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       # taz.de -- Zweite schwarz-grüne Sondierungsrunde: Keine Liebe, keine Kabale
       
       > Gerade weil CDU und Grüne keine großen Gefühle verbinden, könnte
       > Schwarz-Grün besser klappen als eine mit Enttäuschungen behaftete linke
       > Liebesehe.
       
   IMG Bild: Bettina Jarasch (Grüne) und Kai Wegner (CDU) vor dem ersten schwarz-grünen Sondierungsgespräch
       
       Berlin taz | Zum zweiten Mal sitzen CDU und Grüne am Mittwoch zum Sondieren
       zusammen, auf dem [1][Euref-Campus in Schöneberg], neben der Großbaustelle
       am Ex-Gasometer. Nicht wenige in beiden Parteien und ihrem Umfeld meinen,
       dass man sich das sparen könnte: Lichtjahre würden inhaltlich wie
       lebensweltlich beide trennen, noch aufwändiger als die Bauarbeiten nebenan
       seien die für eine schwarz-grüne Koalition notwendigen. Doch braucht es
       wirklich emotionale Nähe zum Erfolg? Für Schwarz-Grün könnte genau das
       Gegenteil stimmen: dass eine nüchterne Verbindung tragfähiger ist als eine
       innige, aber schneller zu enttäuschende. Eine politische Zweckehe, für die
       frei nach Schiller gilt: ohne Liebe, aber auch ohne Kabale
       
       Zu groß seien die Unterschiede gerade in der Innenpolitik. Und in der
       Wohnungspolitik. Und beim Verkehr. Das ist nicht nur vom linken Flügel der
       Grünen zu hören oder dem Nachwuchsverband der Partei, der sich schon vorige
       Woche gegen Schwarz-Grün wandte. Auch der konservativere Teil der CDU
       argumentiert ähnlich, der mit zwei Leuten in der sechsköpfigen
       CDU-Sondierungsgruppe vertreten ist. Dabei zeigen die vergangenen Jahre:
       Die angeblich große Nähe zwischen SPD, Grünen und Linkspartei hat nicht zu
       reibungslosem Regieren geführt. Die großen Streitthemen dabei?
       Innenpolitik, Wohnungsbau und Verkehr.
       
       Wann immer man etwa früher mal mit SPD-Fraktionschef Raed Saleh von
       Koalitionsoptionen redete, sprach der oft von einer größeren „kulturellen
       Nähe“ zu Grünen als zur CDU. Das verhinderte aber auch nicht, dass die
       Koalitionspartner sich von ebendieser SPD gegängelt und, ja, düpiert
       fühlten. Regieren auf Augenhöhe war zu oft nicht erkennbar.
       
       Dabei waren die Erwartungen groß gewesen. Mit „Gutes Regieren“ war 2016 im
       Koalitionsvertrag [2][ein ganzes Kapitel überschrieben]. Gemündet ist es in
       Streit und in nicht zu vereinbarenden Auffassungen, wie dieses Regieren
       tatsächlich aussehen soll – gut oder eher traurig zu beobachten im Gezerre
       der Führungsfrauen Franziska Giffey und Bettina Jarasch um die Sperrung der
       Friedrichstraße in Mitte.
       
       Ein schwarz-grünes Bündnis hätte eine ganz andere Ausgangslage. Das wäre
       keine Liebesheirat, sondern eher eine nach dem bäuerlich-pragmatischen
       Heiratsprinzip „Schönheit vergeht, Hektar besteht“. Die Grünen würden erst
       gar nicht darauf hoffen können, die CDU für eine autofreie Stadt zu
       begeistern. Und bei den Christdemokraten wäre klar, dass sie eine
       flächendeckende Videoüberwachung nicht durchbekommen könnten.
       
       ## Dringend Nötiges vor Visionen
       
       Von Anfang an würden sich beide Seiten zwangsläufig auf das Machbare
       beschränken. Nun ist der Einwand absehbar: Was bleibt dann noch? Und: Wo
       sind da die Visionen, große gesellschaftliche Projekte und der Blick auf
       das Berlin von 2050?
       
       Doch in der Stadt läuft derzeit im schlichten Alltag so viel nicht rund,
       dass es erst mal keine Visionen, sondern viele, viele Reparaturen braucht,
       teils wortwörtlich: vom [3][schlechten Zustand vieler Schulen] über die
       Verwaltungsmisere, die Personalausweisanträge genauso betrifft wie
       Wohnungsbau, über marode Straßen und Brücken bis hin zur gedachten
       Selbstverständlichkeit: allen im wachsenden Berlin ein dauerhaftes Dach
       über dem Kopf zu bieten.
       
       Bei der zwischen CDU und Grünen völlig umstrittenen Verlängerung der
       Stadtautobahn A100 über die Spree hinaus ließe sich genau jener Passus
       übernehmen, mit dem schon die bisherigen rot-grün-roten Koalitionspartner
       [4][in ihrem Vertrag von 2021] das Thema von sich schoben: „Planung und Bau
       des 17. Bauabschnitts der A100 wird in der neuen Legislaturperiode durch
       die Landesregierung nicht weiter vorangetrieben“, steht dort kurz und knapp
       auf Seite 66. Was umso mehr gilt, weil Autobahnbau Sache der
       Bundesregierung ist.
       
       Als Konflikt bliebe die Enteignung großer Wohneigentümer, von der CDU
       abgelehnt, bei den Grünen zumindest nicht unumstritten. In einer
       rot-grün-roten Koalition [5][unter Giffeys Führung aber ließe sich die
       genauso wenig umsetzen] wie mit der CDU und ihrem Vorsitzenden Kai Wegner.
       
       Eine solche Konzentration auf das Machbare setzt auch ein bescheideneres
       Selbstverständnis voraus: dass ein Berliner Senat eben nicht wie zu Zeiten
       von Willy Brandt und Egon Bahr Weltpolitik macht, sondern als Stadt- und
       Landesregierung die Daseinsvorsorge einer 4-Millionen-Metropole zu sichern
       hat.
       
       ## Ein Bündnis für drei Jahre
       
       Auf dieser Basis könnten CDU und Grünen das zusammenbringen, was sie schon
       gemeinsam haben. Gerade beim Thema Verwaltungsreform, das so dröge klingt
       und doch der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme ist, haben beide Seiten
       schon detaillierte Vorschläge gemacht und kämen zueinander.
       
       Nicht unwichtig: Wer auch immer künftig koaliert, bindet sich nicht für
       eine komplette neue fünfjährige Wahlperiode, sondern nur für die
       verbleibenden dreieinhalb jener Wahlperiode, die nach der nun wiederholten
       Wahl vom 26. September 2021 begonnen hat. Das Projekt hieße: drei Jahre
       konzentriert an der Sache, jenseits jedwelcher Ideologien.
       
       Das soll nun kein Plädoyer für eine Technokratenregierung aus lauter
       Experten sein. In diese Richtung ist Regierungschefin Giffey schon 2021
       gegangen, als sie mit unterschiedlichem Erfolg den Unternehmer Stephan
       Schwarz zum Wirtschaftssenator machte und die langjährige Schulleiterin
       Astrid-Sabine Busse mit dem Bildungsressort betraute.
       
       Die Ausprägung der Koalitionspartner muss und soll erkennbar sein. Anders
       ließe sich auch nicht herausfinden, ob Schwarz-Grün nicht auch über die
       nötigen Reparaturarbeiten hinaus tragfähig ist. So tragfähig, dass
       vielleicht doch noch die eine oder andere Vision entstehen kann.
       
       21 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://euref.de/
   DIR [2] https://www.berlin.de/rbmskzl/_assets/rbm/161116-koalitionsvertrag-final.pdf
   DIR [3] /Kaputte-Schulen-in-Berlin/!5883823
   DIR [4] https://www.berlin.de/rbmskzl/regierende-buergermeisterin/senat/koalitionsvertrag/berlin_koavertrag_2021_2026.pdf
   DIR [5] /Wahlwiederholung-am-12-Februar/!5909665
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
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