
       wird in der Kritik an linker Identitätspolitik besonders gerne bemüht.
       Argumentiert wird, dass Randgruppen in ihrem Kampf gegen Diskriminierung
       die Frage der Identität überbetonen. Statt um (verhandelbare) Interessen
       gehe es vielmehr um (nicht verhandelbare) Zugehörigkeiten. Dadurch werde
       die gesellschaftliche Verständigung erschwert und die Spaltung vertieft.
       Abgesehen davon, dass die Unterscheidung zwischen Interessen und
       Identitäten nicht aufrechtzuerhalten ist, ignoriert diese Argumentation
       einen sehr einfachen Sachverhalt: Um sich gegen Diskriminierungen zu
       wehren, die auf Basis von Gruppenzugehörigkeit geschehen, können Menschen
       gar nicht anders, als auf eben diese Zugehörigkeit Bezug zu nehmen. Oder
       wie es Hannah Arendt ausgedrückt hat: „Ein Mensch kann sich nur als das
       wehren, als was er angegriffen wird.“
       
       Nun kann über das Risiko von Lagerbildungen, welche Identitätspolitik
       nichtsdestotrotz innewohnt, diskutiert werden – doch zu komplex soll es
       auch nicht werden. Die Autor*innen unterstellen pauschal, dass eine
       „gruppenbezogene Neuformierung der Gesellschaft“ angestrebt werde. Weiters
       würden Menschen in Kategorien wie den folgenden unterteilt: „politisch
       Korrekte und moralisch Abqualifizierte“, „Opfer und Täter“, „Erweckte und
       Beklagenswerte“. Nichts davon entspricht der Realität.
       
       ## Rechte Narrative
       
       Herrschaft der Minderheiten: Bosbach, Ploß, Schröder und Rödder „lehnen
       entschieden ab, wenn Interessen von Minderheiten zur Norm für die Mehrheit
       gemacht werden“. Sie knüpfen damit an das rechte Narrativ an, dass es darum
       ginge, Sonderrechte für Randgruppen durchzusetzen. Tatsächlich ist linke
       Identitätspolitik eine Reaktion auf bestehende Diskriminierungen. Die
       Forderung lautet nicht „Sonderrechte“, sondern „gleiche Rechte“. Nebenbei
       sei angemerkt, dass im Text nicht einmal der Versuch gemacht wird
       darzulegen, wie es versprengte Minderheiten schaffen sollen, die Mehrheit
       zu übertrumpfen.
       
       Sprechverbote: Seit Beginn der 1990er lesen wir von einer [4][angeblichen
       Einschränkung der Meinungsfreiheit] durch linke „Diskurswächter“. Dass
       dabei Kritik gezielt als „Mund-verbieten“ oder „Meinungsdiktat“
       missverstanden wird, muss hier nicht weiter erörtert werden. Die
       Autor*innen bespielen auch dieses rechte Lieblingsthema und versteigen
       sich zu der Behauptung, dass Identitätspolitik den Anspruch habe, dass „nur
       Benachteiligte Rederecht und damit Handlungsmacht haben sollen“.
       
       ## Kühne Prognosen
       
       Argumentationsverweigerung: Die Autor*innen arbeiten mit kühnen
       Prognosen, ersparen sich aber jegliche Erklärung: Wie soll eine
       „Neuformierung der Gesellschaft“ vonstatten gehen? Wieso führen
       Gendersprache, Diversitätsrichtlinien etc. zu einer Veränderung der
       Demokratie? Und vor allem: Wer steckt hinter dieser „illiberalen
       Ideologie“? Wer besitzt die Macht, unsere soziale Verfasstheit so
       fundamental zu verändern? Sind die „identitätspolitischen Eiferer“, von
       denen vage die Rede ist, dazu in der Lage?
       
       Im Grunde ist „Wie Identitätspolitik die Demokratie verändert“ eine
       Aneinanderreihung reaktionärer Reizthemen. Statt eine stringente
       Argumentation für ihre Hypothese zu präsentieren, konstruieren Schröder,
       Bosbach, Ploß und Rödder einen Strohmann nach bewährtem Bauplan.
       Offensichtlich geht es nur darum, die konservative Klientel mit
       altbekannten Aufregern bei Laune zu halten. Als frische Pointe setzen sie
       an das Ende ihres Kommentars ein Plädoyer für gleiche Rechte und faire
       Chancen für alle Menschen – unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht,
       sexueller Orientierung, Religion und Alter.
       
       Muss man ihnen nicht abkaufen. War es nicht die CDU, welche erst kürzlich
       unbedingt die [5][Vornamen der Verdächtigen bei den Silvesterkrawallen]
       erfahren wollte?
       
       3 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wokeness-in-der-cdu-wie-identitaetspolitik-die-demokratie-veraendert-18592044.html
   DIR [2] /Ueber-den-Man-darf-nicht-mehr-Diskurs/!5638412
   DIR [3] /Debatte-Soeder-und-das-Kreuz-Symbol/!5499297
   DIR [4] /Was-meinst-du-mit-Meinungsfreiheit/!5644723/
   DIR [5] /Debatte-ueber-Silvester-Gewalt/!5906228
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Rusch
       
       ## TAGS
       
   DIR Political Correctness
   DIR cancel culture
   DIR CDU
   DIR FAZ
   DIR Identitätspolitik
   DIR CDU
   DIR CDU Hamburg
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR cancel culture
   DIR Kolumne Flimmern und Rauschen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR CDU und das Geld: Alles nur geklaut?
       
       Bundestagsabgeordnete Caroline Bosbach wehrt sich gegen den Vorwurf, die
       CDU bestohlen zu haben. Ihr Anwalt spricht von einer „Rachekampagne“.
       
   DIR Rückzug des Hamburger CDU-Chefs Ploß: Karriereknick beim ewigen Jungstar
       
       Rechtsaußen Christoph Ploß gibt den Vorsitz der Hamburger CDU auf. Deren
       Aussichten, bei der Bürgerschaftswahl 2025 etwas zu reißen, steigen damit.
       
   DIR Die Wahrheit: Der Herr Papa im Badezimmer
       
       Woke bis zum Abwinken, aber die Bioseife ist einfach nur steinhart. So sind
       die Töchter von heute.
       
   DIR Cancel Culture und Wokeness: Auf Wiedervorlage
       
       Die Argumentationslinien gegen vermeintliche Wokeness sind alt. Doch ein
       Blick zurück zeigt: Keines der Schreckensszenarien ist jemals eingetreten.
       
   DIR Neue Show „Cancel me“ von John Cleese: Don't mention the war
       
       Die Diskussion um gecancelte Comedy geht weiter: In seiner neuen Show
       „Cancel me“ lädt John Cleese Aktivist*innen und gecancelte Comedians
       ein.