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       # taz.de -- Kuratorin über bildende Kunst im Krieg: „Eine Sprache, die alle verstehen“
       
       > Welche Möglichkeiten und Grenzen hat Kunst im Krieg? Ein Gespräch mit der
       > ukrainischen Kuratorin Alona Karavai – auch über Objekte aus Kampfzonen.
       
   IMG Bild: „Working Room“, Blick in Ausstellung, im Hintergrund das viral gegangene „WE ARE THE PRICE“ von Nikita Kadan
       
       taz: Frau Karavai, mit einem Residenz- und Ausstellungsprogramm in
       Iwano-Frankiwsk unterstützten Sie im Krieg junge ukrainische
       Künstler:innen. Doch was kann die bildende Kunst jetzt eigentlich machen? 
       
       Alona Karavai: Ich stelle mir diese Frage immer wieder. Meine Antwort
       darauf ist vielmehr, was die Kunst nicht kann. Sie kann den Krieg nicht
       stoppen. Sie kann aber helfen zu reflektieren, was jetzt gerade passiert.
       Eigentlich sollte diese Reflexion erst nach einem Ereignis geschehen und
       mit einer bestimmten Distanz, aber das können wir uns jetzt gerade nicht
       leisten – lange warten, bis der Krieg vorbei ist und dann darüber
       nachdenken. Wir müssen irgendwie alles gleichzeitig machen.
       
       Mehr Leute kommen jetzt in Ihre Ausstellungen, warum? 
       
       Bildende Kunst galt immer als zu theoretisch, vielleicht zu abgehoben.
       Jetzt wird sie in der Ukraine zu einer Sprache, die alle verstehen. Wenn
       Nikita Kadan etwa auf einem Schwarz-Weiß-Bild von einem wolkigen Himmel
       schreibt: „WE ARE THE PRICE“, dann fasst das so einfach und prägnant die
       Situation zusammen, in der wir leben müssen. Oder [1][Zhanna Kadyrovas
       Metapher für Brot], allerdings aus Stein. Dieses friedliche Bild vom Brot,
       das aber zu einer Waffe werden kann.
       
       Seit dem 24. Februar 2022 haben 60 ukrainische Künstler:innen bei Ihnen
       gewohnt, gearbeitet, ausgestellt. Wie haben diese auf den Krieg reagiert? 
       
       Sie denken nicht mehr über Konzepte oder Theorien nach. Alle wollen
       Kunstwerke produzieren. Das scheint eine einfache Reaktion auf den Krieg
       und auf Vernichtung zu sein. Wir hatten einige Künstlerinnen aus Mariupol
       bei uns, die auch ihre Archive im Krieg verloren haben. Sie müssen erst
       einmal den Verlust aufarbeiten. Natürlich kann man neu gemachte Kunst nicht
       vergleichen mit den Verlusten durch den Krieg.
       
       Ethisch, was darf die Kunst und was nicht im Krieg? 
       
       Es gibt jetzt einen regelrechten „Ruin Porn“. Künstler:innen arbeiten
       auch mit gefundenen Objekten aus Kampfzonen, zum Beispiel mit
       Patronenresten aus Charkiw. [2][Nikita Kadan nutzt häufig geschmolzene
       Gläser und Geschirr] aus ausgebrannten Privathäusern, er war sehr viel in
       Butscha, um danach zu suchen. Solche Objekte zeugen von etwas, sind
       Dokumente. Und da entsteht auch die Frage: Was ist an dem Fundort passiert?
       Hat das Haus nur gebrannt oder sind Menschen darin gestorben?
       
       Einer Ihrer Künstler, Oleksander Len, ist ein junger Soldat von der Front.
       Wie hat er seine Erfahrung künstlerisch aufbereitet? 
       
       Er war zur Rehabilitation freigestellt und konnte daher die Residenz in
       unserem Projekt „Working Room“ antreten. In Bachmut, nahe der Front, hat
       Oleksander gesehen, wie ein Wald ganz verbrannt war. Allerdings begannen
       die Bäume nach nur einer Woche wieder zu sprießen. Er hat dann
       großformatige Zeichnungen mit verbrannten Bäumen angefertigt und versucht,
       einen bestimmten Geruch aus diesem Wald zu simulieren. Das hat die Leute
       sehr berührt. Jeder kennt jemanden in der Armee. Wenn die Leute dann solche
       Bilder sehen, diesen Geruch wahrnehmen und wissen, dass in solch einer
       Situation jetzt auch ihr Bekannter ist, dann geht ihnen das nahe.
       
       Es gibt Programme zur Evakuierung von gefährdeten Kunstwerken. [3][Aber die
       richten sich an etablierte Kunst]. Was machen nun die jungen Künstlerinnen? 
       
       Das ist Teil unserer Initiative, auch ein eigenes Archiv mit junger Kunst
       anzulegen. Aber unsere Kapazitäten sind begrenzt. Sobald Künstler:innen
       etwas etablierter sind, wie Zhanna Kadyrova, die seit der Revolution 2004
       kritische Arbeiten produziert, dann sind sie auch in größeren Sammlungen
       mit eigenen Schutzprogrammen vertreten. Junge kritische Künstler:innen
       aber, die sich zu der Revolution 2014 zählen oder erst seit dem Krieg 2022
       arbeiten, sind jetzt sehr auf sich gestellt, sehr fragil.
       
       Sollte man vielleicht eine öffentliche Sammlung mit ukrainischer Kunst im
       Exil anlegen? 
       
       Wenn sie nach Kriegsende zurückkommt, ja! Gerade für die visuelle Kunst
       braucht man eine Sammlung, Traditionen des Austauschs. Wir vermissen viele
       Menschen, viele sind nicht mehr am Leben, viele gehen und kommen nicht
       wieder. Wir haben viel verloren. Nach diesem Krieg werden wir kulturell da
       stehen, wo wir vor 40 Jahren waren.
       
       24 Feb 2023
       
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