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       # taz.de -- Ukrainekrieg im russischen Alltag: „Nicht nur Putins Haus“
       
       > Millionen Menschen in Russland sind gegen das Putin-Regime. Doch
       > Widerstand zu leisten ist gefährlich – manche lassen sich trotzdem nicht
       > abhalten.
       
   IMG Bild: Mariupol wurde zerstört – in St. Petersburg steht trotzdem ein Denkmal für die Städtepartnerschaft
       
       Moskau taz | Das Haus ist weg. Und mit ihm auch die Nachbarn, die Nanny des
       Sohnes, die Bäckerei. Im Grunde genommen ihr gewohntes Leben. Ihr Land, das
       sie mit ihrer Abreise nach Slowenien verlor. Obwohl es noch da ist, in
       ihren Gedanken, in ihren Träumen, in den Nachrichten sowieso. Russland, das
       die Ukraine bombardiert und es triumphierend verkündet, Russland, das
       Tausenden Menschen ihr Leben genommen hat und es noch nehmen wird,
       Russland, das sich und andere zerstört.
       
       „Es ist die Hölle“, sagt Mascha Karnowitsch-Walua. Eine Hölle, durch die
       sie täglich gehe, auch hier in Slowenien, weil sie in ihrem geliebten
       Moskau nicht mehr habe atmen können. Darüber erzählt sie jede Woche in
       ihrem Podcast „Es gibt kein,Richtig' “. Mit ihrer Mitpodcasterin Xenia
       Krasilnikowa – auch sie lebt mittlerweile in Georgien – informiert sie seit
       Jahren über psychische Gesundheit, Elternschaft und Frauenrechte.
       
       Seit einem Jahr geht es dabei nur um Russlands Vernichtungskrieg in der
       Ukraine, der auch in ihrem Namen geschieht. Es geht um ihr Land, an dem sie
       leiden wie Millionen [1][anderer Russ*innen, die gegangen sind] oder
       geblieben. Umfragen zufolge, auch wenn Umfragen in einem totalitären Land
       schwer zu interpretieren sind, sprechen sich etwa 20 Prozent der Befragten
       gegen das Putin-Regime aus. Also Millionen von Menschen.
       
       Darunter sind Rechtsanwälte, die Angeklagte wegen „Diskreditierung der
       russischen Armee“ vor Gericht vertreten, Pfleger*innen, die Schwerstkranke
       trotz Medikamentenmangels palliativ betreuen, Psycholog*innen, die
       Orientierungslosen Orientierung zu geben versuchen, Lehrer*innen, die sich
       gegen die Vereinnahmung durch die Behörden wenden, Menschen, die Blumen an
       „ukrainischen“ Denkmälern quer durch Russland niederlegen oder
       regimefeindliche Parolen an Straßenlaternen schreiben, weil jede andere
       Form von Protest unmöglich geworden ist. Es ist ein schweigender
       Widerstand, weil viele im Land, das sich gegen die Aufklärung seiner
       Vergangenheit sträubt, in der Anpassung geübt sind.
       
       „Russland ist auch mein Haus, nicht nur Putins“, sagt der politische
       Beobachter Andrei Kolesnikow vom Carnegie-Zentrum. Die Moskauer Filiale des
       internationalen Thinktanks ist längst dicht, Kolesnikow muss sich seit
       Dezember vor den Behörden „ausländischer Agent“ nennen und seine
       Abrechnungen ans Justizministerium schicken, jeden Kaffee muss er darin
       aufführen. Er hätte weggehen können, seine Expertise ist auch im Ausland
       gefragt. Es war ein schwieriges Abwägen, auch für viele andere Menschen in
       Russland dieser Tage. Die Kolesnikows entschieden sich fürs Bleiben. Die
       Enkel, eine Tochter im Teenageralter. „Die Umstände“, nennt es der
       57-Jährige in einer Youtube-Sendung der kremlkritischen Zeitung Nowaja
       Gaseta.
       
       [2][Die Nowaja darf keine Zeitung mehr sein], ein Moskauer Gericht hat vor
       einigen Tagen die Medienregistrierung kassiert, die Zeitung ist nun
       offiziell kein journalistisches Erzeugnis mehr, die Journalist*innen, die
       sich nun „Blogger*innen“ nennen, arbeiten dennoch weiter. „Der Staat sagt
       uns, wie wir zu sterben haben, aber erlaubt uns nicht, das zu lesen, was
       wir lesen wollen“, sagte der Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger
       Dmitri Muratow nach der Gerichtsentscheidung. Auch Muratow ist in Russland
       geblieben. Es sind Figuren wie er, die mit ihrem Bleiben Signale der
       Zuversicht in liberale Kreise senden. Er kämpft, wie er das seit Jahren
       tut, gegen die „Einnahme der Gehirne“ durch den Staat.
       
       ## 24 Stunden vom Krieg umgeben
       
       Kolesnikow sagt: „Man gewöhnt sich, irgendwie. Irgendwie geht es doch,
       aufzutreten, zu sprechen. Nicht zu sprechen ist unmöglich. Hier spüre ich
       die Atmosphäre, auch wenn diese Atmosphäre, die Luft, die ich zusammen mit
       Putin atme, schlecht ist.“ Es klingt, als würde er sich selbst vergewissern
       wollen, im Land geblieben zu sein. Er hat viele Freunde, Bekannte,
       Verwandte ziehen sehen. „Egal, wie sehr man versucht, sich abzulenken,
       Ablenkung ist unmöglich, die Agenda ist rund um die Uhr vorgegeben. Kino
       ist unmöglich, Theater ist unmöglich.“
       
       „Einfach unpassend“, nennt auch der Pädagoge Dima Zicer solche
       „Zerstreuungen“. „Alles, was mich umgibt, was ich tue, hat 100-prozentig
       mit dem Krieg zu tun“, sagt der 56-Jährige. Er spricht wie viele im Land,
       die vor Schreck zunächst wie erstarrt waren und nun versuchen, „Menschen zu
       bleiben“, wie sie sagen.
       
       Vor dem 24. Februar habe er geglaubt, er wisse, wie sein Leben weiterlaufen
       werde, seine Schule in Sankt Petersburg, seine Projekte, seine Auftritte,
       seine Bücher. Zicer hat sich der „nicht-formellen Bildung“ verschrieben:
       dem Lernen in einer Beziehung, die nicht von oben herab bestimmt wird,
       sondern in der jeder ein Subjekt ist, mit persönlichem Interesse aller
       Teilnehmenden an den Themen, mit Austausch und Dialog, durch Wahl und
       Erforschung. Mittel, die in staatlichen russischen Schulen wenig bis gar
       nicht zum Zug kommen.
       
       Ohne das Schulparlament sollte nichts gehen in seiner alternativen Schule,
       die auf Noten und Hausaufgaben verzichtet und in der ein Zweitklässler auch
       schon mal bei den Siebtklässlern den Stoff mitmachen kann, wenn es ihn denn
       interessiert. Es sollte im Kleinen gelebt werden, wofür sich im Großen in
       Russland viele seit Jahrzehnten einsetzen, die Demokratie.
       
       ## Anti-Kriegsmedien suchen sich alternative Kanäle
       
       Einfach war es auch vor dem Krieg nicht, die Werte zu pflegen, die Zicer
       und seinem Team wichtig sind, Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung. „Am
       24. Februar stürzte alles ein“, sagt der Petersburger, der als Kind oft bei
       seiner Großmutter in der Ukraine war. Er gab seine Sendung im staatlichen
       Radio auf, bei der er Ratschläge für ein besseres Miteinander von Eltern,
       Kindern, Lehrern gab, seine Auftritte quer durch Russland waren plötzlich
       Geschichte. „Die Aktualität hat sich geändert, aber meine Überzeugung ja
       nicht.“
       
       Seine Sendung „Lieben, nicht erziehen“ führt er nun bei einem privaten
       Podcast-Studio weiter. Die Gäste fragen dabei kaum mehr danach, wie man die
       Kinder vom Schnuller entwöhnt oder wie es mit dem Töpfchen zu halten sei.
       Sie rufen aus unterschiedlichen Ländern an, es sind geflohene
       Ukrainer*innen, es sind heranwachsende Russ*innen, es sind Menschen, die
       nicht weiterwissen in einer Welt, die vor ihren Augen zusammengebrochen
       ist.
       
       Zicer fängt jede Sendung mit einem Anti-Kriegs-Auftritt an, er zählt die
       Kriegstage, er prangert das militaristische Moskauer Regime direkt an und
       wendet sich – in gewohnt zugewandtem Ton – seinen Anrufer*innen zu.
       Manche weinen dabei, andere wollen wissen, wie man trotz unterschiedlicher
       Einstellungen miteinander auskommen könne. „Wen sollen sie auch anrufen? An
       wen sollen sich die Menschen wenden?“
       
       Zicer tritt im Ausland auf, sammelt Geld für die Ukraine. „Meine Seele
       schmerzt. Es schmerzt unfassbar, was seit 350 Tagen und mehr geschieht.“ Er
       könne sich kaum mehr durch seine Heimatstadt Petersburg bewegen. „Vor der
       Eremitage steht ein Denkmal für [3][Mariupol.]“ Zwei große Herzen sollen
       die Bruderschaft zwischen der von der russischen Armee selbst zerstörten
       südukrainischen Stadt und St. Petersburg symbolisieren. „Das ist nicht zu
       ertragen.“ Viele in Russland hätten nie gelernt, etwas anzuzweifeln, zu
       reflektieren. „Es sind unglückliche Opfer eines totalitären Systems, die
       nicht bereit sind zu denken, sondern lieber Befehle von oben erhalten. Die
       wüssten es besser, sagen sie, und geben bereitwillig ihr eigenes Ich auf.“
       
       ## Staatliche Propaganda innerhalb der Familie
       
       Wie sich das Leben mit solchen „Opfern“ gestaltet, erlebt der 20-jährige
       Michail Domratschew täglich. Seine Mutter glaubt der staatlichen
       Propaganda, ihr Lebenspartner schlug ihn für seine Position zusammen. Der
       Großvater hat den Enkel als Verräter aus dem Haus gejagt. Er solle den
       Krieg einfach ignorieren, sagen ihm die Verwandten. Doch Domratschew denkt
       gar nicht daran. „Ich habe in diesem Jahr zwar teilweise den Glauben an die
       Menschen verloren, aber ich gebe meine politische Haltung nicht auf. Vor
       Geldstrafen fürchte ich mich nicht, Gefängnis aber macht mir natürlich
       Angst.“
       
       In Perwouralsk, einem Provinznest in der Nähe von Jekaterinburg, hatte er
       noch als Jugendlicher damit angefangen, Schaukeln zu reparieren oder Bänke
       aufzustellen. Schön sollte es sein im Ort, lebenswert. Dann wollte er zum
       Staat, ihn quasi von innen verändern. „Jetzt ist nicht die Zeit für hübsche
       Bänke“, sagt er – und versuchte im vergangenen September, Lokalabgeordneter
       zu werden. Gewonnen hat ein Kremlloyaler. Domratschew wird als Feind
       denunziert, sein Konterfei hängt an manchem Auto im Ort, darunter steht:
       „Er ist einer von den Nazis, er beschämt das russische Volk.“
       
       In manchen Momenten fühle er sich verloren, sagt er. „Es schmerzt.“ Wie es
       wohl auch Mascha Karnowitsch-Walua schmerzt, Andrei Kolesnikow, Dima Zicer
       und so viele, die in der Öffentlichkeit schweigen. Vordergründig lebt ihr
       Land das Leben weiter wie bisher. Der Krieg zerfrisst es von innen. Auf
       Jahrzehnte hinaus.
       
       23 Feb 2023
       
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