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       # taz.de -- Friedensappelle im Ukrainekrieg: Blinder Pazifismus
       
       > Sofortige Friedensverhandlungen? Die aktuellen Aufrufe dazu sind gut
       > gemeint. Allerdings blenden sie die Realität aus: Putin ist nicht zu
       > trauen.
       
   IMG Bild: Seine Zerstörungsgewalt wurde unterschätzt: Russlands Präsident Wladimir Putin
       
       Tagelang blickte die Welt nach München: Viele erhofften sich von der
       Sicherheitskonferenz klare Botschaften, wie es nach einem Jahr Krieg in der
       Ukraine weitergehen wird. Wirklich überrascht hat schließlich US-Präsident
       [1][Joe Biden mit seiner Reise nach Kyjiw]. Bilder, die ihn zusammen mit
       Wolodimir Selenski zeigen, gingen um die Welt. Selbst als Alarm ertönte,
       blieben die beiden Staatschefs wie unberührt unter freiem Himmel.
       
       Bidens Besuch in dem freiheitsliebenden Land, wie er sagte, stellte die
       [2][Sicherheitskonferenz] weitgehend in den Schatten. Als ich anfing, diese
       Kolumne zu schreiben, hielt Russlands Präsident Wladimir Putin eine
       [3][Rede zur Lage der Nation]. Wenige Stunden später sollte Biden seine
       Rede an die Nation halten, und natürlich erinnert das an Zeiten des Kalten
       Krieges, natürlich liegt es nahe, dass Putin versuchen wird, Bidens Besuch
       als Zeichen zu deuten, der Westen führe einen Krieg gegen Russland – die
       Frage ist nur, wie sehr man sich von Putin beeindrucken lassen möchte.
       
       Er hat in seiner Rede gelogen und behauptet, der Westen habe „den Krieg
       losgetreten“, und Russland führe „keinen Krieg gegen das ukrainische Volk“.
       Die Münchner Sicherheitskonferenz vor einem Jahr hat diese Militäroperation
       nicht zum zentralen Thema gemacht. Das Ende der Konferenz war am 20.
       Februar 2022. Vier Tage später [4][überfiel Russland die Ukraine].
       
       Man kann davon ausgehen, dass bis zu vier Tage vor Beginn des militärischen
       Überfalls weite Teile des Westens Putins Zerstörungsgewalt unterschätzt
       haben. Sie haben selbst angesichts des historischen Militäraufgebots die
       Gefahr verdrängt und den Aggressor verharmlost. Hätte man die Ukraine
       bereits während des wochenlangen Aufmarschs der russischen Armee
       unterstützt, wäre die Botschaft an Russland vielleicht eine andere gewesen,
       abschreckend.
       
       ## Drohungen vom Westen brauchte es nicht
       
       Ähnlich äußerte sich auch die finnische Staatschefin Sanna Marin. Das
       Wegsehen und die Untätigkeit des Westens hat Putin weder sanft gestimmt
       noch dazu gebracht, von seinen strategischen Zielen abzulassen. Es brauchte
       keine Drohgebärden. Russland begann seinen Angriffskrieg ganz ohne – das
       sollte man in Erinnerung rufen, wenn Putin nun wieder behauptet, der Westen
       habe den Krieg begonnen.
       
       Putin mag auf diplomatische Entwicklungen mit Krieg reagiert haben, doch in
       welcher Welt leben wir, wenn es als legitim erachtet wird, die
       Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes einzuschränken? Letzte Woche
       wurden in Deutschland wieder prominentere Stimmen laut, die forderten, man
       müsse jetzt über Frieden verhandeln. Die meisten Namen sind hinlänglich
       bekannt, ein [5][neuer Einwurf kam von Jürgen Habermas].
       
       Viele, die jetzt für einen Verhandlungsfrieden argumentieren, klammern aus,
       wie vieles von dem, was sie heute als Verhandlungsoption präsentieren,
       Russland bereits 2014 zugesichert und der Ukraine abgesprochen wurde.
       Welches Interesse sollte Russland haben, sich nach einem Jahr Kriegsführung
       mit dem Status quo von vor Kriegsbeginn zufriedenzugeben?
       
       Wer also fordert, man müsse jetzt mit Russland verhandeln, sollte auch
       erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte. Und wäre damit ein
       dauerhafter Frieden gewährleistet? Wohl kaum. Was, wenn gerade das
       Verhandeln und Nachgeben die Gewaltspirale nach oben treibt? Nehmen
       Menschen, die für Verhandlungen – meist zu Ungunsten der Ukraine –
       argumentieren, so etwas wie die neusten Meldungen wahr.
       
       ## Brachiale Debatte
       
       Wie ein Investigativkollektiv anhand von Dokumenten nachwies, die aus der
       [6][Moskauer Präsidialversammlung] geleakt wurden, plant Russland auch die
       Übernahme von Belarus bis zum Jahr 2030. Worauf stützen sich die, die jetzt
       Verhandlungen fordern, wenn sie in Putin einen verlässlichen
       Verhandlungspartner sehen? Wenn man die Diskurse des letzten Jahres
       betrachtet, so entspricht der Vorwurf, man könne in der deutschen
       Öffentlichkeit nicht gegen die Unterstützung für die Ukraine sprechen, ohne
       geächtet zu werden, nicht den Tatsachen.
       
       Sicher, es wird manchmal brachial, doch die Verrohung des Diskurses lässt
       sich bei allen Themen feststellen. Selbst wer über [7][stillgelegte Straßen
       in Berlin-Mitte] schreibt, wird heute angeprangert. Merkwürdigerweise
       reagieren ausgerechnet jene, die von den Ukrainern fordern, diesen Krieg zu
       beenden, besonders empfindlich auf Widerspruch. Ihre Opferrolle setzt
       leider oft genau dann ein, wenn es um die konkrete Entwicklung eines
       Szenarios geht, wie der Verhandlungsfrieden herbeigeführt werden könnte.
       
       Vielen fehlt die Auseinandersetzung mit der Realität, die Russland seit
       einem Jahr gewaltvoll zu verändern versucht. Soll man um des Friedens
       Willen wirklich auf jede Forderung Russlands eingehen? Was ist mit dem
       Größenwahn Putins? Hier die Unterschätzung des russischen Staatschefs – es
       reicht ein Friedensangebot für den Frieden –, dort die paralysierende
       Überhöhung der Gefahr durch ihn: Am Ende führt er uns in den dritten
       Weltkrieg oder drückt den Atomknopf.
       
       Wer in diesem Krieg nicht zweifellos deutlich macht, wer der Kriegstreiber
       ist, nämlich Russland, spielt Putins strategischen Zielen in die Hände.
       Niemand hat etwas gegen einen breiten Diskurs über Krieg und Frieden, doch
       muss es möglich sein, Diskursbeiträge, die Putins psychologischer
       Kriegsführung in die Hände spielen, als solche zu benennen.
       
       Natürlich gab es im letzten Jahr auch Phasen, in denen die USA zögerte, und
       es wird wieder ungeklärte Fragen darüber geben, wie die Unterstützung
       konkret aussehen sollte. Die Ukraine-Reise des US-Präsidenten ist jedoch
       das klare Bekenntnis dazu, dass man nicht neutral sein wird, während
       Russland versucht, sich über geltendes Völkerrecht hinwegzusetzen.
       Vielleicht sind Zweifel über den konkreten Weg der Hilfe leichter zu
       ertragen, wenn die symbolischen Botschaften so eindeutig sind.
       
       22 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Biden-bei-Selenski-in-Kyjiw/!5917021
   DIR [2] /Muenchner-Sicherheitskonferenz/!5913965
   DIR [3] /Putins-Rede-an-die-Nation/!5917684
   DIR [4] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [5] /Debatte-um-Verhandlungen-im-Ukrainekrieg/!5913766
   DIR [6] https://www.welt.de/politik/ausland/video243875271/Perfider-Plan-auf-17-Seiten-Geheimes-Kreml-Papier-beschreibt-Plaene-fuer-russische-Uebernahme-von-Belarus.html
   DIR [7] /Autofreie-Friedrichstrasse-in-Berlin/!5911611
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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