URI: 
       # taz.de -- Die Kunst der Woche: Die Migration der Form
       
       > Ein frischer Anlauf auf das Werk von Ruth Wolf-Rehfeldt, José
       > Montealegres postkolonialer Blick auf Pflanzen und Ellen Akimotos Genuß
       > an der Malerei.
       
   IMG Bild: Aus der Pflanzenkunde übersetzt: José Montealegre, „página 0299“, 2021
       
       „FAR BACK MUST GO WHO WANTS TO DO A BIG JUMP“ ist auf dem weißen Blatt
       Papier von rechts nach links und gleichzeitig mit jedem Wort einen
       Absatzsprung von oben nach unten zu lesen. Das Blatt gehört zur
       „Wörter-Serie“ von Mitte der 1970er Jahre. Eine richtige Feststellung als
       subtilen visuellen Witz formulieren, das konnte Ruth Wolf-Rehfeldt (*1932
       in Wurzen) mit ihrer „Erika“. Die kompakte Reiseschreibmaschine aus
       VEB-Produktion war für Wolf-Rehfeldt, was für andere Kreative der Pinsel
       oder der Stift ist. Mit den 49 Tasten der Schreibmaschine konnte sie
       angefangen von konkreter Poesie bis hin zur geometrischen Abstraktion alles
       auf dem Papier darstellen, was sie wollte.
       
       Das ist nun erneut in Potsdam zu sehen, wo im [1][Minsk] mit „Nichts
       Neues?“ eine große Einzelausstellung eröffnet hat, kurz nachdem ihre
       Ausstellung anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises 2022 im
       Kupferstichkabinett am Kulturforum in Berlin endete. Gerade wer die
       Berliner Ausstellung gesehen hat, sollte sich die in Potsdam nicht entgehen
       lassen. Denn tatsächlich nimmt man im Minsk noch einmal frischen Anlauf und
       kann erneut einen spannenden Überblick über das Werk die Künstlerin
       präsentieren.
       
       Man geht weit zurück, für den großen Sprung und beginnt mit ihren
       starkfarbigen Gemälden aus den 1960er und 1970er Jahre. Damit wurde sie
       Mitglied im Verband der Bildenden Künstler und erhielt so Zugang zu
       Arbeitsmaterial und Druckwerkstätten. Etwa zu Wolfgang Arnoldi in
       Müggelheim oder der Druckerei Graetz in der Auguststraße, die Ende der
       1970er Jahre viele ihrer „Typewritings“ in Form von Zinkografien
       reproduzierten. Zunächst handelte es sich bei ihren ab 1972 geschaffenen
       Typo-Bildern um Originale. Deren Vervielfältigung war freilich dann
       Voraussetzung, um in der internationalen Mail-Art Szene aktiv zu werden, zu
       der [2][Ruth Wolf-Rehfeldt über ihren Mann] Anschluss gefunden hatte. Als
       Kunstpostbriefe reisten ihr ebenso konzeptuell wie poetisch starken
       Typewritings, die die politisch wache Künstlerin nicht verbargen, dann in
       alle Welt.
       
       Der Sprung führt in die 1980er Jahre, wo sie ihre größte künstlerische
       Produktivität entfaltete und schließlich, nach dem Fall der Mauer, ihre
       künstlerische Arbeit ganz einstellte. Die 1980er Jahre finden sich in der
       eigens angefertigten Tapete, vor der die in schmale Holzleisten gefassten
       Blätter hängen: jede Wand weist ein anderes Muster auf, die sich ihrer
       elektrischen Kugelkopf-Maschine verdanken, mit der sie in diesen Jahren
       arbeitete. Das Geschenk von Robert Rehfeldt wies ein sehr viel größeres
       Repertoire an Schrifttypen auf als die Erikas, was sich Wolf–Rehfeldt für
       jene subtilen Zeichenerfindungen nutzte, die nun die Wand zieren.
       
       Es empfiehlt sich übrigens das Smartphone in die Ausstellung mitzunehmen.
       Gar nicht, um unbedingt zu fotografieren, vielmehr hilft die Zoomfunktion
       der Kamera ungemein, ohne den Arbeiten zu nahe zu treten und den Alarm
       auszulösen, die zarten und kleinen Zeichen zu erkennen oder auch die
       Begriffe und Sätze der oft nur Postkarten großen Kunstwerke zu entziffern.
       Was nötig ist, weil die Typewritings oft stark auf dem Zusammenspiel von
       Wort und Bild aufbauen. So zeigt sich etwa ein Briefumschlag von hinten
       durch die Anordnung der Wörter FROM während die Vorderseite des Umschlags
       mit Briefmarken, Adressfeld und Absender durch das Wort TO gebildet werden.
       
       Weil Ruth Wolf–Rehfeldt mit Beginn der 1990er Jahre nicht mehr künstlerisch
       tätig war, geriet sie, die schon während ihrer produktivsten Jahre einem
       eher kleinen, allerdings sehr feinen und sehr internationalen Kreis von
       Künstlerinnen und Kennern bekannt war, in Vergessenheit. Aber 2017 gelang
       ihr mit ihrer Teilnahme an der dokumenta 14 noch einmal ein großer Sprung
       zum Ruhm. Wolf-Rehfeldt, die ihre Familie tatsächlich mit der
       Schreibmaschine, als Sekretärin in der Akademie der Künste, ernährt hatte
       und an ihre Kunst erst abends, nach getaner Arbeit denken konnte, wird nun
       international ausgestellt, wie viele Plakate am Ende der Schau
       dokumentieren.
       
       ## In der Kreislaufwirtschaft
       
       Im imposanten Eckraum der [3][Galerie Schulte], mit seinen riesigen
       Fensterflächen und seiner enormen Höhe, in dem sonst eine Bildhauerin wie
       Franka Hörnschemeyer schwere Stahlgitter hochtürmt, erfreut jetzt ein
       kleines Blumenrondell den Blick. Obwohl recht zierlich beherrschtes fraglos
       den Raum. Die Pflanzen in ihren Töpfen sind zwar in Erde gepflanzt, selbst
       aber aus Kupfer. Auf dem weiß gekachelten Fußboden sieht man Fußspuren.
       Dadurch ermuntert, traut man sich in den Raum. Aber der Weg zur großen
       Wandarbeit mit ihrem blau-schwarzen Rastermuster aus Plexiglas ist eine
       wackelige Angelegenheit. Die Kacheln sind nur lose auf dem Boden gelegt,
       also bewegen sie sich, klackern leise und rutschen weg. Ja, die
       Installation des Künstlers José Montealegre (*1992 in Tegucigalpa,
       Honduras) ist bezaubernd und von überraschender Lebendigkeit.
       
       Worum geht es bei dem Pflanzenarrangement, das im Nebenraum in einer Art
       Gewächshaus steckt? Und den metallenen Notizbüchern, die in beiden Räumen
       auf verschiedenartig gemusterten Kachelwänden aufgebracht sind und deren
       aufgeschlagene Seiten analog zu gepressten Blumen Schnitte von älteren, vom
       Künstler gefertigten Pflanzen zeigen? Der Text zur Ausstellung sagt, die
       Pflanzenskulpturen sind auf Illustrationen im Buch „Nova Plantarum
       Animalium et Mineralium Mexicananorum historiae“ des spanischen
       Naturforschers Fancisco Hernández zurückzuführen.
       
       Die Spanier haben auch die Muster der Kacheln nach Südamerika importiert,
       die Montealegre in seinen Wandarbeiten zeigt. Die Installation ist als
       postkoloniale Erzählung verstehen, die Ausbeutung nicht verschweigt – die
       Pflanzen des Nova Plantarum mussten Einheimische zeichnen – ihren Fokus
       aber anders legt. Nämlich auf jenem Prozess, den die documenta 12 als
       Migration der Form zu ihrem Motto machte und den José Montealegre
       „Narrativas Circulares“ nennt. Sammeln, dokumentieren, überschreiben,
       verwerfen, rekonstruieren, recherchieren, wieder hervor holen, recyceln:
       mit dieser Kreislaufwirtschaft der Kunst setzt er sich in seiner ersten
       Galerieausstellung auseinander.
       
       ## Die sichtliche Lust am Malen
       
       Ein Arm oder ein Bein scheint gerne mal etwas später im Raum anzukommen als
       der Körper selbst, mit dem er – unter der These, das Auseinanderfallen sei
       zeitlich bedingt – noch nicht verbunden ist. Die inkohärenten Körper sind
       das eine, das auffällt bei den Gemälden von Ellen Akimoto, die erstmals
       unter dem Titel „My Eyes See Only What’s Not in Front of Me“ in der
       [4][Galerie Judin] ausstellt.
       
       Das andere ist ihre sichtliche Lust am Malen. Sie zeigt sich in der Freude
       an der Farbe und wie Akimoto sie kombiniert, etwa wenn sie wie in „The
       Other Room“ das schrille Pink eines abstrakten modernistischen Rasters, das
       freilich auch als Regal gelesen werden kann, mit dem dunklen Grün der
       darauf befindlichen Zimmerpflanze konfrontiert. Oder wenn sie giftgrüne
       Arme vor ein sehr rosarotes Gesicht setzt wie in „Curious Onslaught“.
       
       Die Freude am Malen zeigt sich auch darin, wie sie die Stilmittel
       vorangegangener Kunstbewegungen kombiniert, etwa wenn sie in „Mountain
       Interior/Waning Gibbons“ die verzerrte Perspektive des Expressionismus im
       großen Fenster zeigt, in dem sich ein Gebirge auftürmt, während sie das
       Paar vor dem Fenster mit neusachlicher Genauigkeit und Distanziertheit
       betrachtet und der Wand im Hintergrund eine feine und entsprechend fein
       gemalte Jugendstiltapete samt passender Topfpflanze gibt. Da kommt einiger
       Witz ins Spiel, bei Akimotos Spiel mit den Möglichkeiten der Malerei.
       
       Großartig der gelbe transparente Comic-Glibber im Maschendrahtzaun vor dem
       hälftig in blau und Abendstimmungsrot geteilten Hintergrund. Wenn es sich
       um den Blick aufs Meer handelt, wie der Bildtitel „Talking about Our
       Feelings by the Sea“ vorschlägt, kommt man nach der Berlinale und Steven
       Spielbergs „The Fabelmans“ natürlich nicht umhin John Ford zu zitieren, der
       strikt davon abrät, den Horizont in die Mitte zu legen. Aber das Bild lässt
       sich auch einfach als Abstraktion lesen.
       
       Trotz ihrer Faszination für die Ölfarbe und deren Materialität auf der
       Leinwand sind auch der Computer und Photoshop mit im Spiel. Denn hat die
       1988 in Westlake Village, Kalifornien, geborene Künstlerin eine Idee für
       ein Bild, entwickelt sie mit Hilfe von Archivmaterial, oft Fotos von sich
       selbst, eine Art digitales Storyboard. Auf diesen vielschichtigen Collagen
       baut dann das Gemälde auf, das sich während des Malprozesses freilich noch
       eigenständig fortentwickelt. Mit diesem aufwändigen Produktionsprozess
       könnten sich die nachhinkenden und manchmal auch mehrfach vorhandenen
       Extremitäten erklären. Vielleicht aber auch einfach mit der Lust am
       verfremdenden Effekt.
       
       4 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://dasminsk.de/ausstellungen/2208/ruth_wolf_rehfeldt_nichts_neues
   DIR [2] /Archiv-Suche/!5711619&s=Ruth+Wolf+Rehfeldt&SuchRahmen=Print/
   DIR [3] https://www.galeriethomasschulte.com/exhibitions/71-narrativas-circulares-jose-montealegre/
   DIR [4] https://www.galeriejudin.com/2023-ellen-akimoto-my-eyes-see-only-whats-not-in-front-of-me/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
   DIR taz Plan
   DIR Berliner Galerien
   DIR Kunst Berlin
   DIR Druckkunst
   DIR Abstrakte Malerei
   DIR Rauminstallation
   DIR Zeitgenössische Malerei
   DIR Nachruf
   DIR taz Plan
   DIR taz Plan
   DIR Fotografie
   DIR taz Plan
   DIR taz Plan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nachruf auf Ruth Wolf-Rehfeldt: Die Grenzen der Unendlichkeit
       
       Sie zeichnete mit der Schreibmaschine und schickte von Ostberlin Mail Art
       in die Welt. Mit 92 Jahren ist die Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt gestorben.
       
   DIR Die Kunst der Woche in Berlin: Das Traumgesicht der Städte
       
       Max Hetzler zeigt frühe Fotoarbeiten von Thomas Struth, CFA zeigt frühe
       Malerei von Christa Dichgans. Robert Berghoff arbeitet derweil mit
       Fotopaaren.
       
   DIR Die Kunst der Woche: Fantastische Straße
       
       Hendrik Krawen verzweigt Straßen und Buchstaben bei Kewenig. „Drängende
       Gegenwart“ beim European Month of Photography zeigt überlegte Fotografie.
       
   DIR Fotografie der Industrie in der Arktis: Abschmelzende Ewigkeit
       
       Die Landschaft der Arktis verändert sich. Gregor Sailer fotografierte dort
       die Spuren des Menschen. Zu sehen ist seine Ausstellung in Berlin.
       
   DIR Die Kunst der Woche: Wessen Zuhause?
       
       Mit „Vidéothèque“ zeigt Tanja Wagner Videokunst in vier Kapiteln. Die Filme
       laufen je eine Woche vor Ort und im Netz. Sie brennen, beißen und beben.
       
   DIR Die Kunst der Woche in Berlin: Der Krieg verändert das Kunstwerk
       
       Die Schau „Früchte des Zorns“ kommentiert die Ereignisse in der Ukraine.
       Wie es derzeit um ein Museum in Odessa steht, erzählt Ekatetrina
       Mikheitrva.