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       # taz.de -- Gebietsansprüche Russlands in Kasachstan: Kasachisch-ukrainische Parallelen
       
       > An der kasachisch-russischen Grenze gibt es Gebiete, die mehrheitlich von
       > ethnischen Russen bewohnt werden. Russland behandelt sie ähnlich wie die
       > Ostukraine.
       
   IMG Bild: Das frühere sowjetische Atomtestgebiet in Semei
       
       Ich lebe in der Stadt Semei, die früher Semipalatinsk hieß, im östlichen
       Teil von Kasachstan. Ein riesiges Land, das auf der einen Seite an das
       feurige China, auf der anderen Seite an das frostige Russland grenzt.
       
       In der Nähe der Stadt Semei war früher das erste und eines der größten
       Atomwaffentestgelände der UdSSR.
       
       Mein Vater ist in Semipalatinsk aufgewachsen, er starb mit 70 Jahren an
       Magenkrebs. Ich weiß nicht, ob das eine Folge der atomaren Strahlung war,
       denen sein Organismus ausgesetzt war. Aber mein Mutter hat jetzt offiziell
       den Status als „Angehörige der Opfer der Katastrophe im Kernkraftwerk
       Tschernobyl und anderer atomarer Anlagen der zivilen und militärischen
       Nutzung“. Dafür bekommt sie 15.000 Tenge (circa 30 Euro) monatlich. Das ist
       keine große Summe – man kann dafür etwa 6 Kilo Rindfleisch kaufen.
       
       Unsere kasachische Familie hat deswegen keine negativen Gefühle in Bezug
       auf die Sowjetunion. „So war es eben“, sagten meine Eltern. „So war es
       eben“, dachte ich unbewusst, bis ich 18 war.
       
       Und wie war es?
       
       Ich bin noch klein. Papa schaut im Fernsehen den Sender Rossija 24. Bald
       ist Neujahr. Wir sehen die Neujahrsansprache von Präsident Nasarbajew, und
       dann natürlich die von Putin. Das war ein Ritual. Man hinterfragte es
       nicht.
       
       Ich bin noch klein. [1][In Tschetschenien ist Krieg.] Im Fernsehen sagen
       sie, dass dort Terroristen seien. Man hinterfragte es nicht.
       
       Ich bin 16. Ich sitze bei einem Hockeyspiel neben einem Mädchen, das
       selbstbewusst „Russland!“ brüllt. Es feuert die Mannschaft an, brüllt „für
       unsere!“ und weint, als es für die Mannschaft schlecht läuft. In mir regen
       sich Zweifel.
       
       Ich bin 28. Ich denke daran, wie ich die Nachrichten über Tschetschenien
       damals aufgenommen habe. Und schäme mich.
       
       Nicht überall in Kasachstan ist das so, aber in den Grenzgebieten nahe zu
       Russland. Hier ist der Einfluss der russischen Propaganda stärker als im
       Süden des Landes. Glücklicherweise hat sich die Situation in Semei, meiner
       Wahrnehmung nach, im Laufe der Jahre verändert. Immer mehr Menschen
       sprechen Kasachisch, immer mehr Menschen fühlen sich nicht mehr mit
       Russland verbunden.
       
       Schlechter sieht des diesbezüglich im benachbarten Öskemen (auf Russisch
       „Ust-Kamenogorsk“) aus, wohin man von uns nur etwa drei Stunden braucht –
       das ist nichts für das riesige Kasachstan – und in den benachbarten
       kleineren Städten. In Öskemen wurden zum Beispiel nach Kriegsbeginn
       Notizhefte mit einem Putin-Porträt und der Aufschrift „Präsident“ verkauft.
       Genau hier hat man, wie später auch in der Ukraine, in den 1990er Jahre
       versucht, einen eigenen Staat, [2][quasi „Russische Erde“], zu gründen. In
       Öskemen sind mehr als die Hälfte der Einwohner ethnische Russen.
       
       Es gibt nicht wenige Parallelen. Von russischer Seite hören wir Aussagen
       (wie sie ähnlich vor Kriegsbeginn auch die Ukraine hörte), dass bestimmte
       Gebiete nicht unsere, kasachische sind, sondern dass wir sie nur (von
       Russland) geschenkt bekommen haben. Dass dort die nationale (russische)
       Sprache gesprochen wird. Das ist der Gipfel der Unanständigkeit.
       
       Diese Parallelen bleiben nicht unbemerkt. [3][Die kasachische Gesellschaft
       betrachtet den Krieg im allgemeinen nicht als etwas, das schnell
       vorbeigeht]. Es ist schon vorgekommen, dass sich Freunde zerstritten und
       dass Familienmitglieder nicht mehr miteinander gesprochen haben, weil „die
       Politik“ ins Nachbarhaus einzog. Und man sich in Gesprächen dann manchmal
       für eine Seite entscheiden musste.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] 
       
       Finanziert von der [5][taz Panter Stiftung]. 
       
       Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag [6][edition.fotoTAPETA]
       im September 2022 herausgebracht.
       
       8 Feb 2023
       
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