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       # taz.de -- Rassistischer Wahlkampf: Ressentiment-Junkie CDU
       
       > 2023 lassen sich mit deutschnationalen Diskursen Wahlen gewinnen. Fatal
       > wäre, die rassistische Stimmungsmache mit Problemanalyse zu verwechseln.
       
   IMG Bild: Kohl und Merz auf der Suche nach der Unions-Droge im Bundestag im Jahr 2000
       
       „Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr einer tiefer
       gehenden Vertrauenskrise gegenüber unserem demokratischen Staat, ja – ich
       sage es mit Bedacht –, eines Staatsnotstandes“, [1][sagte ein führender
       CDU-Politike]r mit Verweis auf das Thema Migration.
       
       Friedrich Merz? Nicht schlecht! Aber es war Bundeskanzler Helmut Kohl im
       Oktober 1992 bei einem Sonderparteitag der CDU in Düsseldorf. Kurze Zeit
       später, im November 1992, wurden bei rassistischen Brandanschlägen auf zwei
       von türkischstämmigen Menschen bewohnte Häuser drei Menschen getötet. Im
       Dezember 1992 hatte die CDU nach Jahren rassistischer Hetze, bereitwillig
       verstärkt durch deutsche Leitmedien, die SPD dazu bekommen, sich auf den
       sogenannten [2][Asylkompromiss] zu einigen, auf die [3][faktische
       Abschaffung des Asylrechts in seiner bisherigen Form].
       
       Am 26. Mai 1993 wurde die Entscheidung mit großer Mehrheit vom Bundestag
       angenommen. Drei Tage später, am 29. Mai, brannte wieder ein Haus,
       [4][diesmal in Solingen], diesmal waren es fünf Personen einer
       türkischstämmigen Familie, die von Nazis ermordet wurden.
       
       Seither sind fast 30 Jahre vergangen. Nazis haben weiter gehetzt und
       getötet: NSU-Morde, der tödliche Anschlag auf den Kassler
       Regierungspräsidenten [5][Walter Lübcke (CDU)], Pegida-Demonstrationen,
       AfD. Es gab aber auch Fortschritt. Die 2020er sind nicht die 1990er:
       Migrant:innen und ihre Nachkommen haben erfolgreich Rechte und
       Anerkennung eingefordert. Auch für politische Parteien ist es opportuner
       geworden, sich zu Vielfalt zu bekennen, statt gegen sie zu hetzen. Doch
       nicht alle sind auf der Höhe dieser Entwicklung.
       
       ## Seiters und die Pogromstimmung
       
       „Wir sprechen hier über Leute, die eigentlich in Deutschland nichts zu
       suchen haben. Die wir hier seit längerer Zeit dulden, die wir nicht
       zurückschieben, die wir nicht abschieben und bei denen wir uns dann darüber
       wundern, dass es hier solche Exzesse gibt.“
       
       Dieses Zitat könnte auch von Helmut Kohl stammen. Oder vom früheren
       CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters, der 1992 von [6][„unkontrollierten
       Zustrom“] sprach und somit maßgeblich zur damaligen Pogromstimmung
       beigetragen hat. Aber dieses Mal ist es der aktuelle CDU-Vorsitzende
       Friedrich Merz. Er hat das am 10. Januar dieses Jahres in der Talkshow von
       Markus Lanz gesagt, wo über die Ausschreitungen in der Berliner
       Silvesternacht, bei der Polizei und Feuerwehr mit Böllern attackiert worden
       waren, diskutiert wurde. Dabei ging Merz so weit, Kinder und Jugendliche,
       die in Deutschland geboren sind, als „kleine Paschas“ zu bezeichnen.
       
       Die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus aber ging noch weiter: In
       einem Fragenkatalog an den Innenausschuss verlangte sie [7][nach den
       Vornamen der Tatverdächtigen] mit deutschem Pass – als wolle sie beweisen,
       dass Jugendgewalt ein reines Migrantenphänomen sei, an der ein ‚wahrer
       Deutscher‘ niemals beteiligt sein könnte. Merz’ rassistische Tirade kam zu
       einem Zeitpunkt, als die Berliner Polizei vorschnell herausgegebene Zahlen
       über die Täter schon wieder korrigiert hatte: Von 145 Festgenommenen seien
       [8][nur 45 deutsche Staatsbürger], hieß es kurz nach der Silvesternacht.
       Eine Woche später waren es noch 38 Personen, die wegen Böllerattacken
       festgenommen worden seien – und [9][zwei Drittel davon deutsche
       Staatsbürger].
       
       Dennoch verteidigte Merz seine Aussagen gegen alle Kritik. Er habe dem
       „[10][Volk aufs Maul geschaut] und eine Beobachtung wiedergegeben“. Auch
       Kai Wegner, der CDU-Spitzenkandidat für die Berlin-Wahl, verteidigte den
       Ariernachweis-Vorstoß seiner Fraktion. Ihre rassistische Erzählung
       entbehrte aber genauso einer faktischen Grundlage wie die diskursive
       Vorbereitung des Asylkompromisses von 1992, als die CDU und CSU vor [11][50
       Millionen „Asylanten“] warnten.
       
       ## Die „Pascha“-Entgleisung
       
       Die CDU unter Kohl blieb damals nach der Bundestagswahl 1994 stärkste
       Kraft. Und die Berliner CDU, die in der Hauptstadt lange Zeit von ihren
       aktuellen Werten nur träumen konnte, gewann vorige Woche mit einem
       Vorsprung von knapp 10 Prozent die Berlin-Wahl. CDU-Politiker Jens Spahn
       stellte noch am Wahlabend in der Runde von Anne Will fest, das Ergebnis
       zeige, dass man mit „klaren Haltungen“ in Fragen von „Integration“ wieder
       Wahlen in Großstädten gewinnen könne. Die „Pascha“-Entgleisung seines Chefs
       verteidigte er mit Verweis auf „in aller Regel kulturell vermittelter
       toxischer Männlichkeit“.
       
       Tatsächlich hat sich die Stimmung in Berlin nach der Silvesternacht
       zugunsten der CDU verändert. Laut einer [12][Umfrage von Infratest dimap]
       spielten Sicherheit und Ordnung für 23 Prozent der Berliner:innen die
       größte Rolle für die Wahlentscheidung – vor den Themen Wohnen und Klima.
       [13][57 Prozent der Berliner:innen fanden], dass die CDU „Probleme mit
       Zuwanderern klar benennt“.
       
       Fatal wäre es nun aber, diese Zustimmung zur rassistischen Stimmungsmache
       der CDU mit einer notwendigen Analyse von sozialen Ursachen von Gewalt zu
       verwechseln. Eine fundierte Kritik von sozialer Ungleichheit und Isolation
       in einer Stadt mit so vielen Verwerfungen wie Berlin lässt sich derzeit
       offenbar leider nicht so gut verkaufen wie der Fingerzeig auf vermeintliche
       Fremde. Auch wenn ihre Vertreter:innen aktuell mit allen Mitteln
       versuchen, das Wahlergebnis von Berlin so zu verkaufen: Dass die CDU mit
       einfachen Antworten auf komplexe Fragen Wahlen gewinnt, bedeutet nicht,
       dass ihre Antworten wahr und richtig sind.
       
       Viel mehr ist es so: Der Diskurs „Ausländer raus!“ ist für die CDU wie eine
       Droge. Immer wenn sie verzweifelt nach einem High giert, drückt sie sich
       diese. Das Hoch, das darauf folgt, ist aber nur ein kurzfristiges.
       Langfristig zerstört die Droge Rassismus nicht nur die CDU selbst, sondern
       auch die Gesellschaft, in der sie sich damit berauscht. Merkel wusste das,
       Merz und seine Leute wollen es nicht wahrhaben. Wenn sie damit nur am Ende
       ihrer eigenen Partei arbeiten würden, dann wäre das mehr als hinnehmbar.
       Aber es führt eben auch dazu, dass andere auf ihre Worte Taten folgen
       lassen, so wie vor exakt drei Jahren, [14][am 19. Februar 2020 in Hanau].
       
       18 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag7106.html
   DIR [2] /20-Jahre-Asylkompromiss/!5077934
   DIR [3] /Der-Asylkompromiss-von-1993/!5853601
   DIR [4] /Brandanschlag-in-Solingen/!5509534
   DIR [5] /Mord-an-Walter-Luebcke/!5892953
   DIR [6] /!1658921/
   DIR [7] /Berlins-Politik-nach-Silvester/!5904826
   DIR [8] https://www.tagesspiegel.de/berlin/45-von-145-festgenommenen-sind-deutsche-alle-mutmasslichen-silvester-randalierer-wieder-frei--berliner-polizei-veroffentlicht-zahlen-9120553.html
   DIR [9] https://www.tagesspiegel.de/berlin/neue-zahlen-zu-berliner-silvester-krawallen-nur-38-festgenommene-wegen-boller-attacken--mehrheitlich-deutsche-9147513.html
   DIR [10] https://www.tagesspiegel.de/politik/friedrich-merz-verteidigt-seine-aussagen-dem-volk-aufs-maul-zu-schauen-das-ist-demokratie-9180021.html
   DIR [11] https://www.boell.de/de/2015/08/20/die-asyldebatte-gestern-und-heute
   DIR [12] https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-02-12-LT-DE-BE/umfrage-wahlentscheidend.shtml
   DIR [13] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wahl-berlin-abgeordnetenhaus-analyse-101.html
   DIR [14] /Nach-dem-rassistischen-Attentat/!5664747
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
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