URI: 
       # taz.de -- Peggy Lohse Grenzwertig: Die Grenze, wie sie ist
       
       Ich lese und höre sie gern, diese romantische Erzählung hier im
       deutsch-polnischen Grenzgebiet von der „Grenze, die keine mehr ist“, dem
       „bez granic“/„ohne Grenzen“ wie im Doppelstadtlogo und
       Veranstaltungskalender für Frankfurt (Oder) und Słubice. Sie steht für die
       jahrzehntelangen Nachkriegsversöhnungsbemühungen und den Traum von
       überwundenem Nationalismus und abgeschafften Ungerechtigkeiten aufgrund von
       Herkunft. Dennoch ist sie aus vielen Perspektiven falsch. Hier eine
       Auswahl.
       
       Die Mehrheit der Bevölkerung der jeweils einen Seite kann die
       vorherrschende Sprache der jeweils anderen Seite weder verstehen noch
       sprechen. Viele kennen ein paar Worte der Nachbarsprache. Eine kleinere
       Gruppe spricht gar fließend Deutsch und Polnisch. Aber die meisten Menschen
       − nicht. Die unterschiedlichen Schulsysteme − da ist die Nachbarsprache
       Pflicht, dort nur freiwillige Arbeitsgemeinschaft − verbessern diese
       Situation kaum. Grenzüberschreitende Projekte jüngerer Menschen wie die
       jährliche September-Pride finden schnell auf Englisch statt, was Ältere
       abschreckt und ausschließt. Am Ende schwimmen wieder alle in der jeweils
       eigenen Suppe.
       
       Apropos Suppe: Das zeigt sich auch beim Thema Oder-Katastrophe und
       Fischesterben. Am einen Ufer sorgen weiter ominöse Einleitungen dafür, dass
       sich Salzgehalt und Algen im Wasser ungesund vermehren. Am anderen Ufer
       scheint es keinerlei Handhabe zu geben, um diese Verunreinigungen,
       geschweige denn die trotz offiziellen Baustopps andauernden Baggerarbeiten
       drüben, zu stoppen. Wäre es jetzt so heiß und trocken wie im Sommer, würde
       sich die stinkende Tragödie wiederholen. Das zeigten die jüngsten Proben,
       wissen Experten beim jüngsten Sejm-Umweltausschuss in Warschau genauso gut
       wie Frankfurts Oberbürgermeister René Wilke beim Neujahrsempfang, einem
       noch immer einsprachigen, reinen Frankfurt-Event.
       
       Ob Arbeits- oder Wohnungsmarkt, Gehälter, Corona-Maßnahmen oder
       Krankenversorgung − alles unterscheidet sich zwischen den Oder-Ufern. Die
       Wirtschaftsdiagonale von West nach Ost verläuft noch immer abfallend durch
       die Doppelstadt.
       
       So macht es für Geflüchtete aus der Ukraine einen großen Unterschied, wo
       sie sich registrieren. Einerseits ähnlichere Sprache, direkter Zugang zum
       Arbeitsmarkt, aber nur geringe finanzielle Hilfen. Andererseits monatliche
       Mindestzahlungen inklusive Wohnung, dafür verpflichtender Sprachkurs wegen
       fremderer Sprachfamilie.
       
       Noch existenzieller ist es für nicht ukrainische Fliehende, die meist schon
       die brutale polnisch-belarussische Grenze hinter sich haben, auf welcher
       Seite sie letztlich aufgegriffen werden. Da droht monatelange Haft in
       schlecht ausgestatteten, bewachten „Geschlossenen Ausländerzentren“ wegen
       „illegalen Grenzübertritts“. Dort warten eine Flüchtlingsunterkunft und ein
       immerhin rechtsstaatliches Asylverfahren mit nicht geringen Bleibechancen.
       
       Ohne Frage, es gibt viele positive, grenzüberschreitende Entwicklungen.
       Natürlich ist die Stadtbrücke ohne Grenzanlagen im Vergleich zu Vor-Wende-
       und Vor-EU-Schengen-Zeiten traumhaft komfortabel, da nicht mehr alle beim
       Betreten ihre Ausweise vorzeigen müssen. (Nebenfrage: Ob sich Beamt*innen,
       die seit 2021 wieder häufiger Pässe kontrollieren, manchmal nicht doch ein
       Grenzhäuschen mit Heizung und Toiletten zurückwünschen?)
       
       Jedenfalls stimmt es nicht, dass die Grenze nicht mehr da sei. Sie
       existiert und bestimmt den Alltag. Ich schlage eine alternative romantische
       Erzählung vor: Gerade diese Grenze hier ist der Spiegel − „Brennglas“ ist
       in Dürresommern zu gefährlich! − aller globalen Konfliktthemen unserer
       Zeit. Nicht die „Grenze, die keine mehr ist“ ist spannend, sondern die
       Grenze, wie sie ist.
       
       21 Feb 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peggy Lohse
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA