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       # taz.de -- Zugunglück mit Chemikalien in den USA: Profite statt Sicherheit
       
       > Vor zweieinhalb Wochen ging im US-Bundesstaat Ohio ein Güterzug mit
       > giftigen Chemikalien in Flammen auf. Nun mehrt sich die Kritik am
       > Betreiber.
       
   IMG Bild: Bürgerversammlung mit Behördenvertretern in East Palestine. Die Menschen sind wütend
       
       New York taz | Niemand in East Palestine weiß, ob das Dorf auf halber
       Strecke zwischen Cleveland und Pittsburgh noch eine Zukunft hat. Anwohner
       klagen über Symptome, die von Kopfweh, über Atembeschwerden bis zu
       Hautausschlag reichen. Tiere – darunter Fische, Hühner und Füchse –
       sterben. Die Luft riecht nach Nagellackentferner.
       
       Am Abend des 3. Februar war hier ein 141 Waggons (und damit 2,72 Kilometer)
       langer Güterzug mit hochgiftigen Chemikalien [1][entgleist und in Brand
       geraten]. Niemand im Ort ahnte etwas von den Gefahrengütern, die an dem
       Abend durch East Palestine transportiert wurden. Drei Tage später wurde der
       Ort vorübergehend evakuiert und vermummte Katastrophenhelfer verbrannten
       den Rest des noch nicht ausgelaufenen Vinylchlorids aus mehreren
       entgleisten Tankwaggons. Offiziell ging es darum, einer Explosion der
       volatilen Chemikalie zuvorkommen. Die schwarze Rauchsäule bei der
       „kontrollierten“ Verbrennung stieg mehrere Hundert Fuß hoch in die Luft.
       
       „Ich verstehe eure Sorgen“, sagt Michael Regan am Freitag. Der Chef der
       [2][Umweltbehörde EPA] ist zwei Wochen nach der Katastrophe als erster
       Regierungsvertreter nach East Palestine gereist. Er versichert, dass Tests
       in rund 400 Häusern zeigen, dass die Luft darin rein und ihre Bewohner
       sicher seien. Auch das Leitungswasser sei okay. Von Brunnenwasser
       allerdings, das viele in East Palestine trinken, rät Regan ab.
       
       Der Betreiber des Giftzuges, die [3][Norfolk Southern], geht der
       Konfrontation vor Ort aus dem Weg. Der Konzern, einer der größten im
       profitablen Eisenbahngeschäft der USA, verteilt Almosen an die Gemeinde
       (eine Million Dollar) und an die Hausbesitzer und Geschäftsleute (zusammen
       zwei Millionen Dollar). Aber der Bürgerversammlung in der Aula des
       Gymnasiums, wo Anwohner auf Antworten hofften, bleibt er fern. Die
       Begründung von Norfolk Southern: „Zu gefährlich. Es gibt Drohungen gegen
       unsere Mitarbeiter.“
       
       ## „Weitgehende Abwesenheit von Kontrollen“
       
       Die Ermittlungen über die Ursache der Entgleisung können Jahre dauern. Aber
       Insider des Geschehens auf dem 260.000 Kilometer langen Schienennetz der
       USA – dem größten der Welt – sind nicht überrascht. Sie betrachten East
       Palestine als angekündigte Katastrophe. Dazu eine, die sich jederzeit
       wiederholen kann.
       
       Die Eisenbahnergruppe [4][Railroad Workers United (RWU)], warnt seit Langem
       vor der ungenügenden Sicherheit. Ron Kaminkow, Lokomotivführer und
       Organiser bei RWU, beschreibt die Ingredienzen des Problems so: „extrem
       profitable Konzerne mit der Macht von Monopolen“, „Kostensenkungswut“,
       „massiver Personalabbau“, „weitgehende Abwesenheit von Kontrollen“, und
       die „Weigerung, moderne Sicherheitsmechanismen einzubauen“. „Unsere
       Infrastruktur“, sagt Kaminkow, „ist eine Geisel der Wall Street.“
       
       Nach dem Drängen von Eisenbahnern und Sicherheitsfachleuten setzte die
       Regierung von Barack Obama zumindest eine Regel für Züge durch, um die
       Sicherheit zu verbessern: Sie verlangte die Umrüstung von den Bremsen aus
       der Bürgerkriegsära auf moderne Elektronikbremsen. Sie können den Bremsweg
       der Züge um bis zu 60 Prozent verringern und Entgleisungen verhindern. Im
       Wahlkampf 2016 spendeten Eisenbahnkonzerne sechs Millionen Dollar an
       republikanische Kandidaten. Wenig später strich die Regierung von Donald
       Trump die Bremsregel. Nach mehr als zwei Jahren im Amt hat die
       Biden-Regierung daran nichts geändert.
       
       Als Eisenbahnergewerkschaften Ende letzten Jahres mit einem Streik drohten,
       um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu bekommen, schaltete sich Präsident
       Biden persönlich ein, um einen Streik zu verhindern. Im Ergebnis gab es
       zwar Lohnerhöhungen. Aber die bezahlten Krankentage für Eisenbahner kamen
       nicht in den Tarifvertrag.
       
       ## Mehr Gefahrengut – weniger Personal
       
       Alljährlich entgleisen mehr als 1.000 Züge in den USA. Das sind zwar nur
       halb so viele wie in den 80er Jahren. Aber das Potenzial für Katastrophen
       ist dramatisch gestiegen. Denn die Güterzüge sind länger und schwerer
       geworden. Sie transportieren mehr Gefahrengut. Und sie haben weniger
       Personal (gegenwärtig noch zwei Personen pro Zug, aber die Konzerne
       plädieren für eine Person).
       
       In den Wochen seit der Katastrophe von East Palestine sind bereits weitere
       Züge mit hochgiftigen Lasten entgleist. Darunter einer, der ebenfalls der
       Norfolk Southern gehört, im Westen von Detroit. Ein anderer, der dem
       Konzern CSC gehört, in Montgomery County in Texas. So weit bekannt, traten
       in den beiden Fällen keine Chemikalien aus.
       
       Die pensionierte Lehrerin Paula Rogovin mochte das Pfeifen der Güterzuge,
       die durch ihren Wohnort Teaneck, in New Jersey fahren. Das änderte sich
       schlagartig im Juli 2013, als ein mit Rohöl aus den USA beladener Zug in
       der Kleinstadt Lac-Mégantic im kanadischen Québec entgleiste, in Flammen
       aufging und 47 Anwohner tötete.
       
       Seither nennt Rogovin die Züge, die durch ihre Nachbarschaft fahren
       „Bombenzüge“. Sie gründete die „[5][Coalition to Ban Unsafe Oil Trains]“,
       die sich für das Verbot von Gefahrentransporten einsetzt. Sie hat erlebt,
       wie groß der politische Einfluss der Eisenbahnkonzerne ist.
       
       Forderungen von Anwohnern nach Transparenz über Gefahrentransporte werden
       regelmäßig mit dem Hinweis abgelehnt, dass Terroristen Anschläge verüben
       könnten. Als die Gruppe darauf hinwies, dass eine Eisenbahnbrücke in
       Teaneck zur Sicherheit der Anwohner repariert werden müsse, verging mehr
       als ein Jahr, bis der Konzern CSX die überfälligen Arbeiten erledigte.
       
       Die Katastrophe von East Palestine hat ins Bewusstsein gerückt, dass
       mindestens 25 Millionen Menschen in den USA in Eisenbahnkorridoren leben,
       durch die [6][Tag und Nacht gefährliche und explosive Chemikalien
       transportiert] werden. Mehrere Eisenbahnergewerkschaften sowie die Gruppe
       RWU wollen diesen Moment nutzen, um radikale Konsequenzen zu verlangen.
       „Die Betreiber haben bewiesen, dass sie unfähig sind“, schreiben sie in
       einem offenen Brief. Sie plädieren dafür, das Eisenbahnsystem der USA zu
       nationalisieren.
       
       20 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zugunglueck-in-den-USA/!5912758
   DIR [2] /Verdacht-auf-Vetternwirtschaft/!5519249
   DIR [3] http://www.nscorp.com/content/nscorp/en.html
   DIR [4] https://www.railroadworkersunited.org/
   DIR [5] https://www.hackensackriverkeeper.org/advocacy-campaigns/coalition-to-ban-unsafe-oil-trains/
   DIR [6] https://stand.earth/resources/do-you-live-in-an-oil-train-blast-zone/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
       
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