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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Hier passiert die Magie
       
       > Matthias Möhring repariert in seiner Wohnung in Berlin-Pankow analoge
       > Kameras. Lange schien das ohne Zukunft, nun ist er wieder gefragt.
       
   IMG Bild: Matthias Möhring, Kameramechaniker, zu Hause in seiner Werstatt
       
       Matthias Möhring kann etwas, das wieder wichtiger wird: Er kann so gut wie
       [1][jede analoge Kamera] reparieren. Die Ersatzteile dafür hat er auch. Sie
       sind sein Schatz.
       
       Draußen: Die Wohnung liegt in einem Reihenhaus in Berlin-Pankow. Es ist
       kanariengelb gestrichen, vor der Tür ist steter Lkw-Lärm. Denn auf der
       anderen Straßenseite liegt der „Konsumtempel“, wie Möhring ihn nennt, eine
       große Filiale der Supermarktkette „Netto“. Manchmal kauft Möhring dort ein,
       auch wenn es ihn nervt, dass er aus seiner Werkstatt immer auf das „blöde
       Riesending“ schauen muss. Früher waren dort Wohnhäuser. Die sind schon
       lange abgerissen.
       
       Drinnen: Auf 60 Quadratmetern befindet sich das wohl teilestärkste
       Ersatzlager der Analogfotografie in Deutschland. Ach was, vielleicht sogar
       in Europa, vielleicht sogar auf der Welt. Das Lager ist gleichzeitig seine
       Wohnung. 2018 musste Matthias Möhring seine Werkstatt gegenüber der
       [2][Ostkreuzschule für Fotografie] aufgeben. Das Geschäft lohnte sich nicht
       mehr. Die meisten Leute fotografierten inzwischen digital. Aber
       wegschmeißen wollte er die Sachen nicht. Deshalb zog die Werkstatt in sein
       Wohnzimmer. Von 80 auf 20 Quadratmeter. Wohnzimmer raus, Werkstatt rein.
       Die Wände sind voll mit Apothekerschränken; in den Schubladen stecken
       Ersatzteile für jedes Kamerasystem der Welt. Alte Kameras stehen natürlich
       auch rum. Es riecht nach Rauch, das Radio läuft. Rockmusik. Am liebsten
       alte Songs.
       
       Elternhaus: Matthias Möhring kommt aus Pankow, einem Stadtteil Berlins, der
       früher im Osten lag; er ist Jahrgang 1958. Er wuchs an der Vinetastraße
       auf, unweit seines jetzigen Wohnorts. Durch die eine oder andere Beziehung
       landete er mal wo anders, aber nach Pankow sei er immer wieder
       zurückgekommen. Hier kenne er das Pflaster, hier fühle er sich wohl. [3][Er
       liebt den Bürgerpark], der ist nicht weit.
       
       Sein Traum: Eigentlich wollte er Schlagzeuger werden. Ein paar Fotos hängen
       in der Wohnung. Möhring hinter einem Schlagzeug, Möhring mit den
       Drumsticks, Möhring als Teil einer Band. Er spielte in ein paar
       DDR-Rockbands. Aber dann kam die Werkstatt. „Du kannst nur eine Sache
       machen“, sagt er und schaut lange auf die schwarz-weißen Fotografien. Das
       Schlagzeug ist längst verkauft, aber Musik ist bis heute seine zweite
       Liebe. Viel Geld hat Möhring nicht, aber wenn er sich mal was gönne, dann
       sei es eine CD. Gerade hört er viel Till Brönner. Im Flur stehen Platten
       von Led Zeppelin und Pink Floyd.
       
       Die Realität: Nachdem es mit der Musik nicht so richtig sein sollte, suchte
       er sich eine Ausbildung. Bei der DDR-Post machte Möhring eine Lehre zum
       Nachrichtenelektroniker. Schon als Kind hatte er mit technischen Geräten
       herumgespielt. Er habe sie auseinandergebaut und nicht wieder
       zusammenbekommen. Egal, früh war klar, er hat „ein Händchen“ für so was.
       
       Ganz normale Arbeit: Nach der Ausbildung bekam er einen Arbeitsplatz bei
       der Firma Zeiss. Das Unternehmen, 1846 in Jena gegründet, gehört noch heute
       zu den führenden Herstellern von feinmechanischen Objektivgeräten. Bei
       Zeiss lernte Möhring Kameras und Objektive kennen. Irgendwann wurde ihm die
       Firma zu groß und er kündigte. Es folgte eine Stelle beim Berliner Verlag.
       Die hatten damals in der Fotoabteilung die neuesten Kameras, die neueste
       Technik, Hasselblad, Leica, Mamiya, Nikon. Diese Liebe zu denen, sagt er,
       hat standgehalten. Seine Beziehungen leider nicht. Deshalb lebt er heute
       allein.
       
       Glück: Irgendwann machte der Verlag dicht. Die Hamburger von Gruner+Jahr
       übernahmen, für die Reparaturkräfte im Techniklager war kein Geld mehr da.
       Möhring bekam ein Angebot. 50.000 D-Mark Abfindung oder das gesamte
       Inventar der Kamerawerkstatt. Schon damals hatte er viele Kunden nebenbei,
       die auf ihn zählten. „Die sagten, Matti, wir brauchen dich!“ Also nahm er
       das Inventar und eröffnete seine eigene Werkstatt – gegenüber der
       Ostkreuzschule in Prenzlauer Berg. Die ist renommiert bis heute.
       
       Business: Von da an kümmerte sich Möhring neben der Stammkundschaft vor
       allem um die Studierenden. Er ist kein Geschäftsmann. Meistens entscheidet
       er aus dem Bauch heraus, wie viel eine Reparatur kosten soll. „Das
       Verhandeln war nie meins“, sagt er. Aber etwas anderes habe ihm immer
       geholfen. „Der Ossi“, sagt er – Ossi, wie er einer ist –. „hat ja diese
       Macke, dass er niemals irgendwas wegschmeißt.“
       
       Gewissenhaftigkeit: Kommerziell repariert Möhring seit 2018 nicht mehr. Die
       Werkstatt in seiner Wohnung ist sein Vermächtnis, seine Versicherung. Viele
       alte Kundinnen und Kunden haben seine Nummer. „Wenn was ist, bin ich da.“
       Das macht diese Wohnung so besonders. Hier lebt er, aber hier kann er zur
       Not auch arbeiten. Reparatur war sein Leben. Gewissenhafte Arbeit das
       Wichtigste: „Wenn ich was repariere und dann geht es auf dem Job kaputt,
       das war wie ein Kopfschuss für mich.“
       
       Der Schrank: Das Herzstück der Wohnung ist der alte Apothekerschrank in der
       Werkstatt. „Altes Eichenholz, schwer wie Sau. Der Umzug aus der Werkstatt
       war eine Qual“, sagt Möhring. „Jetzt steht er hier, der Riesenkoloss.“ Über
       hundert Schubladen, fein beschriftet mit Stabilo, Schrauben, Rädchen,
       Drähte, Unterlegscheiben, verschiedene Größen, verschiedene Marken,
       verschiedene Materialien. Niemand außer Möhring findet sich da zurecht. Wer
       sonst soll denn auch wissen, dass „Schraube, Kreuz, klein“ die letzte
       Hoffnung für das defekte Objektiv einer Mamiya 645 Kamera ist?
       
       Der Schreibtisch: „This is where the magic happens“, sagt er. Auf einer
       kleinen Unterlage liegt sie, seine aktuelle Aufgabe. Eine Leicaflex SL. Der
       Spiegel will nicht mehr so richtig dorthin klappen, wo er soll. Zwischen
       Platinen, Messgeräten und einem kleinen Blasebalg gegen den Staub liegt das
       Kamera-Gehäuse wie eine offene Wunde. Pinsel helfen gegen sich verfangende
       Metallspäne, Tücher gegen verschmiertes Öl. Natürlich gibt es auch Modelle,
       die noch nie auf Möhrings Schreibtisch lagen. „Aber arg viele sind das
       wahrscheinlich nicht“, sagt er.
       
       Friedhöfe: Technisch ist die Hasselblad, die schwedische Königin des
       Mittelformats, seine Lieblingskamera. Nur, die war zu groß für seine
       Zwecke. Deshalb hat er lieber die Nikon F1 genommen. Er brauchte etwas
       Mobiles, denn fotografisch trieb Möhring sich meistens auf Friedhöfen rum.
       Uralte Grabsteine auf altem Ost-Schwarz-Weiß-Film, das war sein Ding. Die
       erinnern ihn an seine Kindheit.
       
       Sein Motto: „Wegwerfen ist scheiße. Lernt, wie man repariert!“ Dinge zu
       bewahren, sei ihm wichtig, sagt Möhring. Es sei doch Quatsch, alles neu zu
       kaufen, wenn wir doch Sachen wieder richten könnten. Er ist froh, dass
       zunehmend mehr junge Leute die analoge Fotografie neu für sich entdecken.
       „Reparieren heißt bewahren“, sagt Möhring. „Vielleicht verstehen wir
       Menschen irgendwann, dass das viel glücklicher macht, als ständig stumpf zu
       konsumieren.“
       
       Das Comeback: Dass Analog-Fotografie ein Revival erfährt, damit hat
       Matthias Möhring nicht gerechnet. Es wundert ihn. Denn die Filme sind
       teuer, die Kameras noch mehr. „Vor zehn Jahren hast du eine alte Hasselblad
       für 100 Euro bekommen, heute kostet sie 3.000.“ Aber es gibt Hoffnung. Weil
       durch die hohe Nachfrage das Filmmaterial knapp wird, entschloss sich Kodak
       2022, einen neuen Mittelformatfilm für die Hasselblad und ihre Schwestern
       im 120-mm-Bereich herauszubringen.
       
       Legacy: In ein paar Jahrzehnten, wenn Menschen wie Möhring die Finger nicht
       mehr gehorchen, wird vermutlich niemand mehr analoge Kameras reparieren
       können. Das macht ihn fertig. „Es hält mich jetzt nicht wach, aber traurig
       macht es mich schon, wenn ich daran denke.“ So lange er noch kann, will er
       die Technik bewahren. Weil es eben „Technik“ sei und kein
       „zusammengelöteter Schrott.“
       
       4 Apr 2023
       
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