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       # taz.de -- Gesetz zur Selbstbestimmung: Worauf wartet ihr?
       
       > Das Selbstbestimmungsgesetz soll den Alltag von trans Menschen
       > erleichtern. Je mehr es sich verzögert, desto wilder wuchern Gerüchte und
       > Gewalt.
       
       Wenn alles gesagt wurde, bleibt nur noch das Warten. So ist es auch beim
       [1][Selbstbestimmungsgesetz], das die Ampelkoalition auf den Weg gebracht
       hat, um das diskriminierende und in Teilen verfassungswidrige
       Transsexuellengesetz (TSG) zu ersetzen. Für Betroffene drängt aber die
       Zeit. Unter trans Personen wächst die Ungeduld und leider auch wieder
       vermehrt die Sorge. Wir wissen schlicht nicht: Was kommt da auf uns zu und
       vor allem: Wann?
       
       Ich bin nichtbinär trans und bin es gewohnt, innerhalb eines Spektrums zu
       oszillieren. Ich spiele gerne mit Geschlechterklischees und erweitere meine
       und die Perspektiven anderer Menschen dadurch. Nicht ganz freiwillig
       springe ich jedoch auch gefühlsmäßig umher: zwischen Hoffen und Bangen,
       zwischen Freude und Furcht. Allein in den letzten zwei Jahren war es eine
       wilde Reise, mit vielen Tiefen und leider wenigen Höhen.
       
       Als am 19. Mai 2021 zwei Entwürfe der damals noch oppositionellen
       Fraktionen von FDP und Grünen im Bundestag für ein Selbstbestimmungsgesetz
       beraten wurden, war ich kurz – sehr kurz – voller Hoffnung. Sie wurden
       abgelehnt und nur zu bald schlug meine Hoffnung in Enttäuschung, Wut und
       auch Angst um. Denn wann immer es um Themen wie LGBTQIA-Rechte geht, müssen
       Betroffene mit einer wahren Flutwelle an Hass und leider auch Gewalt
       rechnen.
       
       ## Hoffnung auf Gutachten ohne Demütigung
       
       Umso größer die Freude also, als am 30. Juni 2022 die Eckpunkte eines
       Selbstbestimmungsgesetzes vorgestellt wurden, das die Ampel in ihrem
       Koalitionsvertrag stehen hat. Man konnte hoffen, dass es bald möglich sein
       würde, ohne externe Validierung, ohne demütigende Gutachten, Namen und
       Personenstand zu ändern. Darum und eigentlich auch nur darum dreht sich ja
       das Gesetz: um die Beschleunigung bestehender Verfahren. Darüber hinaus
       soll dieses Verfahren leichter zugänglich sein für Minderjährige.
       
       Im Selbstbestimmungsgesetz wird es nicht um medizinische Maßnahmen gehen,
       weder für Erwachsene noch für Minderjährige. Ebenso wenig werden
       Abstammungsrechte für queere Eltern geregelt oder Entschädigungszahlungen
       für vergangenes Unrecht, etwa verfassungswidrige Zwangssterilisierung oder
       Zwangsscheidung, wie sie vor 2011 noch Voraussetzung für eine Änderung des
       Geschlechtseintrags waren.
       
       Das Selbstbestimmungsgesetz ist somit eigentlich der kleinste und
       unkomplizierteste Teil der Vorhaben, die von der Ampel in diesem Themenfeld
       angedacht sind. Doch bereits daran entzündete sich eine Debatte, in der von
       transfeindlichen Akteur*innen, etwa aus der radikalfeministischen Ecke,
       nicht weniger als der Untergang der Gesellschaft heraufbeschworen wurde.
       Kinder seien in Gefahr und die Kategorie Frau drohe sich aufzulösen, werde
       gar abgeschafft. Die „Argumente“, mit denen diese moralische Panik geschürt
       wird, sind inzwischen an vielen Stellen widerlegt und spiegeln sich auch in
       keiner Weise in jenen Ländern wider, die bereits ein ähnliches Gesetz
       eingeführt haben. Umso ärgerlicher, dass wir in Deutschland die endlose
       Wiederholung dieser Scheindebatten ertragen müssen, während wir darauf
       warten, endlich einen simplen Gang zum Amt machen zu können.
       
       Die Ungeduld von Betroffenen wandelte sich langsam in Sorge und
       Enttäuschung, als das Jahr 2022 sich dem Ende zuneigte und immer noch keine
       Nachricht vom Fortschritt des Selbstbestimmungsgesetzes kam. Die Meldung,
       dass es noch „ungeklärte Fachfragen“ gebe, wie es der Queerbeauftragte Sven
       Lehmann (Grüne) formulierte, half nicht wirklich gegen dieses Gefühl in der
       trans Community.
       
       Während des aufreibenden Wartens spielt Bundesjustizminister Marco
       Buschmann (FDP) eine wenig rühmliche Rolle, denn offenbar hängt es vor
       allem an seinem Haus, dass der Zeitplan des Gesetzes ins Stocken geraten
       ist. In einem Interview mit der Zeit im Januar 2023 erklärte er, woran noch
       gearbeitet wird. So solle es weiterhin möglich sein, Menschen aufgrund
       ihrer körperlichen Erscheinung aus geschlechtlich eingeschränkten Räumen
       auszuschließen. Konkret heißt das: Eine Frauensauna soll auch mit dem
       Selbstbestimmungsgesetz trans Frauen ohne geschlechtsangleichende
       Operation abweisen dürfen.
       
       ## Queeren Familien endlich Gleichstellung gewähren
       
       Diese Aussage weckt die Furcht, dass Diskriminierung durch das
       Selbstbestimmungsgesetz nicht abgebaut, sondern zementiert werden soll.
       Dabei soll das Ziel doch eigentlich sein, die Rechte von trans und inter
       Personen zu stärken, sie zu einem selbstbestimmten Alltag zu ermächtigen.
       Das macht nicht gerade Mut, wenn man an die wirklich dicken Bretter denkt,
       die noch zu bohren sind, etwa das Abstammungsrecht, das endlich queeren
       Familien Gleichstellung gewähren soll.
       
       Diese Fragen scheinen wohl geklärt, denn Anfang Februar erklärte [2][Marco
       Buschmann im Tagesspiegel], dass die Arbeiten „weitgehend abgeschlossen“
       seien. Es lässt sich leider nicht überprüfen, wie der Gesetzentwurf nun
       aussieht, denn er wartet weiter im Bundesjustizministerium auf grünes
       Licht. Die Ungewissheit ist quälend und wird mit jedem Tag schlimmer. Das
       Justizministerium ist derzeit offenbar der Flaschenhals der Ampelregierung,
       denn nicht nur das Selbstbestimmungsgesetz wartet auf Freigabe für den
       weiteren Gesetzgebungsprozess. Aus den Reihen der SPD gab es dafür bereits
       [3][scharfe Kritik am Justizminister]. Mehrere Gesetzesvorhaben liegen in
       dessen Haus und kommen nicht weiter. Das macht dann auch nicht mehr
       Hoffnung, dass es zügig vorangeht mit dem Selbstbestimmungsgesetz.
       Eigentlich sollte es bis Mitte 2023 verabschiedet werden – ein Ziel, das
       immer ambitionierter wird, je länger das Justizministerium die Freigabe des
       Entwurfs hinauszögert.
       
       Je länger man wartet, desto länger wuchern die Mythen und Horrorszenarien
       weiter. Transfeindliche Blasen in sozialen Medien erfinden jeden Tag neue
       Märchen und Unterstellungen, schüren irrationale Ängste vor einem Gesetz,
       das bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hat. Das einzige Mittel dagegen
       ist die Freigabe des Gesetzentwurfs, damit er endlich auf Basis von Fakten
       betrachtet werden kann. Die Zeit spielt für jene, die auf Unwissenheit,
       Uninformiertheit und Unterstellungen bauen. Mit jedem Tag, an dem
       queerfeindliche Menschen mit Unterstützung durch rechte Echokammern Lügen
       verbreiten können, droht sich der Diskurs so weit zu verschieben, dass es
       immer schwerer wird, mit Tatsachen dagegen zu halten.
       
       Je schneller das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft tritt, desto früher wird
       die Realität dafür sorgen, Scheinargumente endgültig zu widerlegen. Der
       Blick in andere Länder mit vergleichbaren Gesetzen gibt einen Vorgeschmack
       darauf: So hat es in Argentinien, dem weltweit ersten Land mit
       Selbstbestimmungsgesetz, keinen Anstieg von Gewalt gegen Frauen gegeben. In
       keinem Land mit einem ähnlichen Gesetz hat es einen Ansturm von cis Männern
       auf die Standesämter gegeben, um sich irgendwo „hineinzuidentifizieren“,
       wie immer wieder düster geraunt wird. Keins der Schreckensszenarien ist
       eingetreten. Zeit also, auch in Deutschland endlich ein Verfahren zu
       vereinfachen, das trans Menschen Erleichterung verschaffen würde.
       
       Warum wir so sehnsüchtig auf das Selbstbestimmungsgesetz warten? Wir wollen
       nicht mehr und nicht weniger als einen Alltag in Ruhe und Frieden, frei von
       Zwangsouting und struktureller Diskriminierung. Das kann das Gesetz nicht
       alles leisten, aber es wäre ein wichtiger Schritt. Wenn der richtige Name
       auf allen Dokumenten steht und die gelebte mit der dokumentierten Identität
       übereinstimmt, wäre das eine spürbare Erleichterung im Alltag. Zu oft muss
       man als trans Person noch einen längst abgelegten Namen verwenden. Zu
       häufig wird die eigene Identität zum Thema, ohne dass man dies selbst
       entschieden hat, nur weil man etwa einen Gang aufs Amt oder eine
       Steuererklärung machen will.
       
       ## Verstärkt Gewalt gegen trans Personen
       
       Für einige geht es auch schlicht um die Würde im Tod. Die Furcht, noch auf
       dem Totenschein und dem Grab mit dem abgelegten Namen (deadname) bedacht zu
       werden, ist nicht unrealistisch, wenn man sich den steigenden Grad der
       Gewalt gegen trans Personen ansieht. Drastisch illustriert wurde diese
       Angst durch den Fall der ermordeten Brianna Ghey in Großbritannien. Die
       16-Jährige war monatelang Opfer transfeindlicher Gewalt, die schließlich in
       ihrer Ermordung durch zwei Jugendliche mündete. Eine offizielle Änderung
       ihres Namens war rechtlich vor ihrer Volljährigkeit nicht möglich – nun ist
       sie tot.
       
       Der jährliche [4][Report der Menschenrechtsorganisation ILGA Europe] hat
       gezeigt, dass queerfeindliche Gewalt auf einem Höchststand ist, so hoch wie
       seit zehn Jahren nicht. Hassrede übersetze sich direkt in körperliche
       Gewalt, so ILGA-Geschäftsführerin Evelyne Paradis in einer Mitteilung zu
       dem Report. Die Attacken würden geplanter und seien öfter tödlich – ein
       direktes Ergebnis politischer Agitation, die auf die Antipathie gegen
       LGBTQIA-Personen baut.
       
       Fast täglich liest man Meldungen über körperliche Angriffe auf trans
       Personen. Ein Gesetz wird diese natürlich nicht verhindern, aber es könnte
       zumindest den Zirkel aus Hass und Hetze durchbrechen und im Kampf gegen die
       Logik der Gewalt helfen. Statt nur zu reagieren, so drückt es auch Evelyne
       Paradis aus, müssten Politiker*innen aktiver werden.
       
       Gesetze zum Schutz von LGBTQIA-Rechten vorantreiben ist hilfreicher, als im
       Nachhinein Mitgefühl für die Hinterbliebenen der Ermordeten auszudrücken.
       Das Selbstbestimmungsgesetz endlich voranbringen und wie versprochen bis
       Mitte 2023 verabschieden wird buchstäblich Leben retten.
       
       27 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nachfolge-fuer-Transsexuellengesetz/!5910744
   DIR [2] https://www.tagesspiegel.de/politik/justizminister-marco-buschmann-der-staat-muss-die-geschlechtliche-identitat-respektieren-9288621.html
   DIR [3] https://www.focus.de/politik/deutschland/kritik-an-marco-buschmann-da-ist-noch-viel-luft-nach-oben-aetzt-die-spd-gegen-den-fdp-minister_id_185014769.html
   DIR [4] https://www.ilga-europe.org/press-release/deadliest-rise-anti-lgbti-violence-decade/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Io Görz
       
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